Zentralbl Chir 2002; 127(2): 88
DOI: 10.1055/s-2002-22031-2
Kommentar

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Kommentar auf Anforderung der Schriftleitung

Invited CommentaryH. Schweiger
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Publication Date:
29 April 2004 (online)

Die auf großen randomisierten Vergleichsstudien beruhende Indikation zur Carotisrekonstruktion gründet sich auf 2 scheinbar sichere Fundamente: Den nach NASCET-Kriterien festgelegten angiographischen Stenosegrad und die klinische Symptomatik. Der Stenosegrad wurde in fast allen Studien durch die selektive Angiographie bestimmt. Nur in der ACAS-Studie wurde die Angiographie wegen hoher Komplikationsraten von der Duplexsonographie abgelöst. Unter der nicht unberechtigten Intention, die gravierenden zerebralen Komplikationen der selektiven Angiographie zu vermeiden, wird in der klinischen Praxis heute zunehmend nur noch die Duplexsonographie durchgeführt und aufgrund der Ergebnisse dieser nicht-invasiven Untersuchungsmethode die Indikation zur Operation gestellt.

Den Autoren der oben abgedruckten Arbeit kommt das Verdienst zu, eine Untersucher-abhängige Methode zu validieren. Im nach Ansicht der Autoren kritischen Grenzbereich eines Stenosegrades von 70 % weist die Duplexsonographie unter Verwendung allgemein akzeptierter Duplexkriterien eine Spezifität von nur 80 % auf. Auch die MR-Angiographie zeigt lediglich eine Spezifität von 88 %. Maßstab und gold standard für beide Untersuchungsverfahren ist der mittels selektiver Angiographie bestimmte Stenosegrad.

Zweifellos ist die selektive Angiographie der gold standard, allerdings nur deshalb, weil eine noch exaktere Methode nicht existiert bzw. bisher nicht definiert wurde. So geben die Autoren in der eigenen Serie eine Interobserver-Variabilität von 0,89 an. Im „kritischen” Bereich eines Stenosegrades zwischen 50 und 70 % wird in der Literatur eine Interobserver-Variabilität von 0,46 und 0,65, und eine Intraobserver-Variabilität zwischen 0,53 und 0,90 angegeben [1]. Die Bemerkung der Autoren: „this method is fairly reproducible...” lässt sich auch so interpretieren, dass unser gold standard so „gold” nicht ist.

Die Folgestudien von ECST und NASCET haben gezeigt, dass die scharfe Grenze einer exakt 70 %-Stenose nicht Basis für die Indikationsstellung eines operativen Eingriffs sein kann. Symptomatische Patienten profitieren durchaus von einer Carotisrekonstruktion, wenn der Stenosegrad deutlich unter 70 % liegt. Umgekehrt wird nicht jeder Patient mit über 70 %iger Stenose von einer Operation Nutzen haben.

Bei einem Stenosegrad von 60 bis 75 % sind für die Operationsentscheidung nicht die exakte Prozentzahl, sondern Kriterien wie Symptomatik, Grad der Progredienz, Alter, individuelles Operationsrisiko usw. relevant.

Wahrscheinlich müssen wir uns daran gewöhnen, dass der auf die Kommastelle festzulegende Stenosegrad diagnostisch nicht fassbar ist. Selektive Angiographie, Duplexsonographie und MR-Angiographie sind möglicherweise komplementäre diagnostische Methoden, die - jede für sich - dazu beitragen, die Morphologie und das Risiko einer Carotisstenose im Spontanverlauf zu beschreiben. Selbst wenn der gold standard selektive Angiographie die beste Information über den Stenosegrad liefert, wird sie wohl heute niemand mehr als Routineuntersuchung propagieren wollen. Eine diagnostische Methode, deren Komplikationsrate der des eigentlichen operativen Eingriffs nahekommt, ist nur bei speziellen Fragestellungen vertretbar. Wir alle hoffen, dass wir durch die Kombination der Duplexsonographie mit der vielversprechenden MR-Angiographie zu einer verlässlichen Beurteilung darüber kommen, ob wir dem Patienten eine elektive und prophylaktische Operation vorschlagen dürfen.

  • 1 Debray J M, Glatt B. Quantification of atheromatous stenosis of the extracranial internal carotid artery.  Cerebrovasc Dis. 1995;  5 414-426

Prof. Dr. H. Schweiger

Chefarzt der Abt. Gefäßchirurgie

Herz- und Gefäßklinik GmbH

Salzburger Leite 1

97616 Bad Neustadt/Saale