PiD - Psychotherapie im Dialog 2002; 3(1): 87-92
DOI: 10.1055/s-2001-24995
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Und wieder blühen
die Rosen ...”

Hildegund  Heinl , Arist  von Schlippe
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Publication Date:
11 April 2002 (online)

PiD: Vor kurzem ist dein Buch erschienen „Und wieder blühen die Rosen. Mein Leben nach dem Schlaganfall”[1]. Du bist vor drei Jahren jäh in die Situation geraten, chronisch krank zu werden. In deinem Buch hast du den Weg dieser letzten drei Jahre beschrieben. Ich denke, das Besondere ist dabei, dass du sowohl aus der Perspektive der betroffenen Patientin berichtest, als auch aus der der Ärztin und der Psychotherapeutin. Magst du einmal beschreiben, in welcher Lebenssituation dich der Schlaganfall getroffen hat?

H. Heinl: Ich hatte einige sehr stressreiche Jahre hinter mir und hatte endlich eine große Last abgeworfen, die mich sehr lange bedrückt hatte. Drei Wochen später, mitten in ganz neuen Ideen und Plänen, die ich verwirklichen wollte, kam der Schlaganfall und warf mich aus der Bahn.

PiD: Also genau in dem Moment einer Neuentscheidung in deinem Leben „traf dich der Schlag”? Würdest du einen ursächlichen Zusammenhang herstellen zwischen dieser Lebensentscheidung und dem Schlaganfall?

H. Heinl: Ich glaube schon, dass der Stress der vergangenen Jahre und die Unmöglichkeit einer Konfliktlösung, so wie es mir lange erschienen war, mit dazu beigetragen hat. Es war auch eine große Arbeitslast im Verhältnis zu meinem Alter, ich war noch sehr aktiv. Ich glaube schon, ja.

PiD: Du hast dein Erleben dieses Krankheitsprozesses in deinem Buch sehr differenziert beschrieben, was würdest du sagen, was war die am stärksten belastende Erfahrung?

H. Heinl: Der Verlust der Bewegungsfähigkeit und damit einhergehend die Hilflosigkeit und die Abhängigkeit. Schon in der Kindheit war es mir ein Schrecken, einen vom Schlaganfall getroffenen Menschen zu sehen, das Bewegungsbild hat mich betroffen gemacht, der gestörte Fluss der Bewegung und der gebrochene Lebensrhythmus, der im Gangbild zu sehen ist. Leben ist Bewegung - Bewegung ist Leben. Wenn dieser Prozess gestört oder gebrochen ist, dann weitet sich das auch auf das seelische Erleben aus, man kann das eine nicht vom anderen trennen. Das Entscheidende ist, ob man aus diesem Gefängnis wieder herauskommt, welchen Weg man nach dieser Behinderung der Bewegung findet, also ob das seelische Leben noch bewegt ist, das geistige Leben, auch wenn das körperliche eingeschränkt ist.

PiD: Und das wusstest du damals selbst noch nicht. Ich vermute, es hätte dir sicher geholfen, wenn du gewusst hättest, dass du wieder so einen Stand erreichen kannst wie jetzt.

H. Heinl: Ja, sicher, aber das ist gar nicht möglich. Man wird einfach überfallen von einem Fremdheitsgefühl, von der Unfähigkeit sich zu bewegen und immer wieder aus dem Gleichgewicht zu kommen, von der Gefahr zu stürzen, wenn man gerade das Laufen wieder gelernt hat.

PiD: Ich erinnere mich an einen Satz aus deinem Buch: „Ich erkannte mich nicht, das war nicht Ich, der Weg zur Quelle, zum Gefühl war unterbrochen.” Du schreibst da über die enge Verbindung von Körpererleben, von Bewegung und von Seele.

H. Heinl: Das wird über diese Krankheit ganz besonders deutlich spürbar.

PiD: Wie hast du es geschafft, in so einer Situation nicht depressiv zu werden?

