Dtsch Med Wochenschr 2002; 127(13): 665-666
DOI: 10.1055/s-2002-23477
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die »Neue Zeit« in der Hochschulmedizin

The »new period« in medical collegeS. Hagl
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Publication Date:
27 March 2002 (online)

Prof. Dr. S. Hagl, Heidelberg

An den 35 Medizinischen Fakultäten der Staatlichen Hochschulen liegt die Zahl der Studienanfänger im Fach Medizin seit Jahren zwischen 10 000 und 11 000/anno. Diese Zahlen suggerieren selbst bei Berücksichtigung einer im Zusammenhang mit der 2. Novellierung der Approbationssordnung anstehenden Reduktion der Zulassungszahlen um 10% eine ausreichende Stabilität in Bezug auf die Rekrutierung des Nachwuchses für die praktische Medizin.

Jüngste Analysen haben jedoch gezeigt, dass von 100 Absolventen des Medizinstudiums nur noch 50-60 den Weg in die praktische Medizin einschlagen. Die Zahl der Ärzte im Praktikum sank von 22 110 im Jahr 1995 auf 16 955 im Jahr 2000. Etwa 20% der Heidelberger Studienabsolventen suchen eine Karrierechance im Ausland, vorzugsweise in den USA, in England und den skandinavischen Ländern. Eine zunehmende Zahl sieht ihre Zukunft in der Forschung. Viele junge Mediziner drängen in die Industrie oder finden Aufgaben in Krankenhausökonomie bzw. im Grenzbereich zwischen Medizin und Informatik. Diese Entwicklung, die sich bereits vor Jahren anbahnte, hat nun auch direkt Auswirkungen im universitären Bereich. Bewerber um wissenschaftliche Assistentenstellen an den Unversitätskliniken sind rar geworden. Qualifizierter Nachwuchs fehlt bereits heute. Am stärksten betroffen ist hier die klinische Medizin und innerhalb dieser die besonders arbeitszeitintensiven chirurgischen Fächer, aber auch andere Spezialdisziplinen, die strukturell und organisatorisch eine enge Anbindung an die Universität haben.

Diese gravierenden Veränderungen legen den Schluss nahe, dass die universitäre Medizin mit ihrem Auftrag, Krankenversorgung auf der Ebene der Maximalversorgung sicherzustellen, Forschung und Weiterentwicklung möglich zu machen und darüber hinaus eine qualifizierte Lehre vorzuhalten, offensichtlich an Attraktivität eingebüßt hat. Die Frage nach den Ursachen, nach den Wurzeln dieser Entwicklung, gibt Raum für gesicherte kausale Zusammenhänge aber auch für Spekulationen. Es wäre sicher zu einfach und würde dem Problem nicht gerecht werden, würde man versuchen, dieses Phänomen - wie viele es tun - allein durch den Wandel im Denken, in den Wertvorstellungen und im Lebensstil unserer modernen Gesellschaft zu erklären. Der Vorwurf, dass nur noch wenige bereit sind, Einsatz und Leistung zu erbringen, erscheint als globale Aussage nicht gerechtfertigt. Trotzdem hat sich etwas geändert. Der im Bezug auf seine Berufsausrichtung vor der Entscheidung stehende junge ambitionierte Mediziner wird die Zukunftsperspektiven in einem gegebenen Fach heute im Vergleich zu früheren Jahren weitaus kritischer analysieren und hinterfragen und gleichzeitig seine Karrierechancen im Hinblick auf Weg, Zeit und Ziel nüchtern in Relation zum Aufwand abwägen.

Durch den zunehmenden Anteil an Frauen in der Medizin - in Heidelberg 50% der Studierenden - kommen zusätzliche Faktoren ins Spiel. Die Zahl derer, die sich primär für den universitären Weg entscheiden und diesen auch konsequent begehen, ist relativ gering. Die Mehrzahl der Frauen entscheiden sich aus verständlichen Gründen für Fachgebiete, die neben der Option einer universitären Karriere auch eine Chance auf Niederlassung bzw. Teilzeitbeschäftigung offenhalten. Die Zahl derer, die die Ausübung ihres Berufes aus familiären Gründen langfristig unterbrechen bzw. beenden, reduziert zusätzlich den Nachwuchs für die Hochschulmedizin.

Der Versuch einzelner privatwirtschaftlicher organisierter und mit der Universität assoziierter Spezialkliniken, den sinkenden Bewerberzahlen durch finanzielle Anreize zu begegnen, ist in einem kompetitiven Stellenmarkt möglicherweise ein kurzfristig wirkendes Korrektiv, kann das jedoch sehr viel weiter und tiefer verwurzelte Problem langfristig sicher nicht lösen.

