Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/s-2001-19462
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Die relativ verbundene Heil- und Pflegeanstalt in Halle-Nietleben - eine konzeptionsgeschichtlich interessante Modellanstalt für einen neuen psychiatrischen Versorgungstyp in Deutschland
Teil 2: Heinrich Damerow (1798 - 1866), Aufstieg und Niedergang der Anstalt Halle-NietlebenThe Relatively Linked Psychiatric Treatment and Psychiatric Care Hospital in Halle-Nierleben - A Model Institution of Interest in Respect of its Conceptional History for a Novel Kind of Psychiatric Care in Germany - Part 2: Heinrich Damerow (1798-1866)Publication History
Publication Date:
09 January 2002 (online)
Die Anstalt Halle-Nietleben wurde zwar 1844 bezogen, ihrer Konzeption, Begründung und Errichtung ging aber eine längere wissenschaftliche und anstaltspolitische Diskussion voraus. Zum Verständnis dieser Diskussion ist es erforderlich, zunächst in kompakter Form auf Leben und Werk von Heinrich Damerow einzugehen, der bereits seit Anfang der 1830er Jahre zum Gründungsdirektor einer damals erst projektierten Anstalt in Preußen designiert war und der maßgeblich die Konzeption, Vorbereitung und Realisierung der Anstalt von Halle-Nietleben mitbestimmt hat. In Zuspitzung seiner Rolle ließe sich formulieren: Ohne Heinrich Damerow wäre Nietleben nicht in dieser Form entstanden, ohne ihn hätte es nicht die überregionale Bedeutung erlangt, die ihm in den 1840er bis 1870er Jahren zukam.
Heinrich Philipp August Damerow wurde am 28. Dezember 1798 in Stettin geboren. Er wuchs in unmittelbarer Nähe zum Baukomplex des dortigen Johannesklosters auf, wo sein Vater als Geistlicher wirkte und wo auch ,Schwachsinnige und Irre‘ Aufnahme fanden. Im Jahre 1817 begann Damerow mit einem Studium der Medizin und Philosophie in Berlin. Die Philosophen des deutschen Idealismus - voran Friedrich Wilhelm Hegel (1770 - 1831) - sollten fortan sein Denken maßgeblich prägen, nicht nur in philosophischer und theoretisch-psychiatrischer Hinsicht, sondern konkret bis in seine anstaltspolitische Konzeption hinein. Damerow erreichte 1826 - also nach einem für die damalige Zeit recht langen Studienzeitraum - sein medizinisches Staatsexamen und wurde 1827/28 an der Berliner Universität habilitiert. Aufgrund einiger psychiatrietheoretischer Schriften bei den preußischen Kultusbehörden ausgewiesen, erhielt Damerow bereits 1830 eine außerordentliche Professur in Greifswald. Die von ihm erhoffte und mitbetriebene Neugründung einer pommerschen Irrenanstalt zog sich aber Jahr um Jahr hin, so dass er ab 1832 mehrere psychiatrische Reisen unternahm, über die er dem preußischen Ministerium zum Teil sehr ausführliche, detailreiche Berichte verfasste. Durch diese Reisen lernte Damerow nicht nur die Mehrzahl der damals im Amte befindlichen Anstaltsdirektoren und führenden Anstaltsärzte persönlich kennen, sondern entwickelte sich zu einem der besten Kenner des psychiatrischen Anstaltswesens.
Leider ging es mit seinem immer stärkeren Wunsche, selbst die Leitung einer psychiatrischen Anstalt zu übernehmen, weiterhin nur zögerlich voran: Zunächst ließ er sich in ein Berliner Ministerium versetzen und übernahm das psychiatriepolitische Referat, 1836 wechselte er als Professor nach Halle, wo er allerdings - wie sechs Jahre zuvor in Greifswald - zwar Pläne für eine neue Anstalt, aber keine konkreten Vorbereitungen dazu vorfand. 1838 kehrte er in den Ministerialdienst zurück und nutzte die Zeit, um sein epochales Werk zur Anstaltsorganisation abzuschließen. Es erschien 1840 unter dem programmatischen Titel: „Über die relative Verbindung der Irren-, Heil- und Pflegeanstalten” [8]. Nach 1840 ging der Bau der Halleschen Anstalt im Ortsteil Nietleben endlich in ein konkretes Stadium über, Damerow wechselte einige Jahre zwischen seiner Berliner Tätigkeit und der Beaufsichtigung des Baubeginns und der verschiedenen Stadien des Baufortschritts von Halle-Nietleben. Hier ergeben sich zahlreiche Parallelen zu Christian Friedrich Wilhelm Roller (1802 - 1878), dem etwas jüngeren badischen Anstaltsreformer, der von Heidelberg aus in den Jahren 1837 - 1842 den Bau der von ihm wesentlich mitkonzipierten Anstalt in ,Illenau‘ bei Achern bis ins Detail persönlich überwachte und dem gesamten Gebäudekomplex seinen Stempel aufdrückte.