H. Heinl: Ja - ich hab’s ja nicht ganz geschafft! Ich war auch zeitweise depressiv, zwar nicht anhaltend, doch gab es zu Beginn eine Phase, - bei mir jedenfalls, ich möchte es nicht verallgemeinern. Die erste Akutphase, in der man so wirklich aus der Welt geworfen ist, war eine Verleugnungsphase: Obwohl ich als Medizinerin wusste, was mir bevorstand, habe ich doch immer wieder die Hoffnung auf - vielleicht ein Wunder - gehabt. Und das hat mir geholfen, vielleicht die ersten zwei bis drei Wochen. Dann ist ganz plötzlich das Kartenhaus zusammengebrochen und ich wurde mit der Realität konfrontiert. Da hat schon eine depressive Phase begonnen - wellenförmig, sie war zwar immer mal wieder aufzuheben, aber doch in der Grundtendenz zumindest subdepressiv.

PiD: Das heißt, die Verleugnungsphase war eigentlich für einen gewissen ersten Zeitraum auch adaptiv?

H. Heinl: Ich glaube nicht. Die Adaption an die Behinderung, die kommt dann erst später. Die erste Phase war einfach eine Verleugnung: Obwohl ich ständig mit der Behinderung konfrontiert war, ich konnte mich ja gar nicht bewegen, war das Gefühl doch abgespalten.

PiD: Würdest du aus heutiger Sicht eher sagen, dass es in so einer Situation wichtig ist, dass man als Therapeut dann einen Patienten eher konfrontiert und sagt, das darfst du nicht leugnen, oder braucht es diese Phase einfach, ist es ein Stück Immunisierung der Seele?

H. Heinl: Nein, es braucht diese Phase! Sonst übersteht man das nicht. Das braucht man einfach, um überhaupt sich dem langsam anzunähern. Das würde ich nie zerstören!
Natürlich gibt es auch, je nachdem welcher Gehirnbereich betroffen ist, eine Verleugnung, die organisch bedingt sind. Das ist eine andere Art von Verleugnung. Es gibt dieses Phänomen, dass, wenn die rechtsseitige Hirnhälfte betroffen ist, es häufig geschieht, dass das Geschehen völlig verleugnet wird und damit auch jede Art von Übung abgelehnt wird. Dieses Phänomen nennt man „Neglect”. Das ist aber ein anderer Fall, die Verleugnung betrifft mehr das Allgemeine der Situation, nicht die spezielle Lähmung, denn die war mir natürlich sehr bewusst. Ich hatte auch mit den Schwierigkeiten umzugehen, mit dem gelähmten Arm und dem gelähmten Bein, das sind ja sehr viele reale Hindernisse im Anziehen, Ankleiden, Waschen usw. Da ist man in Versuchung, die Linke viel mehr einzusetzen als die gelähmte Rechte, also die Rechte sozusagen abzuschalten, aber das bewusst! Beim Neglect dagegen ist es viel häufiger, dass die Patienten absolut verleugnen, dass sie gelähmt sind. Das ist ein spezieller somatischer Vorgang. Darauf muss man dann immer wieder aufmerksam machen. Beispielsweise wird dann das Bett so gestellt, dass das Pflegepersonal sich der gelähmten Seite nähert, damit die Patienten sich ihr zuwenden und üben und üben, sonst droht sie zu verkümmern.

PiD: Aus deiner Erfahrung dieser depressiven Phase, dieser Verzweiflungssituation - was würdest du sagen, was man da als Betroffener von einem Psychotherapeuten braucht?

H. Heinl: Man braucht die Hoffnung auf Besserung. Mir hat da am meisten Information geholfen, die Basis für Hoffnung ist Information. In meinem Fall war es das Wissen, dass das Gehirn nach den Ergebnissen der Hirnforschung regenerationsfähig ist, auch im hohen Alter. Das unterscheidet den Schlaganfall, denke ich, grundlegend von der Krebserkrankung, denn bei der kann niemand garantieren, ob sie nicht doch tödlich verlaufen wird. Beim Schlaganfall weiß man zwar, man kann weitere bekommen - absolute Gewissheit gibt es auch da nicht - aber doch mehr. Diese neuen Erkenntnisse in der Hirnforschung haben mich sehr ermutigt, ich habe immerzu gelesen. Sie haben meine Motivation gestärkt zu üben. Ich wusste, die Hoffnung nützt nichts, wenn ich nicht übe, also ich würde sagen, das Wichtigste sind: Information, Üben, Hoffnung.