In dem dringend notwendigen Prozess, die universitäre Medizin wieder attraktiv zu gestalten, ist primär die Universität selbst gefordert. Viele der bestehenden Strukturen und Organisationsformen sind reformbedürftig. Die Umsetzung des universitären Auftrags fordert eine Anpassung an eine »Neue Zeit«, in der Internationalität, wissenschaftliche Kompetition und Wirtschaftlichkeit zu bestimmenden Faktoren geworden sind. Es gilt zunächst, rechtliche Rahmenbedingungen zu definieren, die in Bezug auf den internationalen Wettbewerb für die Deutsche Universität gleiche Ausgangsbedingungen schaffen. Die nach wie vor bestehende Rechtsunsicherheit im Bereich der nicht-öffentlichen Drittmittelforschung, die besonders die für die klinische Forschung unverzichtbare Kooperation zwischen Universität und Industrie im hohen Maße behindert, unterstreicht beispielhaft diese Forderung. Die Fesseln des Amtsträgerstatus der Wissenschaftler, bürokratischen Hürden und ein unüberschaubares Geflecht von Richtlinien grenzen den Freiraum für Initiative und Gestaltung erheblich ein, komplizieren Entscheidungsprozesse und verlangen deren effiziente Umsetzung. Hier ist dringender Handlungsbedarf für eine Neuordnung.

In der Lehre hat der Umdenkungsprozess bereits begonnen. Vielversprechende innovative Konzepte und Modelle werden an den Universitäten bereits eingesetzt bzw. stehen vor der Einführung. Die Qualität der Lehre bekommt damit einen zunehmenden Stellenwert in einem neuen Wettbewerb der Fakultäten um die besten Studenten.

Durch straffere und transparente Curricula in Aus- und Weiterbildung könnte die Universitätsklinik wieder Boden und Attraktivität gewinnen. Die Neuorganisation der Leitungsstrukturen an den Universitätskliniken mit stärkerer Betonung horizontaler Strukturen würde Raum schaffen für neue, interessante, erstrebenswerte Positionen und damit insgesamt die Attraktivität der Hochschulmedizin verbessern.

Strukturelle und organisatorische Defizite der Universität sind jedoch nicht allein für diese Entwicklung verantwortlich. Undifferenzierte, unausgewogene Strukturänderungen im Rahmen des über weite Strecken konzeptlos anmutenden Gesundheitsreformprozesses zeichnen sich für den generellen Verlust der Attraktivität der medizinischen Profession wesentlich mitverantwortlich. Die Infragestellung der universitären Medizin sowie konkrete Überlegungen, die Universitätskliniken eines ganzen Landes zu privatisieren - in Baden Württemberg in der Diskussion, Universitätskliniken zu schließen bzw. in Versorgungskliniken umzuwandeln - Beispiel: Benjamin Franklin Universität, Berlin, schaffen eine Atmosphäre der Unsicherheit in Bezug auf künftige Strukturstabiliät. Objektiv gesehen sind damit die Zukunftsperspektiven einer universitären Karriere aufgrund der Umbruchsituation, in der sich die Medizin insgesamt, besonders aber die Hochschulmedizin, befindet, schwer abschätzbar.

Das moderne Gesundheitssystem kann und darf sich den Regeln der freien Marktwirtschaft grundsätzlich nicht verschließen. Diese Regeln müssen jedoch an die grundlegenden Bedürfnisse des Systems adaptiert werden und die besonderen Aufgaben einzelner Strukturelemente berücksichtigen. Dies ist in dem geplanten neuen pauschalierten Entgeltsystem nicht erkennbar.

Die Einführung des DRG(Diagnosis related Groups)-Systems als durchgängiges leistungsorientiertes und pauschaliertes Vergütungssystem nach australischem Vorbild in den Jahren 2003-2006 zwingt die Krankenhausträger mehr als bisher, medizinische Zielvorgaben ökonomischen Überlegungen unterzuordnen. Ein Primat der ökonomischen Effizienz muss die Umsetzung des medizinischen Auftrags gefährden. Die Auswirkungen dieses Systems auf Forschung, Weiterbildung und Lehre sind nicht absehbar. Kann dieses alle Krankenhäuser ohne Berücksichtigung der Strukturmerkmale und Aufgabenbereich nivellierende System noch genügend Raum für die universitären Aufgaben, Forschung und qualifizierte Lehre bzw. für Aus- und Weiterbildung schaffen?

In dem zu 100% umzusetzenden DRG-System definieren die vorläufigen Punktkalkulationen innerhalb der 660 Fallpauschalen einen engen finanziellen Rahmen, der auch die Universitätskliniken dazu zwingen wird, die Kostenfrage bei der Indikationstellung zu berücksichtigen. Selektion und Leistungsbegrenzung werden notwendigerweise in die Universitätskliniken einziehen. Inwieweit Rationierung durch Leistungssteigerung verhindert werden kann, wird in hohem Maße von dem Anteil des unter ökonomischen Gesichtspunkten »günstigen Krankengutes« abhängen. Um eben dieses »Krankengut« wird sich aber ein harter Wettbewerb zwischen Institutionen privater Trägerschaft und Universitätskliniken entwickeln, wobei weniger die medizinische Leistung, sondern mehr die Attraktivität der Unterbringung und des Services, wie bereits heute erkennbar, die entscheidende Rolle spielt. Die gegebenen Strukturen und Organisationsformen von Universitätskliniken stellen dabei einen gravierenden Wettbewerbsnachteil speziell in diesem für das Klinikum ökonomisch wichtigen und für die Lehre unverzichtbaren Segment der Krankenversorgung dar.

