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DOI: 10.1055/s-2002-20330
Interview mit Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. mult.
Friedrich Stelzner, Universitätsklinik Bonn
Das Interview wurde am 15.11.2001 in der Privatwohnung von Herrn Prof. Dr. Stelzner in Bonn-Venusberg durchgeführtInterview with Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. mult.
Friedrich Stelzner, Universitätsklinik Bonn
Publication History
Publication Date:
26 February 2002 (online)
Sehr geehrter Herr Professor Stelzner, Sie haben die
Geschichte der deutschen Chirurgie über Jahrzehnte mitgeprägt. Dieses Interview soll Einblick in Ihre Person und
Ihr Wirken geben und Sie einem breiten Fachpublikum
vorstellen.
Wann wussten Sie, dass Sie Arzt werden wollen?
Stelzner: Schon im Gymnasium wusste ich, dass ich Arzt werden will. Ich wusste auch sehr bald, dass ich ein Gefühl für Morphologie habe.
Was hat Sie zur Entscheidung bewogen, Arzt zu werden?
Gab es Alternativen für Sie?
Stelzner: Es gab keine Alternativen. Es gab für mich ein freudiges Interesse für Naturwissenschaften, und recht bald für angewandte Naturwissenschaften.
Wen halten Sie für einen guten Arzt? Welche Fähigkeiten schätzen Sie an einem Kollegen?
Stelzner: Ein Arzt muss dem Patienten gegenüber Mitgefühl vermitteln können. Das ist etwas ganz Entscheidendes. Er wird sehr bald merken, dass er niemals alles wissen kann, das muss er schonend sagen. Er muss den Patienten überzeugen, dass er sein Bestes für ihn tun wird, falls dieser sich ihm anvertraut.
Das ist die menschliche Basis. Was gibt es an sonstigen Fähigkeiten, die vor allem einen Chirurgen auszeichnen sollten?
Stelzner: Ich kann nur für die Universitäts-Chirurgie sprechen: Hier ist es wichtig, dass Sie die Fähigkeit haben, das Wissen kritisch weiterzugeben und Neues aufzuspüren.
Es gibt verschiedene Grade der Forschung. Sie können etwas tun, so wie es andere auch machen. Die Ergebnisse überprüfen Sie dann. Sie können auch etwas unternehmen und es aufgrund Ihrer neueren Erkenntnisse verbessern. Das Höchste der Gefühle aber ist, wenn Sie die Fähigkeit haben, etwas ganz Neues aufzuspüren. Dabei müssen Sie aber die Fähigkeit entwickeln zu entscheiden, ob dieses Neue wichtig ist oder nicht.
Auch wenn Sie eingangs sagten, Sie seien kein großer Politiker: Was denken Sie über das Gesundheitssystem in den letzten 10 Jahren und wenn wir in die Zukunft blicken, welches sind Ihrer Meinung nach die entscheidenden Fehler, die vor allem auf politischer Seite gemacht werden?
Stelzner: Ich bin der Meinung, wir sind in unsere Zeit eingebunden. Dieser Einbindung können wir nicht entrinnen. Schon 1985 sagte ich in meiner Präsidentenrede: Es ist unser Schicksal, ob wir in einer Diastole geboren wurden oder in einer Systole. Deshalb wird die verrinnende Zeit von uns Entscheidungen fordern, die wir manchmal einfach nicht erfüllen können.
Dazu kommt noch, dass sich das Wissen so ungeheuer vermehrt hat. Sie werden bei uns unter fast 90 Millionen Menschen viel weniger kreative Chirurgen finden, als unter 230 Millionen Amerikanern, obwohl beide Völker das gleiche Bildungsniveau haben.
Überlegen Sie einmal: Nach Manhattan fahren jeden Tag sechs Millionen Menschen hinein und abends wieder hinaus. Das ist vergleichbar mit der gesamten Bevölkerungszahl eines kleinen europäischen Staates, wie der Schweiz.
Es haben sich bei der ungeheuren Bevölkerungszahl der Englisch sprechenden Welt Organisationsformen der Wissenschaft und Praxis entwickelt, die viel besser in unsere Zeit passen als die unseren, so ist das ein weiterer Grund, warum wir unterlegen bleiben.
Ein Beispiel: Für speziell interessierte Chirurgen wurde das St. Marks-Hospital vor über 100 Jahren in London gebaut. Dort sammelte sich trotz wechselnder Chirurgen ein riesiges Krankengut der Proktologie an und konnte entsprechend ausgewertet werden. Diese Chirurgen übten ihre andere, die allgemeine Chirurgie, in anderen Krankenhäusern aus. In der gleichen Zeitspanne gab es bei uns den Chefarzt oder den Ordinarius, der den Ehrgeiz hatte, die gesamte Chirurgie in seinem Hause auszuführen. Durch den ungeheuren Wissenszuwachs aber wurde uns das erst in den letzten Jahren bewusst - es ist ganz unmöglich, alles zu machen.