PiD: Kann man die Hoffnung als Realitätsprinzip sehen zwischen der Verleugnung auf der einen Seite und der Verzweiflung auf der anderen Seite, so in dem Sinn, dass man mit der Information den eigenen Zustand realistisch einschätzt?

H. Heinl: Ja, ich habe das beobachtet: Wenn die Verzweiflung überwogen hat - das gab es ja immer wieder in Wellen, abhängig von der realen Besserung des Zustandes -, dann hab ich immer wieder die Hoffnung eingesetzt. Das für mich - ich bin ja eigentlich sonst sehr realistisch - das für mich Frappierendste war, dass sie wirklich Gestalt angenommen hat! Meine Hoffnung hat da in der Ecke vom Krankenzimmer als kleines Wesen gehockt, und ich sehe sie auch heute noch, wenn ich nur daran denke!

PiD: Das war sozusagen eine Begleiterin für dich?

H. Heinl: Ja, wenn es ganz schlimm wurde, dann kam sie und dann war ich wieder bereit etwas zu tun.

PiD: Ich weiß nicht, ist das jetzt eine zu persönliche Frage: Wie sah die aus, war das eine eher junge Gestalt, ein Mädchen?

H. Heinl: Nein, nein, ich hatte immer das Gefühl, sie war männlich, männlich und zusammengekauert, zwergenhaft kann man sagen, so wie eine Figur im Märchen.

PiD: Zusammengekauert, aber nicht im Sinne von traurig?

H. Heinl: Nein, nur präsent, präsent und bereit.

PiD: Das führt mich zu einer neuen Frage, nämlich nach den verschiedenen Ressourcen, die du in der Situation genutzt hast. Das ist ja auch eine Ressource, die sich da aus dem Inneren meldet, eine Figur, die sogar körperlich präsent wird. Auf welche Ressourcen hast du dich noch bezogen?

H. Heinl: Ganz wichtig waren meine Söhne. Der eine hat mich immer wieder darauf hingewiesen: „Punkt Null” ist der Tag des Schlaganfalls! Das war anfangs sehr schwer. Bei Punkt Null fing das neue Leben an und da sind die Fortschritte auf der aufsteigenden Skala zu messen. Und das hab ich dann auch wieder bildhaft gesehen. Ich hab sehr viel Bilder entwickelt.

PiD: Dein Sohn hat dir geholfen, einen neuen Bezugspunkt zu nehmen, nicht das normale Leben vorher, sondern den Bezug „Punkt Null”.

H. Heinl: Ja, das war sehr wichtig, das zu lernen. Immer wenn ich wieder zurück wollte, hat er gesagt, der 30. Dezember ist der Punkt Null und von da ausgehend schaust Du, wie es aufsteigt. Das war sehr hilfreich. Die Familie war überhaupt wichtig. Jeder hat auf seine spezielle Weise geholfen. Meine Söhne sind alle Ärzte und nicht ängstlich. Also sie haben mich z. B. 800 km im Auto gefahren. In der Klinik waren sie erschrocken, dass ich nicht im Krankenwagen gefahren bin. Aber ich war froh, der Fahrer des Krankenwagens hätte nur 80 fahren dürfen, das hätte viel länger gedauert. Meine Kinder haben mich auch nicht verweichlicht. Ich komme hier nach dem Krankenhausaufenthalt an, mein Sohn gibt mir einen großen Stab in die Hand und sagt: ,Hier Mutter, du musst laufen lernen, ehe du alt wirst!‘ Das ist so ein guter Umgang, dass ich nicht verweichlicht wurde und dass sie selbst auch nicht in die Verzweiflung gegangen sind, sondern nach vorne geschaut haben.

PiD: Eine andere Ressource hast du auch im Buch erwähnt: deinen unbändigen Willen zu üben und den unerschütterlichen Glauben an die Lernfähigkeit des Körpers -

H. Heinl: - des Gehirns!

PiD: - des Gehirns, auch im hohen Alter.

