Klin Monbl Augenheilkd 2002; 219(5): 390-391
DOI: 10.1055/s-2002-32640
Nachruf
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Prof. Dr. med. Alfred Bangerter zum Gedenken

Ein Ophthalmologenleben aus Berufung und HingabeIn memoriam Professor Dr. med. Alfred BangerterAn ophthalmologist's lifelong devotion to his missionHch.  Werner
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
02. Juli 2002 (online)

So könnte sicher mancher augenärztlicher Lebenslauf apostrophiert werden. Doch ist Alfred Bangerter hierfür wohl ein besonders eindrückliches Beispiel. Nachdem sich seine Zeit am 22. März dieses Jahres, ein Monat vor seinem 93. Geburtstag, erfüllt hat, blickt man rückschauend ergriffen auf dieses ganz und gar von augenärztlicher Berufung und Hingabe geprägte Lebenswerk und dessen nachhaltige Wirkung. Solcher Leistung liegen wesentlich zwei Qualitäten zugrunde. Einerseits das Erkennen eines bisher auf dem europäischen Kontinent vernachlässigten Problems und andererseits dessen konsequente Umsetzung auf innovativen Wegen der Diagnostik, Therapie und Prophylaxe: Das Problem der Elimination der hochgradigen kindlichen Amblyopie. Die mannigfachen Hürden, die sich solch radikalem Streben unweigerlich in den Weg stellten, waren durch immer neue Initiativen und unermüdliche Informationsarbeit auf allen Stufen zu überwinden. Dieses wie von einem ethischen Feuer angetriebene ruhelose Wirken brachte als Lohn jenen Erfolg, den wir heute schon als selbstverständlich hinnehmen und den der Autor im Gefolge seines 80. Geburtstages dankbar und bescheiden mit der Feststellung quittierte: „Zum Glück gibt es dank Amblyopieprophylaxe nur noch verhältnismäßig wenig betroffene Kinder.” In der Jubiläumsschrift zu seinem 90. Geburtstag kann man's genauer nachlesen: In Schulreihenuntersuchungen bei mehr als 100 000 Kindern der Ostschweiz war von 1951 - 1971 dank Amblyopieprophylaxe ein Rückgang hochgradiger Amblyopie von 2,4 auf 0,3 % festzustellen.

Die Etappen dieses Weges: Alfred Bangerter, geboren am 22. 4. 1909 in einem Arzthaus des bernischen Seelandes, wurde vom beruflichen Schaffen seiner Eltern in seiner ärztlich-ethischen Haltung offenbar von Kind auf zutiefst geprägt. Hat er doch später immer wieder auf die Forderung höchster ärztlicher Verantwortung für den Patienten hingewiesen, nur das Beste für diesen zu leisten, ganz besonders auch dort, wo angeblich „nichts mehr zu machen ist”. Ein frühes Schlüsselerlebnis stand am Anfang seiner speziellen beruflichen Ausrichtung: Die Erfahrung, dass für einen erwachsenen Unfallpatienten der Verlust eines Auges praktisch Erblindung bedeutet, wenn das 2. Auge trotz anatomischer Intaktheit eine frühkindlich unbehandelte (Schiel-)Schwachsichtigkeit aufweist. Einem Patienten nicht helfen zu können wegen vorangegangener therapeutischer Unterlassung, war für Bangerter unerträglich. So führte sein typisches konsequentes Denken und Handeln über Jahrzehnte von Stufe zu Stufe zum Ziel.

Schon während seiner spezialärztlichen Ausbildung an der Berner Augenklinik (Prof. Goldmann) richtete der Assistent (1936 - 1941) und spätere Oberarzt (1942 - 1944) seine erste Sehschule für Diagnostik und Behandlung der kindlichen Schielschwachsichtigkeit ein. Eine wichtige Anregung hierzu schöpfte Bangerter aus England, wo die Tochter von Maddox 1932 die erste orthoptische Ausbildungsstätte gegründet hatte. In der Tat erwiesen spätere Schuluntersuchungen, dass bei jedem 4. Kind eine gestörte Sehfunktion vorlag. Der Eröffnung einer eigenen Praxis in Biel -natürlich kombiniert mit einer Sehschule - folgte 1946 die Ernennung zum Privatdozenten der Universität und die Wahl zum Chefarzt der Augenklinik des Kantonsspitals St. Gallen, einer Berufung, die später von einem dortigen Behördevertreter rückblickend gar als „Sternstunde der Menschheit” bezeichnet wurde. Schon ein Jahr später erfolgte der Aufbau der ersten großen Pleoptik-(= mehr sehen) und Orthoptik-(= richtig sehen) Schule (POS) und Ausbildungsstätte für Orthoptistinnen. Hier eröffnete sich dem angeborenen Tüftler Bangerter ein Arbeitsfeld, wo in Zusammenarbeit mit dem ortsansässigen Optiker Fritz Ryser eine Fülle genial erdachter Geräte entstand, welche das monokulare und binokulare Sehtraining in den Zusammenhang mit den übrigen Körper-, vor allem Sinnesfunktionen stellte. So stand, ähnlich wie in einer modernen Physiotherapie, ein ganzer Park von modifizierten klassischen und Eigenkonstruktionen im Sehschulraum, für die der Erfinder treffende, die Funktion bezeichnende Namen schuf. Beim Nachzählen in besagter Jubiläumsschrift kommt man auf insgesamt 45 Apparate jeglicher Dimension (eingerechnet die Zweit- oder Mehrfachvarianten einzelner Grundtypen), die über die Jahre sukzessive in Gebrauch genommen wurden. Die derart immer differenzierteren Untersuchungsmöglichkeiten führten schließlich zur Unterscheidung von zehn Amblyopieformen mit entsprechend unterschiedlichen Therapiestrategien und beeindruckenden funktionellen Resultaten. Atropinisierung und Einschleichokklusion des guten Auges sind ebenfalls von Bangerter klug erdachte Maßnahmen zum Zwecke der Aktivierung des Sehens am amblyopen Auge. Eine notwendige operative Stellungskorrektur wurde wohlüberlegt in das Schulungsprogramm eingefügt. Indem mobile Equipen den Wirkungsradius der POS über die ganze Ostschweiz ausweiteten, ergab sich die Notwendigkeit einer institutionellen Erweiterung durch Gründung einer ostschweizerischen Genossenschaft mit Neubau der Pleoptik- und Orthoptikschule (OPOS, 1957). Bangerters Hauptreferat am XVIII. Concilium Ophthalmicum in Brüssel 1958 brachte dem inzwischen zum Honorarprofessor avancierten schweizerischen Amblyopieexponenten den internationalen Durchbruch und weltweite Anerkennung. Der kategorische Imperativ zur Vorbeugung der kindlichen Amblyopie durch Früherfassung einer Fehlentwicklung des beidäugigen Sehens in den entscheidenden drei postnatalen Jahren hatte sich durchgesetzt. Auch der Legasthenietherapie eröffnete Bangerter durch den Nachweis, dass oft Binokularstörungen zugrunde liegen, neuen Zugang.