Sie meinen demnach, wir müssen Schwerpunkte setzen?
Stelzner: Ja, aber wir verfangen uns dabei immer noch in unserer traditionellen überholten Organisation, es müsse eben doch an jedem Ort „alles” getätigt werden.
Wenn uns die Entwicklung unentrinnbar einen Schwerpunkt aufzwingt, bauen wir erst das Haus und besetzen es passend. Exz. von Harnack sagte als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft: Wir müssen den besten Mann der ganzen Welt suchen und finden und ihm dann das Haus bauen. Die heute vom Staat angeordnete Autonomie von Schwerpunkten, die konkurrenzlos entstanden sind und oft ohne konkurrierende Wahl besetzt werden, können in Mediokrität erstarren, wie Hannah Arendt sagte: Gleich und Gleich gesellt sich gern.
Sie meinen demnach, Schwerpunkte sind sehr wichtig, um etwas ganz hervorragend zu tun, aber es kann, darf und es muss sie nicht überall geben?
Stelzner: Richtig. Das gilt natürlich nur für die kreative Forschung an den Universitäten. Müssen die Patienten, durch das neue Wissen bedingt, versorgt werden, wird man dafür zuerst die Häuser bauen und sie dann besetzen. Hier bedarf es aber keiner Forschung.
Es gibt aber auch Schwerpunkte, die durch neue Heilmittel überflüssig werden, z. B. die Tuberkuloseheilstätten.
Als ich 1945 mit der Chirurgie begann, konnte ein Direktor an einer chirurgischen Universitätsklinik das meiste, nicht alles, noch überblicken und tun. Aber auch da war man nur mit dem Schwerpunkt kreativ, z. B. mit der Proktologie oder mit einem Methodenschwerpunkt, z. B. der vergleichenden Anatomie. Damit habe ich mich lebenslang bis heute beschäftigt.
Alle klagen heute, die Situation ist schlecht. Haben wir es heute wirklich schwerer als Sie damals oder ist es umgekehrt?
Stelzner: Wir hatten es, wie ich eingangs schon sagte, leichter, weil der Wissensumfang sehr viel geringer war. Aber schon zu meiner Zeit begann der Trend, mit der Vermehrung des Wissens überall Spezialfächer zu bilden. Dabei gab es notwendige Entwicklungen, die sich bewährt haben, z. B. die Neurochirurgie oder die Herzchirurgie. Andere Spezialisierungen blieben umstritten, wie z. B. die experimentelle Chirurgie, wenn sie sich nicht ganz eng an die Klinik bindet.
Sie meinen also, experimentelle Chirurgie kann nicht so erfolgreich als eigenständige Institution betrieben werden, sondern sie kann nur eingebunden in die praktische Chirurgie erfolgreich sein?
Stelzner: Richtig. Der Kliniker muss zum Methodiker kommen und nicht umgekehrt.
Wenn Sie heute noch einmal Assistent wären, wofür würden Sie sich einsetzen?
Stelzner: Sie können immer nur das befriedigend machen, was Ihnen liegt, nie das, was Ihnen nur imponiert und wofür Sie keine Begabung haben. Ich würde mich dafür einsetzen, mich so entwickeln zu können. Haben Sie für die Morphologie die dafür nötige große Phantasie, dann kommt das Neue von selbst zu Ihnen.
Das von mir in der Forschung verfolgte Grundprinzip ist so ein Beispiel der Phantasie. Die Natur hat komplizierte Funktionselemente immer wieder angewendet - manchmal drängen sie sich, bei Tieren beispielsweise, einem auf, dann kann man sie beim Menschen sicher auch finden, nur sind sie dort nahezu unsichtbar.
Wir haben den Schwellkörper im Rektum entdeckt, aber wir waren von seiner großen Wichtigkeit für die Kontinenz erst überzeugt, nachdem wir die viel komplizierter arbeitende Schwellkörperzunge bei den Vögeln entdeckt hatten.
Der gerade jetzt mit 93 Jahren verstorbene vergleichende Anatom Dietrich Starck in Frankfurt am Main, der auch ein ungewöhnlich schöpferischer Forscher im Bereich der Anatomie des Menschen gewesen ist, hat mir dafür die Augen geöffnet.
