PPH 2002; 8(2): 59
DOI: 10.1055/s-2002-25063
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Editorial

W.  Schnepp1
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Publication Date:
12 April 2002 (online)

Liebe Leserinnen und Leser
Manchmal lohnt es sich, über den Tellerrand zu schauen und man kommt aus dem Staunen gar nicht mehr raus, besonders dann, wenn man sieht, wie man von anderen gesehen wird. Wussten Sie, dass Sie als qualifizierte Fachkrankenschwestern und Fachkrankenpfleger in der Psychiatrie aus Sicht des „Deutschen Berufsverbandes für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Heilpädagogik e. V.” (DBSH) nicht geeignet sind, Soziotherapie durchzuführen, weil sie zwar über hohe Kompetenzen in den Bereichen Diagnostik, Pflege, Medizin, und dem „täglichen Umgang” - gemeint sind hier vermutlich Patienten - nicht aber sozialpsychiatrische Kompetenzen verfügen. Nein, diese sind nämlich den SozialarbeiterInnen vorbehalten. Trösten Sie sich, Sie befinden sich in guter Gesellschaft, denn diese Kompetenzen werden auch Psychiatern vom DBSH abgesprochen. Die Gründe liegen auf der Hand: Psychiater haben offensichtlich, so zumindest muss der DBSH verstanden werden, lediglich „medizinische Kompetenzen”, sie sind ausschließlich an „Krankheit” interessiert. Und die Pflege? Na, die hat man doch nicht studiert, wie die Sozialarbeit! Man mag es kaum glauben, da wird die psychiatrische Fachkrankenpflege unter Ausblendung aller neueren Entwicklung in der professionellen Pflege und vor allen Dingen in der Pflegewissenschaft beurteilt, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne sich die Mühe zu machen, sich vielleicht mit dem etwas ausführlicher zu beschäftigen, was hier „Pflege” und „alltäglicher Umgang” (mit Patienten, oder doch vielleicht den SozialarbeiterInnen?) bezeichnet wird. Nun vermag ich gerade nicht zu erkennen, wo AbsolventInnen eines vierjährigen Fachhochschulstudiums der Sozialarbeit jenes empirische Wissen produziert haben, welches notwendig ist, um „Soziotherapie” durchzuführen. Ich sehe auch nicht, wie dies in diesem Studium zu leisten wäre. Im Gegensatz dazu hat die internationale Pflegewissenschaft eine immense Anzahl von empirischen Arbeiten zu bieten, die eine Hilfe sind, chronisch kranke Menschen in ihrem alltäglichen Umfeld zu begleiten, zu unterstützen, soziale Netzwerke zu mobilisieren, informelle Hilfen zu stärken, zu intervenieren, falls dies erforderlich ist. Das, was der DBSH unter Pflege versteht, wohlgemerkt: beruflich ausgeübter, psychiatrischer Fachkrankenpflege, ist dem interessierten Leser bei bestem Willen nicht ganz deutlich. Zumindest wirkt es sehr laienhaft, was pflegerischen Laien auch nicht unbedingt übel genommen werden sollte, vor allen Dingen ist es aber so anachronistisch, dass es schon wieder amüsant ist. Hier kann Abhilfe geschaffen werden. Ich empfehle in solchen Fällen eine rasche Literaturrecherche in den Datenbänken CINAHL und Medline. Keine Sorge, lieber DBSH, es geht hier nicht nur um „Medizin oder Diagnostik”. Nein, es geht um mehr und um anderes. Es geht um originär pflegewissenschaftliches Wissen, welches, vielleicht nicht in dem Umfang, wie es erforderlich wäre, bereits Einzug in psychiatrische Fachweiterbildungen gehalten hat. Worum soll es nun in der Soziotherapie gehen? Aus pflegerischer Sicht doch wohl darum, Menschen zu helfen, trotz psychiatrischer Erkrankungen ihren Alltag möglichst kompetent zu gestalten, ihren sozialen Verpflichtungen nachzukommen und menschliche Beziehungen aufrecht halten zu können. Es geht für die berufliche, psychiatrische Fachkrankenpflege darum, das Leben über die Krankheit hinauszuheben, dem Leben zu seinem Recht zu verhelfen. Es geht eben nicht darum, aus standespolitischem Dünkel und wegen des finanziellen Kalküls andere Berufsgruppen in Misskredit zu bringen. Liebe Leserinnen und Leser, eigentlich wollte ich in diesem Editorial über menschliche Wahrnehmung und Beziehung aus Sicht der Pflege schreiben. Dies müssen nun die Artikel in diesem Heft übernehmen, wenngleich auch dieses Editorial letztlich eine Aussage über menschliche Wahrnehmung und Beziehung ist.

Dr. W. Schnepp