Aktuelle Rheumatologie 2002; 27(2): 57-58
DOI: 10.1055/s-2002-25724
Vorwort

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Vorwort

ForwordG.  Neeck1
  • 1G. Neeck, Bad Nauheim
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Publication Date:
25 April 2002 (online)

Schmerz ist ein Leitsymptom der meisten Erkrankungen des Bewegungsapparates. Seine Differenzierung ist ein wesentlicher Baustein in der Diagnosenstellung rheumatischer Erkrankungen. Der Arzt und speziell der Rheumatologe werden in den letzten Jahren aber zunehmend mit Schmerzsyndromen konfrontiert, deren nosologische Einordnungen in klassische Krankheitsbilder schwierig erscheinen. Gleichwohl werden diese Gesundheitsstörungen von einem oft hohen Leidensdruck der betroffenen Patienten begleitet. Aufgrund der erlebten Intensität der Schmerzen einerseits und damit verbundenen Einschränkungen des täglichen Lebens sowie der offensichtlich zunehmenden Häufigkeit dieser Syndrome in den Industrieländern (nur in diesen liegen entsprechende epidemiologische Daten vor) andererseits sind sie ein ernsthaftes Problem im System der Gesundheitsversorgung. Deswegen wurden in den vergangenen Jahren intensive wissenschaftliche Bemühungen unternommen, die Ursachen dieser Schmerzsyndrome zu erforschen.

Sie werden oft von anderen Symptomenkomplexen begleitet, so Störungen der autonomen Funktionen, aber nicht selten auch von psychischen Veränderungen, weswegen eine gewisse Tendenz einer wohl kulturell bedingten Bagatellisierung dieser Leiden auch unter vielen Ärzten besteht. Unter den einzelnen Fachrichtungen sind es vor allem die Rheumatologen neben anderen gewesen, die in den vergangenen Jahren sich besonders intensiv bemüht haben, durch definitorische, aber auch wissenschaftliche Anstrengungen Fortschritte in dem Verständnis dieser Leiden zu erreichen.

Die Zunahme dieser Schmerzsyndrome scheint mit den sich rasch ändernden Lebensbedingungen moderner Gesellschaften in Zusammenhang zu stehen. Populär sind Vorstellungen, dass die enorme Zunahme der Emissionen von verschiedensten neuen chemischen Stoffen in häuslicher und beruflicher Umgebung toxische Wirkungen entfalten, welche für derartige Syndrome verantwortlich sind. Die prinzipielle Möglichkeit solcher Ursachen, die u. a. als Multiple Chemische Sensitivität beschrieben werden, sind der Hintergrund, warum zu diesem Thema in kompetenter Weise Umweltmediziner zu Wort kommen. Nicht minder von Bedeutung sind allerdings psychosoziale Faktoren, welche bei der Schmerzchronifizierung und -ausbreitung wirksam werden. Entsprechend ist ein Beitrag der Bedeutung dieser Faktoren aus psychologischer Sicht gewidmet. Die Vermittlung solcher Faktoren geschieht sicher über biologische Mechanismen im schmerzverarbeitenden System. Entsprechend darf in einer Übersicht zu diesem Thema auch ein Beitrag zu den grundlegenden Mechanismen dieses Systems nicht fehlen.

Die beiden wichtigsten Schmerzsyndrome aus diesem Formenkreis, mit denen vor allem der Rheumatologe konfrontiert wird und die deshalb in diesem Band abgehandelt werden, sind das chronische Müdigkeitssyndrom, bei dem Arthralgien und Myalgien eher begleitend auftreten, und vor allem das Fibromyalgie-Syndrom. Bis heute ist unklar, ob es sich bei der Fibromyalgie um eine Erkrankung peripher des schmerzhaften Bewegungsapparates handelt oder aber ob die Störung im schmerzverarbeitenden System selbst begründet liegt. Nachdem in den 80er und 90er Jahren eher die erste Möglichkeit in der Forschung betont wurde, erscheint heute die zweite Möglichkeit favorisiert. Damit wäre die Fibromyalgie eine zentralnervös lokalisierte Erkrankung des schmerzverarbeitenden Systems im Sinne einer Hyperalgesie oder Allodynie. Diese Sichtweise würde viele ansonsten unklare Befunde dieses Syndroms erklären.

Bereits in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts waren für die Entstehung vieler neuer und die Häufung bekannter Erkrankungen die sich ändernden Lebensumstände des Industriezeitalters vermutet und der Begriff „Stress” geprägt worden als eine uniforme Reaktion vor allem des endokrinen Apparates in der Adaptation auf diese Änderungen. Maladaption sollte danach zu Krankheit führen. Diese Forschungen sind eng mit dem Namen von Hans Selye verbunden. Dieser Ansatz ist heute prinzipiell noch aktuell und findet in moderner psychobiologischer Forschung seine Fortführung. Die Prägungen vor allem unseres neuroendokrinen Apparats haben sich als Anpassungen an jahrtausendewährende Umweltfaktoren gebildet und sie werden heute mit einer sich rasant ändernden Lebenswelt konfrontiert. So waren Hypertonie und die Herz-Kreislauferkrankungen noch im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts relativ selten. Auch die große Zunahme ernährungsbedingter Erkrankungen wie Diabetes ist in hohem Maße historisch für die Masse der Bevölkerung durch eine völlig neue Situation des Nahrungsüberangebotes bedingt. Die dritte große Gruppe moderner Erkrankungen sind die schmerzhaften Erkrankungen des Bewegungsapparates im weitesten Sinn. Änderungen in Belastungsart und -intensität des Bewegungsapparates, psychosozialer Stress mit Auswirkungen im muskulären System sind globale Faktoren, welche die Ausprägung dieser Erkrankungen beeinflussen.

Die Fibromyalgie und verwandte Syndrome als Schmerzerkrankungen des Bewegungsapparates sind eine Herausforderung moderner Forschung und Versorgung. Ihre besondere Bedeutung für die Rheumatologie wird darüber hinaus heute zunehmend evident, indem bei vielen anderen rheumatischen Erkrankungen, auch des entzündlichen Formenkreises, das Fibromyalgie-Syndrom oft begleitend sekundär vorhanden ist und eine entsprechende Differenzierung auch unter therapeutischen Gesichtspunkten essenziell ist.

Prof. Dr. G. Neeck

Kerckhoff-Klinik · Abt. Rheumatologie · Universität Gießen

Ludwigstraße 37-39 · 61231 Bad Nauheim

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