Würden Sie sich in der Fakultät oder (gesundheits)politisch anders engagieren als zu Ihrer aktiven Zeit?
Stelzner: Nein. In der Fakultät muss man besorgt sein, dass jeder zu seinem Recht kommt. Man darf nicht egoistisch verharren, sondern gemeinsam nach Lösungen suchen.
Welchen Rat würden Sie den jüngeren (chirurgisch tätigen) Kollegen an einer Klinik geben?
Stelzner: Horch in Dich hinein, was Dir liegt. Was kannst Du besser als andere? Danach musst Du entscheiden, was Du tust. Jeder, auch jeder heutige Chef, wird Dir dabei behilflich sein. Mein zweiter Chef, Zukschwerdt, war völlig uninteressiert an Morphologie, aber er hat mich trotzdem sehr nachhaltig gefördert.
Wo liegt die Zukunft der chirurgischen Forschung? An der Universität, in der freien Wirtschaft, oder ist sie ein Luxus, den wir uns bald nicht mehr leisten können?
Stelzner: Ich glaube, die Zukunft liegt immer noch in der Klinik bei den Kranken. Die müssen uns sagen, wo es fehlt. Ohne Kranke gibt es für uns keine Forschung, nach wie vor nicht. Es gibt natürlich auch andere Wege, um Probleme zu lösen, die z. B. über die Industrie führen, wie etwa die Entwicklung von Arzneimitteln. Primär müssen wir aber immer auf die Kranken schauen.
Mit der Mitteilung unserer Erfolge müssen wir sehr kritisch umgehen. Z. B. die Refluxoesophagitis soll nach neuesten Publikationen in 30 % spontan ausheilen. Da dürfen wir nicht sagen, wenn wir einen solchen Kranken operiert haben und er dauernd geheilt bleibt, das sei alles eine Folge unserer so ausgezeichneten Operation.
Wo sollte Forschung demnach betrieben werden, gerade in Zeiten von immer weniger öffentlichen Mitteln?
Stelzner: In den Kliniken. Bei uns, so meine ich, ist ein Hauptproblem: Niemand der praktisch Tätigen hat Zeit für die Forschung. Das liegt wieder an unserer veralteten Organisation.
Einer meiner Söhne ist in den USA Chirurg, erst in Harvard, jetzt in Seattle. Er hat an einer Universität eine Stelle, in der er 14 Tage voll operiert und sich 14 Tage vorwiegend dem Labor widmet. Er betätigt sich aber selbst in diesem Labor. Das ist der große Unterschied zu Deutschland. Im Moment befasst er sich mit dem Problem der körpereigenen Stammzellen im Dünndarm. Dazu braucht man Zeit, aber natürlich auch Mitarbeiter und Geld. Das Geld muss er selbst einwerben, und er muss ein Gremium davon überzeugen, dass seine Forschung Erfolg verspricht. Das Einwerben von Geldern in den USA ist eine Wissenschaft für sich, aber das Geld ist da.
Woran erkennt man, wenn man selbst in einer leitenden
Position ist, ob jemand zum Chirurgen taugt?
Stelzner: Es gibt Menschen, die sind primär mit den Händen geschickt und es gibt andere, die sind ungeschickt. Die ganz Ungeschickten merken das meist doch einmal von selbst. Die meisten anderen zureichend geschickt, aber unterschiedlich kreativ. Die Kreativität sollte aber an einer Universität oben an stehen. Sie ist aber nicht allzu häufig. Dieses Problem hat man schon immer gesehen.
Ein Beispiel: Es gab einen berühmten Mann, einen Chemiker und Nobelpreisträger, der hieß Wilhelm Ostwald, der schrieb ein eindrucksvolles Buch. Darin teilt er Kreativität in seinem Fachgebiet in zwei große Gruppen von Menschen:
Es gibt kreative Menschen, die ihren Einfall spontan haben, die damit sehr erfolgreich sind und die diesen Einfall auch sofort an den Mann bringen können. Das sind die Romantiker wie z. B. Liebig.
Die andere Gruppe nennt Ostwald die Klassiker. Ein Beispiel dafür ist Michael Faraday. Von der Beobachtung ausgehend, dass elektrischer Strom eine Magnetnadel ablenkt, hat er sich gesagt: Wenn ich nun einen Magneten bewege, müsse doch Strom fließen. Und damit er dieses Problem nicht vergisst, hatte er über ein Jahrzehnt in der Tasche immer einen Draht und einen Magneten mit sich herumgetragen, und am Ende hat er den Dynamo erfunden. Als Ostwald das Buch publiziert hatte, hat ihn ein junger Japaner gefragt: „Ich bin von meiner Regierung beauftragt, Sie zu fragen, wie man später kreative Leute in ihrer Jugend erkennen kann?” Ostwald war völlig überrascht. Er meinte, er werde versuchen, die Frage zu beantworten. Schon nach drei Tagen hatte er die Antwort: „Sagen Sie Ihrer Regierung, Sie erkennen den Kreativen daran, wie er fragt!”