H. Heinl: Ja, das war natürlich die Voraussetzung. Ich habe sehr viel geübt. Als ich ein Jahr später in die Klinik kam, haben die die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen: Sie hatten mich mit Rollstuhl erwartet und ich bin mit Stock gekommen. Das war wie ein kleines Wunder, ja eigentlich ein großes Wunder, denn es war ein sehr großer Infarkt, der auf der Seite beinahe alles kaputt gemacht hatte. Das war wirklich mein Wille, verstärkt durch den Zuspruch der Söhne. Da gab es noch etwas, was sie immer wieder betonten, man ist ja sehr affektlabil in einer solchen Lage: ,Tränenausbrüche solltest du als selbstverständlich hinnehmen, das gehört dazu! Das gehört zum Schlaganfall, da mach dir nichts draus, das ist eben so!‘

PiD: Ich denke, das ist eine wichtige Information für Therapeuten, die mit Betroffenen arbeiten: der Familie zu vermitteln, das gehört dazu und dramatisieren Sie das nicht!

H. Heinl: Das ist ganz wichtig: ,Nehmt’s nicht so tragisch!‘ Es ist viel besser geworden, aber in der Krankenhauszeit und danach war ich sehr reizbar, ich habe mich oft selbst nicht wiedererkannt. Ich habe dann immer gewünscht, dass die Menschen sofort wieder aus der Tür rausgehen, weil mir gleichzeitig bewusst war, dass meine Reaktionen inadäquat waren, ich konnte die Affekte da einfach nicht steuern. Ich habe das zum Teil mit der Gesichtslähmung in Zusammenhang gebracht: die gelähmte Gesichtsmuskulatur hat keine Kraft, einen Widerstand gegen das Weinen zu setzen.

PiD: Dass die Gefühle sozusagen ungebremst herauskommen?

H. Heinl: Ja, ungebremst. Jeder Mensch hat meist in der Kindheit schon Strategien gelernt, seine Tränen durch Steuerung der Gesichtsmuskulatur zu unterdrücken oder durch eingehaltene oder forcierte Atmung. Manchen gelingt das Zurückhalten der Tränen auch, indem sie an etwas anderes denken. In der Gruppentherapie habe ich mir von den Teilnehmern oft erzählen lassen, wie sie es machen, damit ihnen dieser Vorgang bewusst wird - und nun ist es mir selbst so gegangen!

PiD: Ja, das ist die eine Seite. Die andere ist, dass dir ja auch eine Kommunikationsmöglichkeit fehlt. Wenn man normalerweise einen heftigen Affekt kommuniziert, kann man ihn gleichzeitig mit einem Lächeln entschärfen. Solche paraverbalen Botschaften, Kontextmarkierungen, die den Inhalt der Kommunikation qualifizieren, die fehlen oder sind dann zumindest eingeschränkt.

H. Heinl: Ja, zum Teil sind sie eingeschränkt. Es gab auch die Situation, dass ich irritiert worden bin, weil ich etwas nicht so aussprechen konnte, wie ich wollte. Es kam eben etwas ganz anderes raus, viel härter oder plötzlich laut. Ich konnte das nicht ausgleichen, die Stimmführung, die ganze Modulation - das Spektrum war reduziert.

PiD: Ich möchte noch auf einen anderen Aspekt kommen. Eckhard Sperling, der die Psychosomatik in Göttingen geleitet hatte, litt selbst an MS. Er schreibt in einem Beitrag, dass chronische Krankheit vor allem Zeit kostet und dass für den Kranken ,die Welt kleiner wird‘[2]. Würdest du das auch so sehen?

H. Heinl: Ich weiß nicht, ob man das so verallgemeinern kann, das hängt sehr mit der Bewegungsfähigkeit zusammen. Du kannst chronisch krank sein und Dich noch bewegen können, aber die Einschränkung der Bewegungsfähigkeit beim Schlaganfall oder auch bei MS verändert die Welt enorm. Das ist gar nicht zu beschreiben, wie unterschiedlich die Welt schlagartig ist. Jetzt, wo es mir besser geht, und ich mich wieder besser bewegen kann, ahne ich die alte Welt wieder, sie kommt in der Erinnerung und berührt auch manchmal wieder, was mir vertraut ist. Am Anfang war die Trennung sehr stark, da hatte ich das Gefühl, der Radius meines gesunden Armes ist mein Lebensradius und alle Gegenstände und alle Welt rücken in die Ferne. Nur das was in der Nähe ist, ist relevant und wichtig, das andere verblasst. Und mit der Zunahme der Bewegungsfähigkeit, ob im Rollstuhl oder am Rollator oder dann mit Stock, wird der Radius auch wieder größer und verändert sich wieder. Ich hatte manchmal das Gefühl, mit dem Blickfeld noch die Entfernung und die Weite zu fassen, aber nicht wirklich körperlich zu erleben. Das ist dann bildhaft, aber nicht spürbar.