Der in der Klinik zunehmende unter den gegebenen Bedingungen zweifelsfrei notwendige Dokumentationsaufwand reduziert unter der Vorgabe kostenneutraler Umsetzung den für die eigentlichen medizinischen Inhalte verbleibenden Raum.

Das Arbeitszeitgesetz, dessen Umsetzung von den Krankenhausträgern vielerorts an die Abteilungsleiter delegiert wurde, belastet die Erfüllung der komplexen universitären Aufgabe und verlängert, besonders in den chirurgischen Disziplinen, aufgrund der in einem reduzierten Zeitraum vermittelbaren Erfahrungsdichte, die ohnehin schon sehr lange Weiterbildung. Durch derartige gesetzliche Vorgaben wird der Einzelne unausgesprochen gezwungen, Leistungen ohne Vergütung zu erbringen, will er in absehbarer Zeit die notwendigen Weiterbildungsinhalte aufnehmen. Dieser Ansatz ist in hohem Maße unaufrichtig und bedenklich.

Die bereits heute an einigen Universitätskliniken angebotenen Verträge für leitende Positionen beinhalten keine Privatliquidation mehr und lassen diese Position unter wirtschaftlichen Aspekten bei Berücksichtigung der erbrachten und weiter zu erbringenden Leistungen der Qualifikation und der Verantwortung im Vergleich zu anderen Berufsgruppen wenig attraktiv erscheinen. Die Alternative, die die freie Wirtschaft wie auch das Ausland bieten, reduziert den qualifizierten Nachwuchs für die Deutsche Universität.

Wichtige atmosphärische Faktoren, wie das zunehmende Spannungsfeld zwischen Medizin, Gesellschaft, Staat und Politik belasten das Bild des Mediziners in der Öffentlichkeit. Obwohl die Erwartung der Gesellschaft gegenüber der Medizin in Bezug auf die Problemlösungskompetenz nahezu unbegrenzt ist, nimmt das Misstrauen der Öffentlichkeit gegenüber der forschenden Medizin zu. Dabei ist die von den Medien generierte kritiklose Jedermannskompetenz in hohem Maße fehlleitend.

Das Erscheinungsbild des Mediziners wurde besonders in den letzten 10 Jahren verzeichnet. Um politische Ziele durchzusetzen, musste die herausragende Position des Mediziners in Zweifel gezogen werden. In konzertierten Aktionen wurden Skandale regelrecht inszeniert, um damit eine ganze Profession in Misskredit zu bringen und einen Sündenbock für die »Kostenexplosion« im Gesundheitswesen vorzeigen zu können. Die Medien haben in diesem Prozess eine äußerst dubiose von Eigeninteresse und Verkaufstrategie geprägte Rolle übernommen.

Die durch die Fortentwicklung in der Medizin verbundenen Kostensteigerungen können in der Zukunft nur durch Erhöhung der Versicherungsbeiträge, durch zunehmende Eigenbeteiligung des Patienten oder durch Begrenzung der Leistung gedeckt werden. Dies in der Öffentlichkeit deutlich darzustellen, ist offensichtlich politisch nicht opportun. Deshalb werden nach Ausschöpfung der Rationalisierungsreserven die Umsetzung der unumgänglichen Rationierungsmaßnahmen der Medizin überlassen. Die Politik stiehlt sich aus der Verantwortung.

Vor dem Hintergrund dieser nur unvollständig und beispielhaften Überlegungen zur aktuellen Situation ist es nicht verwunderlich, dass die ursprünglichen in Sozialprestige hoch angesiedelte Medizin enorm an Attraktivität verloren hat.

Die Medizin hat es zweifellos versäumt, in Solidarität frühzeitig eine Kraft zu formieren, um diesen negativen Entwicklungen entgegenzutreten. Diese »Neue Zeit« fordert die Medizin heraus, die Zukunft aktiv mitzugestalten, ihre Expertise einzubringen und ihren ganzen Einfluss geltend zu machen, um Fehlentscheidungen zu korrigieren und Schaden für die Zukunft abzuwenden. Diese Chance muss im Interesse der Patienten, der Gesellschaft aber auch derer, die diese Medizin in der Zukunft zu vertreten haben, ergriffen werden.

Prof. Dr. med. Siegfried Hagl

Universitätsklinik Heidelberg

Im Neuenheimer Feld 11

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