Welchen Chirurgen würden Sie denn darüber hinaus als
geeignet bezeichnen?
Stelzner: Sicher nicht den, der ganz wenig operiert hat. Aber ganz sicher auch nicht den mit dem größten Operationskatalog. In den USA scheint bei Bewerbungen der Operationskatalog keine so große Rolle zu spielen.
Sie können etwas sehr häufig machen, wenn Sie es schlecht machen, bleibt es trotzdem schlecht.
Welches sind Ihre persönlichen Stärken und auch
Schwächen?
Stelzner: Ich kann mich heute noch für die Morphologie sehr begeistern, z. B. wenn ich heute ein Tier entdecke, das ein Prinzip zeigt, das beim Menschen noch unerkannt geblieben ist.
Z. B. bei dem seit über 300 Millionen Jahren und heute immer noch lebenden Urfisch Latimeria. Man findet ihn in Madagaskar und in Malaysia. Bei ihm ist das weibliche anorektale Kontinenzorgan nur eine Kolostomie, das männliche hat bereits einen Abschlussschwellkörper. Beim Menschen ist die Schwäche des weiblichen anorektalen Kontinenzorgans genauso ausgeprägt und dem männlichen anorektalen Kontinenzorgan weit unterlegen. Das hat für die Praxis eine große Bedeutung, aber man sieht es nicht so ohne weiteres.
Um allerdings einen Latimeria wirklich zu verstehen, musste ich nach Paris fahren, um mich dort in Bibliotheken und Museen umzusehen.
Oder wenn ich mich heute mit den Lymphgefäßen beschäftige und auf die Lymphherzen stoße, dann sieht man sie bei den Tieren, nicht beim Menschen. Sie sind aber auch beim Menschen vorhanden und von größter Wichtigkeit.
Wie sind Sie damals darauf gekommen, dass der Fisch Brachydanio rerio etwas mit dem Magen-Darm-Trakt des Menschen zu tun hat?
Bei diesem, in seiner ersten Entwicklung durchsichtigen Fisch, kann man die Zweiteilung der Wirbeltiere sehr genau sehen. Die Zweiteilung gilt aber für alle Lebewesen, auch für den Menschen. Im viszeralen Organismus sind alle Organe einzeln und im somatischen sind sie alle doppelt, und dazwischen liegen die Faszien. Diese spielen für die Radikaloperation eines Karzinoms eine große Rolle, denn für den Krebs sind sie lange Zeit undurchdringbar.
Als ich den durchsichtigen Fisch Brachydanio rerio zum ersten Mal gesehen habe, wusste ich, dass Frau Nüsslein-Vollhart, schon bevor sie den Nobelpreis bekommen hat, diesen Fisch sehr genau kannte. Ich habe ihr geschrieben, und sie fragte mich: „Was wollen Sie denn als Chirurg mit diesem Fisch?” Ich erzählte ihr von meiner Idee von der Zweiteilung aller Wirbeltiere, von der Trennung durch die Faszien und von der Bedeutung für die Radikaloperation eines Karzinoms. Darauf bekam ich von ihr eine sehr genaue Anatomie über diesen Fisch, und so konnte ich meine Überlegungen korrekt begründen.
Natürlich muss man primär eine originelle Idee haben und gleichzeitig sehr begeistert sein. Mir fällt noch ein Beispiel ein.
Ich habe mir einmal überlegt, das Verhalten eines Mastdarmvorfalles ist doch recht merkwürdig. Er mag Jahrzehnte bestehen, aber der Mastdarm fällt immer nur faustgroß aus dem After, eher reisst die Rektumvorderwand. Ein Kolonvorfall kann einen oder gar mehrere Meter lang sein. Da muss doch, so meinte ich, mit dem Rektum, und zwar mit seiner Halterung, etwas Besonderes vorliegen. Und da fand ich, bei einem Frosch, Ascaphus truei, haben alle Männchen einen permanenten Rektum-, eigentlich einen Kloakenvorfall, und man nannte ihn fälschlich den Schwanzfrosch. Diese Frösche begatten sich nämlich in reißenden Gebirgsbächen, und damit der Samen aus der Scheide des Weibchens nicht weggespült wird, so führt er ihn mit diesem prolabierenden Rektum, also eigentlich der Kloake, in die Vagina ein. Und da erinnerte ich mich, dass auch bei Menschen dieser Vorfall nicht weiter herauskommt als bei diesem Frosch. Das Rektum ist eben eine Kloakenreminiszenz. Auf dieser Erkenntnis konnten wir eine sehr erfolgreiche chirurgische Therapie begründen.