PiD: Die Erfahrung ist gebunden an die Fähigkeit des Körpers hineinzugehen und zu berühren.

H. Heinl: Ja, wirklich hautnah zu erleben, sonst geht es nur ins Bildhafte. Aber wenn ich noch einmal zurückgreifen darf: Was mir sehr wichtig war, war der Verlust der Sprechfähigkeit. Es gab diesen Verlust der Bewegungsfähigkeit und - im übertragenen Sinne ist das ja das Gleiche - den Verlust der Sprechfähigkeit. Mir wurde bewusst, was Sprache für mich bedeutet, welch wichtige Lebensform Sprache ist.

PiD: Hast du auch die Sprache wieder neu erlernt?

H. Heinl: Ja, ich hab dann motorisch mehr links gesprochen und die Sprache mehr hinten in den Gaumen verlagert. Mit der Kräftigung der Muskulatur und Übung ist es dann allmählich wieder gleich geworden, aber die Zunge war noch sehr langsam und hat dadurch Wortverformungen gebracht. Das hat mich schon sehr gestört. Aber das gehört zu dem Aspekt der Bewegung auch mit dazu, also die Sprache ist Bewegung - eine Form von Bewegung. Was ich da erlebt habe und was ich noch ganz klar habe, war, dass das Denken so schnell ging, aber das Sprechen so langsam. Also das Hindernis hat mich so gestört: das Denken habe ich bildhaft erlebt, aber dann sind die Worte anders herausgekommen und das war die Schwierigkeit.

PiD: Das stelle ich mir auch quälend vor, ja, dass sozusagen, die Seele ist ungeduldig und will sich mitteilen und der Körper macht einfach nicht mit. Ich komme noch einmal auf deine beiden Berufe, Orthopädin und Psychotherapeutin. Würdest du sagen, das war für dich hilfreich -

H. Heinl: Ja, sehr hilfreich -

PiD: oder gab es auch einen Bereich, wo du sagen würdest, da gab es auch etwas Hinderliches daran?

H. Heinl: Nein, nein!

PiD: Und welcher der beiden Berufe war in der Situation wichtiger?

H. Heinl: Beide, das kann ich gar nicht mehr voneinander trennen, das ist so integriert bei mir,

PiD: Weil für dich als Bewegungstherapeutin Bewegung ja das wesentlichste Medium ist, mit dem du arbeitest.

H. Heinl: Ja, und auch, weil ich mit der handfesten Orthopädie angefangen habe und dann durch Psychotherapie erweitert hab. Ich erlebe das so integriert, dass ich es gar nicht trennen kann. Das war ein ganz großer Vorteil!

PiD: In deinem Buch greifst du immer wieder auf orthopädisches Wissen zurück. Du weißt, was passiert, wenn geübt wird, was passieren kann, wenn nicht geübt wird und du greifst auf psychotherapeutisches Wissen zurück, du reflektierst, in was für einem Zustand du bist, was du da jetzt brauchst usw. Das ist eigentlich schon eine ganz wichtig Ressource, die du da zur Verfügung hattest.

H. Heinl: Ja, ich habe sie auch genau in dem Sinne genutzt.

PiD: Ich möchte mich noch einmal auf den erwähnten Beitrag von Sperling beziehen, dort steht, ich zitiere: „Es beginnt zunächst mit den Ärzten, die ihre Patienten ganz andere Dinge fragen als die, die sie selbst erzählen möchten; während die Ärzte von ihren erlernten Krankheitsbildern auszugehen pflegen, geht der Leidende von seinem Befinden und seinen Ängsten aus, hier zeigt sich, dass objektiver Befund und subjektives Befinden nicht selten weit auseinander klaffen.” Wie ist es bei dir gewesen? Hast du dich von den Behandelnden da abgeholt gefühlt, wo du warst?

