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DOI: 10.1055/s-2002-25105
Was ich von den Angehörigen gelernt habe
Zur Überwindung der Kluft zwischen Angehörigen und ProfessionellenFacts the Relatives have Taught meComments on Closing the Gap Between Relatives and ProfessionalsPublication History
Publication Date:
15 April 2002 (online)
Therapeutische Angehörigengruppen sind seit 1996 in der Bundesrepublik Deutschland „fast flächendeckend” [1], die „Teilnahme an einer zweimonatigen Angehörigengruppe unter Supervision” seit 1994 Pflicht für die angehenden Psychiater [2], der „Umgang mit Angehörigen” ist Teil von praktischem Unterricht und Übungen bei der pflegerischen Weiterbildung [3], die Teilnahme von Angehörigen in allen wichtigen Planungsgremien der Psychiatrie ist die Regel und zahlreiche kontrollierte Untersuchungen besonders zur Rezidivprophylaxe durch Einbeziehung der Angehörigen bei den Diagnosegruppen Schizophrenie und affektive Psychosen sowie zur Unterstützung der Angehörigen bei Altersdemenzen und Abhängigkeitserkrankungen wurden veröffentlicht [1] [4] und neue Formen der Angehörigenarbeit eingeführt [5]. Erkennbare Fortschritte also bei der Beteiligung der Personengruppe, welche die Hauptlast der Psychiatriereform zu tragen hat [6] [7] [8].
Gleichzeitig klagen Profis, dass die angebotenen Angehörigengruppen nicht besucht werden und das Interesse an Angehörigengruppen nachlässt. Bei den Psychologen müsse man nach Gruppenleitern suchen, die Psychiater seien weitgehend ausgestiegen. Die Kluft zwischen Angehörigen und Profis habe sich vergrößert [6] [9]. Das Krankheitsverständnis der Angehörigen sei eher biologisch orientiert [6], das der Gruppenleiter stärker psychotherapeutisch. Es mangle ihnen an Kenntnissen über die Bedeutung der Medikamente und ihrer Nebenwirkungen. Aussagekräftige Angehörigenbefragungen aus einem Versorgungsgebiet liegen nach meinem Wissen - noch - nicht vor und die Befragungen von Mitgliedern der Angehörigenverbände [7] [12] [13] [14] sowie die kasuistische Darstellung von Bastiaan aus dem nichtstationären Bereich macht konvergierend die Kluft auch außerhalb der Klinik deutlich [10]. Zumeist ältere, versorgende Mütter [6] [15] werden von deutlich jüngeren Profis, die wenig Erfahrung im Umgang mit psychotischen Menschen zeigen können, enttäuscht und die Angehörigen kommen nicht mehr zur Gruppe. - Außerdem ist der „Anfangszauber” der Angehörigenarbeit einer Alltäglichkeit gewichen und wenige leitende Therapeuten sind noch aktiv in die Angehörigenarbeit als Leiter oder Supervisoren eingebunden. Die Selbsthilfegruppen, seit 1985 im Dachverband organisiert [16], stellen außerhalb des psychiatrischen Behandlungsbereiches Kontakte her und bieten Austausch, Unterstützung und Möglichkeit zu gemeinsamen psychiatriepolitischen Aktionen an, was zusätzlich das Interesse an Angehörigengruppen reduziert, allerdings nur bei einer relativ kleinen Gruppe.
Wie gehören diese vereinfacht dargestellten gegensätzlichen Seiten der Angehörigenarbeit heute zusammen? Ist es die Spannung, die grundsätzlich zwischen Profis und Angehörigen, besonders Eltern, entsteht, wenn beide Seiten annehmen, den Patienten am besten zu kennen? Angehörige streiten dann für ihren Patienten ähnlich wie Eltern in der Schule, die ihr Kind nicht richtig beurteilt, nicht genug gefördert sehen. Im Folgenden sollen aus einer seit 1981 dokumentierten Zusammenarbeit mit Angehörigen in Gruppen, Angehörigentagen und Angehörigenbriefen, Symposien, Einzelgesprächen, Briefen und Telefonaten sowie durch die Supervision von Gruppenleitern seit 1990 gezeigt werden, welche Anteile aus Sicht der Autorin die Kluft zwischen Profis und Angehörigen verkleinern. Damit wird auch der Frage von Tarrier nachgegangen [17], was dazu beiträgt, dass Angehörige die Angebote annehmen und dabeibleiben (Adherence zeigen). Gleichzeitig soll verdeutlicht werden, dass die Auseinandersetzung mit der Perspektive der Angehörigen für den Profi auch erheblichen Gewinn bringt.