Gab es ein Schlüsselerlebnis für Sie, das Sie zur
vergleichenden Morphologie gebracht hat?
Stelzner: Ich habe schon als Student in der Anatomie eine Doktorarbeit über angewandte Morphologie gemacht und dafür summa cum laude erhalten. Da war mir vom ersten Moment an klar, womit ich mich lebenslang beschäftigen würde. Wenn ich heute die Gesetze der Lymphströme mit der Positronenemissionstomographie (PET) untersuche, so ist das letztlich die gleiche angewandte vergleichende Anatomie, mit der Aufspürung der Lymphherzen auch beim Menschen.
Haben Sie auch Schwächen?
Stelzner: Ich bin unduldsam und muss natürlich aus gesellschaftlichen Überlegungen meine Zunge im Zaum halten. Zudem habe ich natürlich auch nicht immer Recht.
Welches war Ihrer Meinung nach Ihr größter Erfolg in Ihrer beruflichen Laufbahn? Welches Ihre größte Niederlage?
Stelzner: Sicher habe ich aufgrund meines Naturells und da ich keiner mächtigen Schule angehöre, mich manchmal zurückgesetzt gefühlt.
Sie wissen, wie mächtig ein Chef und seine Schule sein kann und welcher Einfluss sich da geltend macht. Letztendlich bin ich aber schon anerkannt worden. Ich denke, Erfolg und Misserfolg halten sich bei mir die Waage und das ist ganz natürlich. Es gibt sicher Leute, die niemals eine Niederlage erleben mussten. Das scheint aber nicht immer gut für sie gewesen zu sein? Niederlagen sind ohne Frage für die Kreativität sehr positiv zu werten, wenn man einen selbstsicheren Charakter hat.
Zu den beruflichen Erfolgen gehört sicher, ich hatte vier Rufe. Das ist nicht allzu häufig. Ich bin aber immer dann, wie man mir später sagte, letztlich berufen worden, wenn im entscheidenden Moment Leute eine Begründung vorbrachten, die für eine Fakultät überraschend gewesen ist, und das waren immer Anatomen. Gegen deren begründetes Votum konnte niemand etwas einwenden. Das wog sogar die immer wieder vorgebrachten Argumente auf: Das sei doch ein schwieriger Mensch!
Es ist üblich für emeritierte Ordinarien, entsprechend ihrem Ehrgeiz den Himalaja zu erklettern oder ähnliche Taten zu vollbringen. Welches sind Ihre persönlichen und beruflichen Ziele?
Stelzner: Nicht gegen das Versprechen eines fünften Lehrstuhls werden Sie mich auf irgendeinen Berg hinauf bringen! Wozu? Das kommt mir so vor wie auch manche Pseudowissenschaft, vergleichbar mit einem Stabhochsprung. Wenn ich mit einem Stab nicht höher als 5 Meter hoch springen kann, dann mache ich ihn elastisch. Damit kann ich dann 6 Meter hoch springen. Wer hat etwas davon? So etwas gibt es auch in der Wissenschaft. Wenn die Wissenschaft nur zum Sport wird, wird sie vielleicht angestaunt - aber sie ist sinnlos und das sollte man lassen.
Wenn schon keine Berge, was sind dann Ihre Ziele?
Stelzner: Keine Berge, weiter die Wissenschaft. Mein Ziel ist, neues Wissen zu erspüren. Irgendwann kommt das schon einmal praktisch zum Tragen.
Ich gehe auch weiterhin fast jeden Tag in die Klinik, und da ich ein Ein-Mann-Betrieb bin, dauert heute eben alles ein bisschen länger, aber das hat auch seine Vorteile.
Zu meinem Dienstantritt in Bonn habe ich ein äußerst wichtiges Geschenk bekommen: Den Hauptschlüssel zum anatomischen Institut. Auch die Nachfolger meiner inzwischen emeritierten Kollegen haben mir diesen Schlüssel belassen. Dort gehe ich heute noch häufig hin. So ab 18 Uhr finden Sie dort in der Regel niemanden mehr. Dann sind Sie allein und können mit Ihren Gedanken wunderbar spielen und alles dort Sichtbare, die Präparate, die Bücher, ja selbst die Bilder nicken Ihnen zu.