H. Heinl: Im Großen und Ganzen ja. Wenn ich es aber nicht hatte, dann habe ich mich nicht irritieren lassen, davon war ich nicht abhängig.

PiD: Da haben dir deine Lebenserfahrung und deine Berufe sicher auch geholfen - nicht in eine Art von Übertragungsbeziehung zu gehen, dass du dich als die völlig Hilflose definiert hast und die anderen als die ,Mächtigen in Weiß‘ -

H. Heinl: Überhaupt nicht!

PiD: Sondern du hast von dir aus kooperiert.

H. Heinl: Ja, oder ich war still und hab mir mein's gedacht. Anfangs habe ich das Vorgehen als sehr wissenschaftlich empfunden, aber davon habe ich mich unabhängig gefühlt. Ich hab's, glaube ich, in der ersten Zeit auch nicht so wahrgenommen, da ist man ja doch gedämpft, aber hinterher hatte ich dann wirklich das Glück, eine sehr warme und herzliche Betreuung zu haben. Das hat mir schon sehr geholfen, und das, was der behandelnde Arzt dann, nur so im Nebensatz, gesagt hat: ,Na ja, Sie werden laufen lernen, wenn auch mit Stock!‘ Das sind dann natürlich Sätze, die ganz wichtig sind, wenn du im Rollstuhl hockst und so eine schlechte Prognose hast.

PiD: Da ist, glaube ich, die Sensibilität für Sprache unheimlich wichtig, man kann sich als Betroffener dann an einzelnen Worten festklammern oder von ihnen vernichtet werden.

H. Heinl: Ja, dazu kam, dass das ein sehr fröhlicher Mensch war, mit Herzensgröße. Das passt zur Geriatrie, nicht wahr, die Fröhlichkeit. Aber es darf natürlich nicht ein übertriebener Optimismus sein, dann glaubst du es wieder nicht.

PiD: Auch eine Gratwanderung, nicht? Einzelne Worte, die vielleicht gar nicht so wichtig gemeint sein können, die nur so dahin gesagt werden, kriegen eine unheimliche Bedeutung.

H. Heinl: Ja, das ist der Kontext, auf den kommt es an.

PiD: Ich habe bei meiner Frage auch noch daran gedacht, welche Rolle das Team in dem Zusammenhang spielt. Du hast beschrieben, dass du ein Team erlebt hast, das an einem Strang gezogen hat. Wie siehst du die Rolle, die das spielt, dass der Patient nicht unterschiedlichen Richtungen ausgesetzt ist, wo der eine „hü” sagt, der andere „hott”.

H. Heinl: Und der Patient ist ausgeliefert!

PiD: Ja, das wäre für mich noch eine wichtige Frage. Kannst du dazu noch etwas sagen?

H. Heinl: Das ist eminent wichtig, es waren alle in dem Bobath-Konzept geschult und ganz wichtig war es, dass sie das pädagogische Konzept hatten: Hilfe zur Selbsthilfe. Die haben dann auch geduldig dabeigestanden, weil es ja immer länger dauert, wenn man sich bemüht, etwas selbst zu tun. Sie haben nur eingegriffen, wenn es eben notwendig war und nicht alles durch schnelles Handeln vorweggenommen. Und das ist für Familienangehörige so wichtig, die glauben, sie tun etwas Gutes, wenn sie alles abnehmen.

PiD: Ja, das heißt, es sollten nicht nur die Behandler ein gemeinsames Konzept haben, sondern da muss auch die Familie mit einbezogen sein.

H. Heinl: Im Krankenhaus, im Akutkrankenhaus kann man die Fürsorge ja noch befürworten, aber dann zu Hause so schnell wie möglich: Hilfe zur Selbsthilfe aktivieren. Das ist das Entscheidende.

PiD: Ich denke auch daran, wie wichtig es ist, dass das Behandlungsteam und die Familie sich zusammensetzen und dass sie entweder eine gemeinsame Behandlungsplanung absprechen oder zumindest eine wechselseitige engmaschige Information.

