Aktuelle Ernährungsmedizin 2002; 27(2): 108-109
DOI: 10.1055/s-2002-24636
Verlautbarung
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Missstände in der Vermarktung diätetischer Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke zur Verwendung bei Säuglingen

Deplorable State of Affairs in the Marketing of Dietetic Foods for Special Medical Purposes for Use with BabiesErnährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin
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Publication Date:
05 April 2002 (online)

Die Ernährungskommissionen der Deutschen Gesellschaften für Kinderheilkunde und Jugendmedizin und der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde weisen in einer gemeinsamen Stellungnahme auf Missstände im Marketing von Nahrungen für Säuglinge hin [1]. In deutschen und österreichischen Supermärkten und Drogerieketten werden Formelnahrungen für Säuglinge angeboten, die für den Verbraucher wie Säuglingsanfangs- und Folgenahrungen wirken, tatsächlich aber nicht den europäischen und nationalen Richtlinien für Säuglingsnahrungen entsprechen.

Die europäische Gemeinschaft hat in der Richtlinie 1999/21/EG vom 25. März 1999 Vorschriften für diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke (bilanzierte Diäten) erlassen [2]. Diese Richtlinie bezieht sich auf bilanzierte Diäten zum Einsatz bei spezifischen Erkrankungen, die von Ärzten oder anderen Heilberufsgruppen empfohlen und nur unter medizinischer Überwachung eingesetzt werden sollen. Diese bilanzierten Diäten können deshalb nicht für alle, auch gesunde Säuglinge vertrieben und eingesetzt werden. Diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke sind Produkte, von denen Patienten zur Erfüllung ihrer Ernährungsbedürfnisse abhängig sind (z. B. Aminosäurepräparate für Patienten mit angeborenen Stoffwechselkrankheiten), nicht aber Produkte zum Einsatz bei leichten Befindlichkeitsstörungen.

In Deutschland und Österreich wurden nach dem Erlass der zitierten EU-Richtlinie Nahrungen für Säuglinge auf den Markt gebracht, die im Einzelhandel (Supermärkte, Drogerien, Drogerieketten) angeboten und ausgelobt werden für Säuglinge mit Spucken, Blähungen und milden Verdauungsstörungen (Produkte Beba Sensitive, Fa. Nestle; Comformil, Fa. Milupa; Enfamil comfort, Fa. Mead Johnson). Diese als sog. „Spezialnahrungen” ausgelobten Produkte wirken von der Präsentation her für den Verbraucher wie Säuglingsanfangs- bzw. Folgenahrungen, obwohl sie die europäischen und nationalen Vorschriften für die Zusammensetzung von Säuglingsanfangs- bzw. Folgenahrungen nicht erfüllen [3]. Die Vermarktung richtet sich unmittelbar an die Verbraucher. Der nach dem europäischen Recht vorgeschriebene Einsatz von Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke nur aufgrund einer Empfehlung von Ärzten oder anderen Heilberufsgruppen und unter einer medizinischer Überwachung ist nicht gewährleistet.

Für diese Produkte werden z. T. unbegründete Wirkungsversprechen abgegeben. Der empfohlene Einsatz „von der ersten Flasche an” widerspricht dem Konzept eines Produktes zur Behandlung einer Erkrankung, die nach der Geburt ja zunächst erst einmal diagnostiziert werden muss, bevor eine diätetische Therapie zum Einsatz kommen kann. Aufgrund der ausgesprochenen Wirkungsversprechen besteht Gefahr, dass Mütter mit großer Besorgnis über milde Befindlichkeitsstörungen ihrer Säuglinge dazu verleitet werden, das Stillen vorzeitig zu beenden.

Die Ernährungskommissionen halten es in Übereinstimmung mit anderen Fachkommissionen [4] [5] für unverzichtbar, dass diätetische Produkte für Säuglinge hinsichtlich ihrer Eignung und Sicherheit durch qualifizierte Behörden geprüft werden. Die Ernährungskommissionen folgern:

Für diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke ist ein Anzeigeverfahren vorzusehen, so dass im Einzelfall eine Einwirkungsmöglichkeit auf Produktzusammensetzung, Darbietung sowie auf die durchzuführende Evaluation von Effektivität und Sicherheit besteht. Diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke mit Einsatz im Säuglingsalter müssen für den Verbraucher klar von Säuglingsanfangs- und Folgenahrungen unterscheidbar bleiben. Auf den Produktverpackungen müssen unmissverständliche Hinweise angebracht sein, die deutlich machen, dass diese Produkte nicht für die Ernährung gesunder Säuglinge vorgesehen sind. Es muss für den Verbraucher erkennbar sein, dass bilanzierte Diäten nur für ausgewählte Säuglinge mit definierten Erkrankungen auf ärztliche Empfehlung hin und unter fortlaufender medizinischer Überwachung einzusetzen sind. Um einem Missbrauch vorzubeugen, ist es wünschenswert, diese Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke nur über besondere Vertriebswege (z. B. Apotheken und medizinischer Fachhandel) abzugeben.

Literatur

  • 1 Ernährungskommission der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin und der Ernährungskommission der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde . Missstände in der Vermarktung diätetischer Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke zur Verwendung bei Säuglingen.  Monatsschrift Kinderheilkunde. 2002;  150 341-342
  • 2 Kommission der Europäischen Gemeinschaften .Richtlinie 1999/21/EG der Kommission vom 25. März 1999 über diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 7. 4. 1999 L 91/19
  • 3 Kommission der Europäischen Gemeinschaften .Richtlinie 1991/321/EG der Kommission vom 14. Mai 1991 über Säuglingsnahrungen und Folgenahrungen. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 4. 7. 1991 L175/35 - 49
  • 4 Committee on Medical Aspects of Food and Nutrition Policy .Guidelines on the Nutritional Assessment of Infant Formulas. Department of Health Report on Health and Social Subjects 47. The Stationery Office 1996
  • 5 Committee on Nutrition, European Society for Paediatric Gastroenterology, Hepatology and Nutrition (ESPGHAN) . The Nutritional and Safety Assessment of Breast Milk Substitutes and other dietary products for infants: A commentary by the ESPGHAN Committee on Nutrition.  J Pediatr Gastroenterol Nutr. 2001;  32 256-258

Univ.-Prof. Dr. Berthold Koletzko

Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München

Lindwurmstraße 4

80336 München

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