Literatur
- 1 Wiedemann G, Buchkremer G. Familientherapie und Angehörigenarbeit bei verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen. Nervenarzt. 1996; 67 524-544
- 2 Bundesärztekammer .(Muster-)Richtlinien über den Inhalt der Weiterbildung. vom 7. 4. 94
- 3 Bad.-Württemberg GBL .Weiterbildungsverordnung Psychiatrie. vom 9. 2. 01
- 4 Lamm D H. Psychosocial family intervention in schizophrenia: a review of empirical studies. Psychol Med. 1991; 21 209-213
- 5 Fähndrich E, Kempf M, Kieser C, Schütze S. Die Angehörigenvisite (AV) als Teil des Routineangebotes einer Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Allgemeinkrankenhaus. Psychiat Prax. 2001; 28 115-117
- 6 Simon M D. Wir melden uns zu Wort. Die Angehörigen von psychisch Kranken beziehen Position. Psychiat Prax. 2000; 27 209-213
-
7 Creer C, Wing J K.
Der Alltag mit schizophrenen Patienten. In: Katschnig H (Hrsg) Die andere Seite der Schizophrenie. München; Urban & Schwarzenberg 1977 -
8 Becker H J, Katzmann K J.
Missachtung durch die Institution. In: Dörner K Freispruch der Familie. Bonn; Psychiatrie Verlag 1987 - 9 Rave-Schwank M. Persönliche Mitteilungen.
- 10 Bastiaan P. Gesehen mit den Augen der Angehörigen: Das schwarze Loch im sozialpsychiatrischen Hilfesystem. Psychiat Prax. 2001; 28 152-155
- 11 Hubschmidt T. Von der Familientherapie zur Angehörigenarbeit oder vom therapeutischen zum präventiv-rehabilitativen Paradigma in der Schizophreniebehandlung. Fortschr Neurol Psychiat. 1985; 53 117-122
- 12 Simon M D. „Wer hilft mir?” Was Angehörige sich von professionellen Helfern erhoffen. Soziale Psychiatrie. 1993; 62
- 13 Jungbauer J, Bischkopf J, Angermeyer M. „Die Krankheit hat unser Leben total verändert” - Belastungen von Partnern schizophrener Patienten bei Beginn der Erkrankung. Psychiat Prax. 2001; 28 133-138
- 14 Angermeyer M, Matschinger H, Holzinger A. Die Belastung der Angehörigen chronisch psychisch Kranker. Psychiat Prax. 1997; 24 215-220
- 15 Jungbauer J, Bischkopf J, Angermeyer M. Belastungen von Angehörigen psychisch Kranker - Entwicklungslinien, Konzepte und Ergebnisse der Forschung. Psychiat Prax. 2001; 28 105-114
-
16 Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker e. V. .Thomas-Mann-Straße 49 a, 53111 Bonn, Tel. 0228/632646
- 17 Tarrier N. Some Aspects of Family Intervention in Schizophrenia I: Adherence to Intervention Programmes. British Journal of Psychiatry. 1991; 159 475-480
- 18 Rave-Schwank M, Köhler-Offierski A. Wie können wir den Angehörigen schizophrener Patienten besser helfen?. Psychiat Prax. 1986; 13 166-171
- 19 Rave-Schwank M. Angehörigenarbeit am psychiatrischen Krankenhaus: Ein Erfahrungsbericht. Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis. 1986; 17 157-162
- 20 Harter C, Kick J, Rave-Schwank M. Ergebnisse einer psychoedukativen Depressionsgruppe für Patienten und ihre Angehörigen. Nervenarzt. 2000; 71, Suppl 1 S 96
-
21 Leff J.
Die Angehörigen und die Verhütung des Rückfalls. In: Katschnig H (Hrsg) Die andere Seite der Schizophrenie. München; Urban & Schwarzenberg 1977: 167-178 - 22 Kuipers L, Bebbington P. Expressed emotion research in schizophrenia. Psychological Medicine. 1988; 18 381-403
- 23 Shepherd G, Singh K. Zur praktischen Bedeutung des EE-Konzeptes für die Rehabilitation. Psychiat Prax. 1992; 19 72-75
-
24 Ciompi L.
Zum „Geist von Soteria.” Eine persönliche Reflexion zu drei umstrittenen Fragekreisen. In: Ciompi L, Hoffmann H, Broccard M (Hrsg) Wie wirkt Soteria?. Bern; Huber 2001: 159-181 -
25 Dörner K.
Handwerksregeln für Angehörigengruppen. In: Dörner K, Egetmeyer A, Koenning K Freispruch der Familie. Bonn; Psychiatrie Verlag 1987