Gesundheitswesen 2002; 64(3): 170-175
DOI: 10.1055/s-2002-22318
Originalarbeiten
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Freie Arztwahl in Deutschland - eine historische Perspektive

Free Choice of Doctors in Germany in RetrospectW. Kunstmann1 , M. Butzlaff1 , J. Böcken2
  • 1Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Medizin
  • 2Bertelsmann-Stiftung, Bereich Wirtschaft, Abteilung für Wirtschafts- und Sozialpolitik
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Publication Date:
18 March 2002 (online)

Zusammenfassung

Die freie Arztwahl hat durch die Kosten- und Qualitätsdiskussion im Gesundheitswesen sowie aufgrund des Gesundheitsreformgesetzes von 1999 neue Aktualität erlangt. Ihre Berechtigung für unser Gesundheitswesen ist erst dann sinnvoll zu bewerten, wenn ihre Entstehungsgeschichte und die Motive der mit ihr verknüpften gesellschaftlichen Interessensgruppen berücksichtigt werden. Vor Beginn der Industrialisierung waren die ärztlichen Qualifikationsprofile noch äußerst heterogen. Die Bevölkerung wandte sich im Krankheitsfalle an heilkundige Personen des unmittelbaren Lebensumfeldes. Die Industrialisierung veränderte jedoch die bestehenden sozialen Netzwerke nachhaltig und machte den Aufbau neuer ärztlicher Versorgungsstrukturen auf dem Lande und in der Stadt erforderlich. Der Staat nahm sich dieser Herausforderung an, indem er unter anderem die Ausbildung der Ärzte und das Niederlassungsrecht strukturierte und die Gründung von Krankenkassen förderte. Das 1883 verabschiedete Krankenversicherungsgesetz schuf für weite Kreise der Arbeitnehmerschaft eine Pflichtversicherung. Da den Krankenkassen die Sicherstellung der Versorgung oblag, waren die Versicherten im Krankheitsfall an den Arzt gebunden, mit dem ihre Kasse einen Vertrag abgeschlossen hatte. Nachdem die Zahl ärztlicher Niederlassungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts drastisch angestiegen war, versuchte die Ärzteschaft, über die Forderung nach freier Arztwahl einen Zugriff auf das neu entstandene Marktsegment der Kassenversicherten zu erlangen. Der 1900 als Kampforganisation gegründete Leipziger Verband (Hartmannbund) begann in den Folgejahren mit der Organisation von Ärztestreiks, die das Ziel eines freien Zugangs der Kassenversicherten zu allen verbandlich organisierten Ärzten verfolgten. Die fast 30 Jahre andauernden Auseinandersetzungen konnten schließlich über eine 1931 erlassene Notverordnung befriedet werden. Diese übertrug den Sicherstellungsauftrag von den Krankenkassen auf die neu geschaffenen kassenärztlichen Vereinigungen und schrieb die freie Arztwahl unter den zur Versorgung von Kassenpatienten zugelassenen Ärzten fest.

Abstract

Due to discussions on the cost and quality of health care and a new legislation on the German statutory sickness insurance system in 1999, the free choice of doctors has recently become topical. To assess its legitimation for the German health care system, its history and the groups of interest involved should be taken into consideration. Before the period of industrialization no homogeneous pattern of the medical profession existed. In case of illness individuals who lived within reach and were known for their competence in disease matters were approached. However, industrialization destroyed existing social networks, and establishment of new structures of health care in rural as well as metropolitan areas became necessary. The government approached this challenge by structuring medical education, passing regulations on the settlement of doctors and promoting the foundation of statutory sickness funds. The Health Insurance Law of 1883 established a mandatory insurance system for a broad array of industries. As it was the sickness funds‘ responsibility to provide sufficient resources for medical care, a sick member was tied to the physician under contract with his insurance. After a rapid increase in practising physicians at the end of the 19th century, doctors‘ organisations were eager to gain access to the new market segment of insurance members by calling for the free choice of physicians. The Leipzig association (Hartmannbund) was founded in 1900 to organize strikes of doctors in order to get their goals accepted. After 30 years of conflicts an appeasement was achieved by a presidential emergency law in 1931. It transferred the responsibility for the provision of sufficient health care resources from the sickness funds to the newly created body of the Association of Sickness Fund Physicians (Kassenärztliche Vereinigung) and determined the patients‘ free choice among licensed sickness fund physicians.

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Dr. Wilfried Kunstmann

Universität Witten/Herdecke, Bereich Sozial- und Allgemeinmedizin

Alfred-Herrhausen-Straße 50

58448 Witten

Email: kunstman@uni-wh.de