H. Heinl: Ja, mit dem Hintergrund und der Motivation, soviel wie möglich zur Selbständigkeit zu motivieren.

PiD: Wenn wir noch einmal zurückgehen auf deine Tätigkeit als Psychotherapeutin. Du hast ja vor deinem Schlaganfall praktiziert und bist auch heute psychotherapeutisch tätig. Was würdest du sagen, hat sich durch diese Erfahrung in deiner Praxis geändert?

H. Heinl: Ja, es ist ja so, dass ich früher sehr häufig meinen Körper als Instrument eingesetzt habe durch Gesten oder Berührungen, durch indizierte Berührungen. Das war am Anfang schwierig, weil das Gefühl in meiner Hand sich ja auch verändert hat, das hat mich verunsichert. Diese fein abgestimmten Bewegungen beim Aufstehen und Herantreten, die Möglichkeit Nähe ganz genau zu bestimmen, das war für mich immer sehr wichtig bei Körperinterventionen. Und das war anfangs sehr schwierig: Es ist schwer, vom Stuhl aufzustehen, ohne den Prozess durch die eigene Unfähigkeit zu stören, dass man dann selbst in den Mittelpunkt kommt, anstatt dass der Patient im Mittelpunkt ist. Ich glaube, das hat mit eine Rolle gespielt, dass ich heute viel schneller zum Wesentlichen komme. Ich weiß auch nicht recht, woran das hängt, jedenfalls habe ich keine Schwierigkeiten, zum Kern zu kommen. Ich habe da vorher vielleicht noch mehr Umschweife gemacht. Es sind wahrscheinlich verschiedene Punkte, die das bewirken, wahrscheinlich ist auch das Bewusstsein wichtig, dass die Lebenszeit so kurz ist, dass ich in diese Lebenszeit noch so viel wie möglich hineinbringen muss. Auf den Punkt kommen: Das ist das Wesentliche, - und keine Umschweife und kein Reden drum herum machen. Und dadurch habe ich, denke ich schon, recht schwere Fälle gerade in der Bewegung und im Schmerzbereich, die die Hoffnung überall aufgegeben hatten, wieder zu Bewegung und zu einer Schmerzfreiheit oder -besserung gebracht. Es erfordert eine enorme Konzentration, weil du dich auf den Prozess konzentrieren musst und auf deine Bewegungsfähigkeit, das geht ja nicht mehr spontan. Eigentlich ist es eine geteilte Aufmerksamkeit. Das ist übrigens auch der Grund, warum ich nicht mehr gerne beim Gehen rede, weil wir beim Gehen unsere Aufmerksamkeit auf den Boden richten müssen. Die Tiefensensibilität ist abhanden gekommen, es geht nicht mehr der Fuß, sondern du gehst im Kopf. Du schätzt ab, wo Unebenheiten sind, das macht normalerweise dein Fuß - und bei mir macht er es eben nicht mehr, so muss ich es mit dem Kopf ersetzen. Dann aber ist etwas besetzt, was sonst denkt, also erfordert es eine enorme Konzentration. Die ist zum Glück überhaupt nicht gestört. Im Gegenteil, ich habe das Gefühl, wenn ich mit einer Gruppe arbeite, sind die Leute erstaunt, wie es möglich ist, von morgens bis abends ganz konzentriert zu sein.

PiD: Was würdest du sagen, was wäre für dich die wichtigste Botschaft aus deiner Erfahrung, die du weitergeben möchtest?

