Fortschr Neurol Psychiatr 2001; 69(12): 603-610
DOI: 10.1055/s-2001-19182
Übersicht
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Das gegenwärtige Verständnis des Psychopathiebegriffes in der forensischen Psychiatrie

Literaturübersicht und eigene BefundePsychopathy in Forensic PsychiatryA.  Möller1 , D.  Hell1
  • 1Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Sektor Ost und zentrale Spezialangebote (Direktor: Prof. Dr. D. Hell)
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
19. Dezember 2001 (online)

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Zusammenfassung

Der Psychopathiebegriff im Sinne der Tradition von „moral insanity”' hat seit der Operationalisierung durch eine 1991 in revidierter Form publizierte Checkliste (PCL-R) eine Aktualisierung erfahren und findet in neueren Arbeiten, vor allem zu Prognose- und Therapieaspekten der forensischen Psychiatrie und Psychologie, international überwiegend Verwendung. Die forensische Konstruktvalidität ist empirisch belegt - es bestehen Beziehungen zu der Anzahl und Schwere von Gewaltdelikten, dem Alter bei Erstdelinquenz, der Anzahl von Opfern bei Vergewaltigungstätern und der Legalprognose in diesen Deliktbereichen. Auch sind forensische Patienten mit diesem Merkmal der „Psychopathie” weniger behandlungsmotiviert, neigen eher zu Komplikationen im Behandlungsverlauf, wie etwa Entweichungen oder anderen Behandlungsabbrüchen. Es zeigt sich eine hohe Belastung mit abhängigem oder missbräuchlichem Konsum psychotroper Substanzen (Achse-1); weiterhin bestehen Überschneidungen zu den Achse-2-Diagnosen, vor allem der antisozialen und Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die Intelligenz ist nicht beeinträchtigt; allerdings weisen Untersuchungen an Jugendlichen auf frühzeitig erkennbare Abweichungen im Lernverhalten, Impulshaftigkeit und soziale Anpassungsstörungen hin. Eine gemeinsame Grundlage dieser Merkmale wird diskutiert und führt notwendig zu einer Reaktualisierung auch der bereits historisch gestellten Frage, inwieweit sozial abweichendes Verhalten dieser Personen in einem anderen als rechtlich-normativen Sinne - psychiatrisch und entwicklungspsychologisch - als „vorwerfbar” angesehen werden kann. In diesem Zusammenhang wird auf die Zweckmäßigkeit weiterer Studien zu psychiatrischer Morbidität und psychosozialer Anpassungs- und Leistungsfähigkeit auch außerhalb forensischer Kollektive hingewiesen.

Abstract

The review refers to the construct of psychopathy which is of increasing relevance for forensic psychiatry and psychology, especially empiric studies on legal prognosis and predictors of therapeutic efficacy. Psychopathy is related to early-onset delinquency, number and severeness of violent crimes, number of sexual victims in rapists, and unfavorable legal prognosis. Recent research has also indicated that the treatment of psychopaths is complicated by low levels of motivation and high rates of attrition. In psychiatric-diagnostic terms, psychopathy is related to substance abuse and dependency and to cluster A and B personality disorders (PD), especially to antisocial and borderline PD. In juvenile with “psychopathic tendencies”, a relationship to impulsivity, emotional and behavioral difficulties, and learning behavior (card sorting test) had been shown and interpreted by reference to an anatomical level. In connection with these findings, the relevance of psychopathic disorder for testimonies on legal responsibility should also be discussed again. Further research on psychopathy, especially psychiatric morbidity and psychosocial functioning in non-forensic groups, is needed.

Literatur

1 Die Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt kann nach Maßgabe des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Art. 100bis) unabhängig von Art und Schwere des anlassgebenden Deliktes erfolgen, wenn bei jungen erwachsenen Tätern (bis zur Vollendung des 25. Altersjahres) eine Besserung durch „Erziehung zur Arbeit” erwartet werden kann.

Priv.-Doz. Dr. A. Möller

Psychiatrische Universitätsklinik

Lenggstraße 31

8029 Zürich, Schweiz

eMail: arnulf.moeller@puk.zh.ch