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DOI: 10.1055/s-2002-25063
Editorial
Publication History
Publication Date:
12 April 2002 (online)
Liebe Leserinnen und Leser
Manchmal
lohnt es sich, über den Tellerrand zu schauen und man kommt aus dem
Staunen gar nicht mehr raus, besonders dann, wenn man sieht, wie man von
anderen gesehen wird. Wussten Sie, dass Sie als qualifizierte
Fachkrankenschwestern und Fachkrankenpfleger in der Psychiatrie aus Sicht des
„Deutschen Berufsverbandes für Sozialarbeit, Sozialpädagogik
und Heilpädagogik e. V.” (DBSH) nicht geeignet sind,
Soziotherapie durchzuführen, weil sie zwar über hohe Kompetenzen in
den Bereichen Diagnostik, Pflege, Medizin, und dem „täglichen
Umgang” - gemeint sind hier vermutlich Patienten - nicht aber
sozialpsychiatrische Kompetenzen verfügen. Nein, diese sind nämlich
den SozialarbeiterInnen vorbehalten. Trösten Sie sich, Sie befinden sich
in guter Gesellschaft, denn diese Kompetenzen werden auch Psychiatern vom DBSH
abgesprochen. Die Gründe liegen auf der Hand: Psychiater haben
offensichtlich, so zumindest muss der DBSH verstanden werden, lediglich
„medizinische Kompetenzen”, sie sind ausschließlich an
„Krankheit” interessiert. Und die Pflege? Na, die hat man doch
nicht studiert, wie die Sozialarbeit! Man mag es kaum glauben, da wird die
psychiatrische Fachkrankenpflege unter Ausblendung aller neueren Entwicklung in
der professionellen Pflege und vor allen Dingen in der Pflegewissenschaft
beurteilt, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne sich die Mühe zu machen,
sich vielleicht mit dem etwas ausführlicher zu beschäftigen, was hier
„Pflege” und „alltäglicher Umgang” (mit
Patienten, oder doch vielleicht den SozialarbeiterInnen?) bezeichnet wird. Nun
vermag ich gerade nicht zu erkennen, wo AbsolventInnen eines vierjährigen
Fachhochschulstudiums der Sozialarbeit jenes empirische Wissen produziert
haben, welches notwendig ist, um „Soziotherapie”
durchzuführen. Ich sehe auch nicht, wie dies in diesem Studium zu leisten
wäre. Im Gegensatz dazu hat die internationale Pflegewissenschaft eine
immense Anzahl von empirischen Arbeiten zu bieten, die eine Hilfe sind,
chronisch kranke Menschen in ihrem alltäglichen Umfeld zu begleiten, zu
unterstützen, soziale Netzwerke zu mobilisieren, informelle Hilfen zu
stärken, zu intervenieren, falls dies erforderlich ist. Das, was der DBSH
unter Pflege versteht, wohlgemerkt: beruflich ausgeübter, psychiatrischer
Fachkrankenpflege, ist dem interessierten Leser bei bestem Willen nicht ganz
deutlich. Zumindest wirkt es sehr laienhaft, was pflegerischen Laien auch nicht
unbedingt übel genommen werden sollte, vor allen Dingen ist es aber so
anachronistisch, dass es schon wieder amüsant ist. Hier kann Abhilfe
geschaffen werden. Ich empfehle in solchen Fällen eine rasche
Literaturrecherche in den Datenbänken CINAHL und Medline. Keine Sorge,
lieber DBSH, es geht hier nicht nur um „Medizin oder Diagnostik”.
Nein, es geht um mehr und um anderes. Es geht um originär
pflegewissenschaftliches Wissen, welches, vielleicht nicht in dem Umfang, wie
es erforderlich wäre, bereits Einzug in psychiatrische Fachweiterbildungen
gehalten hat. Worum soll es nun in der Soziotherapie gehen? Aus pflegerischer
Sicht doch wohl darum, Menschen zu helfen, trotz psychiatrischer Erkrankungen
ihren Alltag möglichst kompetent zu gestalten, ihren sozialen
Verpflichtungen nachzukommen und menschliche Beziehungen aufrecht halten zu
können. Es geht für die berufliche, psychiatrische Fachkrankenpflege
darum, das Leben über die Krankheit hinauszuheben, dem Leben zu seinem
Recht zu verhelfen. Es geht eben nicht darum, aus standespolitischem
Dünkel und wegen des finanziellen Kalküls andere Berufsgruppen in
Misskredit zu bringen. Liebe Leserinnen und Leser, eigentlich wollte ich in
diesem Editorial über menschliche Wahrnehmung und Beziehung aus Sicht der
Pflege schreiben. Dies müssen nun die Artikel in diesem Heft
übernehmen, wenngleich auch dieses Editorial letztlich eine Aussage
über menschliche Wahrnehmung und Beziehung ist.