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DOI: 10.1055/s-2002-19911
Mit dem Reisestipendium der DAOI in den USA - Medizin für Asse und Verlierer
With a Travel Grant from the DAOI in the USA - Medicine for Winners and for LosersPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
31. Januar 2002 (online)
Mit dem Reisestipendium der Deutschen AO besuchte ich zwei Kliniken in den USA, das Department of Orthopaedic Surgery der University of Pittsburgh, eines der führenden orthopädisch-sportmedizinischen Zentren, sowie das Department of Orthopaedic Surgery des San Francisco General Hospital, ein Traumacenter der höchsten Versorgungsstufe.
In beiden Kliniken beginnt der Arbeitstag um 6.00 Uhr mit den Stationsvisiten. Um 6.30 Uhr trifft man sich zu einer Röntgenbesprechung, in der die Fälle der vergangenen Nacht und die für den Tag anstehenden Operationen vorgestellt werden. Hierbei wird großer Wert auf die Überprüfung und Vermittlung der theoretischen Grundlagen gelegt. Operationsbeginn ist gegen 8.00 Uhr.
Der Mittwochvormittag ist an vielen amerikanischen Kliniken für die Weiterbildung reserviert. In beiden Häusern gibt es eine zentrale Fortbildungsveranstaltung mit einem Vortrag, der von einem der Residents gehalten wird und einer sich anschließenden einstündigen Vorlesung, die von einem der leitenden Ärzte oder von einem Gastdozenten gehalten wird. In den Sektionen gibt es an anderen Tagen der Woche weitere instruktive Veranstaltungen in kleinerem Rahmen, wie Fallbesprechungen, morbidity-mortality-conferences oder kurze Präsentationen zu aktuellen Themen. Den Assistenten stehen ausgezeichnete Bibliotheken zur Verfügung, in denen man neben den gängigen Fachbüchern die wichtigsten Zeitschriften findet. Komfortable Computerarbeitsplätze mit schnellem Internetzugang, Scanner und Drucker stehen jederzeit und in ausreichender Anzahl zur Verfügung.
Viele der Lehrmittel bis hin zu kompletten Hörsaaleinrichtungen oder umfassenden Bibliotheken sind Spenden der Industrie. Dieses Sponsoring wird gänzlich unverkrampft als legitime Werbemaßnahme und willkommene Unterstützung der täglichen Arbeit empfunden. Gerne gesehen sind auch Pharmavertreter, sofern sie mittags erscheinen und ihre Präsentation durch einen attraktiven Imbiss bereichern.
Meine Bemerkungen über den unter deutschen Juristen und Krankenhausträgern populären Kreuzzug gegen Gaben aus der Wirtschaft, die den Wert eines Kugelschreibers übersteigen, waren für meine Gastgeber nicht nachvollziehbar. Zuwendungen privater Spender bis hin zur Stiftung ganzer Kliniken sind ein unverzichtbares Standbein der amerikanischen Krankenhausfinanzierung. Unter vielen Amerikanern herrscht ein historisch begründetes, tief empfundenes Misstrauen gegen allzu viel Einmischung des Staates in das öffentliche Leben. Man hält es für selbstverständlich, Bereiche wie Soziales, Kultur, Bildung und Wissenschaft dem Zugriff und Einfluss einer ungeliebten Obrigkeit zu entziehen, indem man sie aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln organisiert. Das Engagement des Einzelnen ist dabei stets öffentlich und die damit obligat verbundene Nennung der aufgewandten Summe ermöglicht jedem Bürger Rückschlüsse auf die soziale Reputation des Spenders.
Die praktische Ausbildung der Assistenzärzte zielt auf rasches Training selbständigen Handelns. Ein Facharzt assistiert nur in Ausnahmefällen, steht aber immer für Rückfragen zur Verfügung. Im Bereitschaftsdienst anfallende Operationen werden in der Regel von den Residents selbständig durchgeführt.
Die bei uns üblichen hohen Anforderungen an ein sterilitätsgerechtes Verhalten im OP findet man nicht vor. Die OP-Kleidung wird den ganzen Tag getragen und weder nach der Stationsarbeit, dem Besuch der Kantine oder nach einem Abstecher zum Schnellimbiss um die Ecke gewechselt. Dazu trägt man beliebige Straßenschuhe, über die eine dünne Pelerine gestülpt wird. Die Kopfbedeckung endet deutlich über den Ohren, unter dem Pflegepersonal gilt es als schick, Piratentücher oder sonstige exotische Mützen in täglich wechselnden Farben und Mustern zu tragen.
Während der Operation wird vom unsterilen Personal und von Besuchern keinerlei Rücksicht auf sterile Bereiche genommen und der Operateur geht schon einmal „steril” in einen anderen Saal, um dort nach dem Rechten zu sehen oder einzugreifen.
Konsequent durchgeführter Eigenschutz des Personals und der Ärzte vor der Übertragung von Virusinfektionen ist allerdings Routine. Jeder am Tisch trägt eine Schutzbrille oder einen Spritzschutz und doppelte Handschuhe, der Operateur bei Frakturversorgungen sogar schnittfeste Unterhandschuhe.
Ungewohnt ist die anonyme Arbeitsatmosphäre. Jeder kennt gerade eben seinen eigenen Bereich und auch nur die Mitarbeiter, mit denen er unmittelbaren Kontakt hat. Als Besucher kann man sich ungehindert und ungefragt in allen Bereichen bewegen, sofern nur die Bekleidung die nötige Autorisation signalisiert. Die hundertfach kopierte Filmszene, in der ein gedungener Bösewicht mit Hilfe eines weißen Kittels ungestört sämtliche Hürden auf dem Weg zur Isolierstation überwindet, um den dort liegenden einzigen Zeugen eines Verbrechens zu liquidieren, erscheint aus unserer Sicht weit hergeholt, für einen Amerikaner ist sie aus dem Leben gegriffen.
R. Mährlein
Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie
77933 Lahr