H. Heinl  Was mich immer irritiert hat, das ist wahrscheinlich eine ganz persönliche Sache, ist das Zureden: ,Ach, es ist ja schon gut, ja, schon sooo viel besser ...‘, ohne vorher das mit dem ,Punkt Null‘ anzusprechen. Es ist wirklich schlimm, das muss wahrgenommen werden! Und dann kann man sagen: ,Das ist toll, was du da schon erreicht hast!‘ Aber wenn jemand bei dem aktuellen Punkt anfängt, dann werde ich ärgerlich, denn so viel Anstrengung liegt von da bis da, und die will ich gewürdigt haben! Es ist kein Mitleid, das will ich ganz genau unterscheiden, das brauch ich nicht! Aber ein Mitgefühl, ein Mitschwingen, ob es jetzt im seelischen Bereich ist oder ob es im Gehen ist. Es gibt Menschen, die, ich hab ja oft eine Hand gebraucht, die sich spielend einfügen in den gebrochenen Rhythmus und da so wie ,zum Tanz auffordern‘, und es gibt andere, da ist es unmöglich, ein paar Schritte zu gehen. Das ist etwas, was man dann nicht mehr aussprechen kann, sondern das spürt man dann einfach. Das ist genau so das Gleiche, wie man tröstend berührt wird. In dem hochsensiblen Zustand, in dem ich war, konnte ich das genau unterscheiden. Ich habe mich immer wieder gefragt, wie ist es möglich: Es legt einer die Hand auf und ich weiß, ich möchte sie abschütteln. Oder ich habe das Gefühl, es legt einer die Hand auf und es ist ein Trost. Ich glaube, das hängt von der Art ab, wie er die Hand auflegt, initial und welchen Druck derjenige ausübt, ob er das Gefühl für die Grenze und den Kontakt hat. Das ist ja in der Körpertherapie unheimlich wichtig und es ist bei mir immer sehr stark ausgeprägt gewesen, also ich hab einen kleinen Finger berühren können und wusste, da darfst du weiter oder nicht.
Du bist ja auch in großer Gefahr, dass die Intimgrenze berührt und verletzt wird. Schon bei der Intimpflege. Da ist man ja Situationen ausgesetzt, da muss man ganz zurückkriechen, da ist die Seele dann nur noch so ein kleines Klümpchen in dem Körper. Das war mir sehr wichtig, dass das eben geachtet wurde.

PiD: Ja, das wäre deine wichtigste Botschaft an professionell Arbeitende in dem Bereich?

H. Heinl: Ja, allerdings kann man das ja nicht verordnen, das muss entweder derjenige spüren oder eben nicht. Die Leitung zur Seele muss von innen heraus kommen. Also, es geht mir eigentlich eher um eine Aufforderung zur Bewusstheit, was so ein Thema betrifft wie chronische Erkrankung, da ganz intensiv auch mit sich selbst zu arbeiten als Therapeut. Das ist bei allen Körpertherapien ganz ausgeprägt und ich denke, da habe ich es gelernt und verfeinert. Und ich denke schon, das ist etwas, was man lernen kann, man kann lernen, was für Echo bekommt man, und wenn das Echo nicht passt, nicht stimmig ist, sich dann zu fragen, was ist da bei mir, dass ich so offensichtlich gehandelt habe, dass ich etwas nicht gefühlt habe.

PiD: Gibt es eine Frage, die ich dir jetzt nicht gestellt habe, die ich dir aber noch hätte stellen sollen? Irgendetwas, was wir noch gar nicht berührt haben, was dir noch wichtig wäre?

H. Heinl: Ja, ich denke, wir haben ja so den Fokus auf das Therapeutische gelegt und weniger auf das Medizinische, ja? Vielleicht wäre noch das Methodische, was man machen sollte und nicht, da kommt dann die Frage der alternativen Medizin hinein.

PiD: Was würdest du denn dazu sagen?

H. Heinl: Ich finde, dass ganz strenge Konzepte einfach hinderlich sind. Man muss erproben und andere Wege suchen, und es gehört dazu auch eine kritische Betrachtung der Dinge. Da wäre es wichtig, sich mit einem Experten auseinander zu setzen, der offen ist. Das ist, denke ich, mein Vorteil gewesen, dass ich auch bewusst somatisch handelnde Ärztin bin, dass ich wusste, so weit kannst du gehen und so weit nicht. Und so konnte ich vieles auf seine Wirksamkeit hin erproben.

PiD: Ich bedanke mich sehr für dieses Gespräch, Hildegund, vielen Dank.

1 Heinl, H. (2001). Und wieder blühen die Rosen. Mein Leben nach dem Schlaganfall. München: Kösel.

2 Sperling, E. (1983). Beobachtungen in Familien mit chronischem Leiden. Familiendynamik 8, 32 - 47.

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