Literatur
- 01 Ackerknecht E H. Kurze Geschichte der Psychiatrie. 3. Aufl. Stuttgart; 1985:
- 02 Angst A E. Die ersten psychiatrischen Zeitschriften in Deutschland. Med. Diss., Würzburg; 1975:
- 03 Beck C. Die Geschichte der „Heil- und Pflegeanstalt Illenau” unter Chr. F. W. Roller (1802 - 1878). Med. Diss., Freiburg; 1983:
- 04 Berghof W. Heinrich Damerow (1798 - 1866) Ein bedeutender Vertreter der Deutschen Psychiatrie des 19. Jahrhunderts. Med. Diss., Leipzig; 1989:
- 05 Blasius D. „Einfache Seelenstörung”. Geschichte der Psychiatrie 1800 - 1945. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M.; 1994:
- 06 Damerow H. Die Elemente der nächsten Zukunft der Medizin, entwickelt aus der Vergangenheit und der Gegenwart. Reimer, Berlin; 1829:
- 07 Damerow H. Die Irrenanstalten als Bildungsmittel für junge Ärzte in der praktischen Psychiatrie. In:. Med Z. 1839;; 8 47-63
- 08 Damerow H. Ueber die relative Verbindung der Irren-, Heil- und Pflege-Anstalten. Otto Wigand, Leipzig; 1840:
- 09 Damerow H. Einleitung. In:. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin. 1844;; 1 1-48
- 10 Damerow H. Denkschrift den Zustand der Irren-Abtheilung in der königl. Charité-Heil-Anstalt und die Nothwendigkeit des Neubaues einer Irren- Heil- und Pflege-Anstalt für die Residenzen Berlin und Potsdam betreffend. AZP. 1849;; 6 49-76
- 11 Damerow H. Zur Geschichte des Neubaus der Ständischen Irren- Heil- und Pflege-Anstalt für die Preußische Provinz Sachsen bei Halle an der Saale. AZP. 1855;; 12 97-112
- 12 Dörner K. Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. Fischer, Frankfurt a. M.; 1984:
- 13 Eulner H H, Glatzel W. Die Psychiatrie an der Universität Halle. Sonderdruck aus der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Martin-Luther-Univ. Halle-Wittenberg,; Jahrg. VII, 1957/58, Heft 2, mathemathisch-naturwissenschaftl. Reihe:
-
14 Faulstich H. Die Bedeutung der Illenau für die deutsche
Psychiatrie. In: Droll P (Hrsg).
150 Jahre Illenau. Acheron Verlag, Achern; 1994: - 15 Faulstich H. Von der Irrenfürsorge zur „Euthanasie”: Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945. Lambertus, Freiburg; 1994:
- 16 Jetter D. Grundzüge der Geschichte des Irrenhauses. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt; 1981:
- 17 Jetter D. Grundzüge der Krankenhausgeschichte (1800 - 1900). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt; 1977:
- 18 Kohl F. Das erste Projekt einer „akademischen Irrenklinik” in Heidelberg. Historia Hospitalium. 1993;; 18 181-184
- 19 Kohl F. Die Modellanstalt „Illenau” in Mittelbaden - ein wichtiges, oft vergessenes Kapitel deutscher Psychiatrie- und Anstaltsgeschichte. Spektrum der Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. 1997;; 3 70-73
- 20 Kohl F. Rudolf Leubuscher (1821 - 1861) - Ein „unvollendeter” Reformpsychiater des 19. Jahrhunderts zwischen naturwissenschaftlicher Orientierung und innovativer Praxis. Krankenhauspsychiatrie. 1997;; 7 131-135
- 21 Kohl F. Die „Illenauer Psychiater-Schule” - Zur Bedeutung der „Modellanstalt” als Ausbildungsstätte. Psychiat Prax. 1997;; 24 10-14
-
22 Laehr H. Heinrich Damerow. In: Kirchhoff Th (Hrsg).
Deutsche Irrenärzte. Bd. 1. Springer, Berlin; 1921;: 165-175 - 23 Müller N. Historische und aktuelle Bauprinzipien psychiatrischer Kliniken. Nervenarzt. 1997;; 68 184-195
- 24 Paetz A. Die Kolonisierung der Geisteskranken in Verbindung mit dem Offen-Thür-System. Springer, Berlin; 1893:
- 25 Panse F R. Das psychiatrische Krankenhauswesen. Thieme, Stuttgart; 1964:
- 26 Roller Ch FW. Die Irrenanstalt nach allen ihren Beziehungen dargestellt. Karlsruhe; 1831:
- 27 Roller Ch FW. Grundsätze für Errichtung neuer Irrenanstalten, insbesondere der Heil- und Pflegeanstalt bei Achern im Großherzogtum Baden. Karlsruhe; 1838:
- 28 Schmidt R. Die Entwicklung der Anstaltspsychiatrie im Deutschen Reich (1871 - 1914). Med. Diss., Köln; 1988:
- 29 Schneider H. Die ehemalige Heil- und Pflegeanstalt Illenau. In:. Die Ortenau, Veröffentlichungen des historischen Vereins für Mittelbaden. 1981;; 61 191-231
- 30 Schrenk M. Über den Umgang mit Geisteskranken. Springer, Berlin; 1973:
- 31 Thom A. Zur Geschichte der Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Berlin; 1984:
Dr. Franz Kohl
Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychotherapeutische Medizin/Rehabilitationswesen,
Spezielle Schmerztherapie
Schillerstr. 18
79102 Freiburg