Doch war die St. Galler Augenklinik nicht nur das Mekka der Strabologen, sondern auch dasjenige höchster operativer Kreativität und Finesse, besonders auf dem Gebiet der plastischen Lid- und Tränenwegschirurgie. Der Schreibende durfte solches als Assistent und Oberarzt der Jahre 1950 - 1953 im Operationssaal regelmäßig staunend miterleben. In der Vorbereitung der Wiederherstellung eines deformierten Lides konnte man den Chef in seinem Zimmer eine Wachsmasse knetend antreffen. Es entstand ein genau dimensioniertes Implantatmodell, das ein St. Galler Zahntechniker in gewebefreundlichem Kunststoff prompt zurücklieferte. Aus ostschweizerischer Textilindustrie stammte die feinste Nähseide von Barraquerqualität mit dem einzigen Unterschied, dass die Ordensschwester diese (unter der Lupe?) eigenhändig in das winzige Nadelöhr einfädelte. Instrumenteigenkonstruktionen stellte der St. Galler Feinmechaniker Oertli her. Heute findet man die inzwischen hochentwickelte Gerätefirma Oertli regelmäßig bei den begleitenden Ausstellungen der Augenkongresse.

Die hohe fachliche Publizität Bangerters zu allen seinen Arbeitsbereichen manifestierte sich einerseits in regelmäßigen Vorträgen, Seminaren und Fortbildungskursen, andererseits in einer Großzahl gedruckter Beiträge in nationalen und internationalen Fachzeitschriften sowie einigen Monografien. Aber auch medizinal-politische Sorgen beschäftigten den über seine Grenzen hinausblickenden Ophthalmologen: Mit der Gründung einer medizinischen Akademie in der Ostschweiz gedachte er, der nachteiligen Ärzteabwanderung in den benachbarten Universitätskanton entgegenzuwirken. Zu seinem Leidwesen blieben diese Anstrengungen ohne Erfolg.

Nach Emeritierung Bangerters als Klinikchef (1974) blieb es ihm schließlich schmerzlich versagt „seine” OPOS in entwicklungsgemäß modifizierter Form weiterzuführen. Sein im besten Sinn missionarischer Drang musste neue Wege finden. Dies zunächst in der Gründung der Klinik Rosenberg im appenzellischen Heiden, in welcher neben der Ophthalmologie noch weitere medizinische Sparten integriert waren. Es gab Gründe, dass Bangerter dieses Ärzteteam wieder verließ, um eine Privatpraxis an der St. Galler Rosenbergstrasse zu eröffnen. Bezeichnenderweise erwählte er sich wiederum ein von der damaligen ophthalmologischen Praxis vernachlässigtes, weil keinen Erfolg versprechendes Arbeitsgebiet: Die vor allem altersbedingte Sehschwäche wegen Makuladegeneration. Mit der gleichen beispielhaften Hingabe widmete er sich diesem Problem. Seine kreative Phantasie ließ ihn ein wirkungsvolles Therapieprogramm finden, das einmal mehr St. Gallen, diesmal die 1989 als Tagesklinik anerkannte Praxis, zum Pilgerort von kaum zu bewältigenden Patientenscharen werden ließ. Eine kleine Arbeitsgruppe hat es unternommen, aufgrund des gewaltigen Bestandes an hinterlassenen, sorgfältig geführten Krankengeschichten, die sehr ermutigenden Resultate der präventiven Behandlung der Makuladegeneration nachzuweisen. Bangerter durfte sich freuen, die Entwicklung dieser Arbeit, die zur Publikation vorgesehen ist, noch weitgehend mitzuerleben. Sein größter Wunsch, die Weiterführung der Tagesklinik in seinem Sinne, ist noch zu seinen Lebzeiten von seiner Tochter Christina Maeder hochmotiviert an die Hand genommen worden.

Dem Schöpfer eines derart erfüllten und bahnbrechenden Lebenswerks wurden manche hohe Ehrungen zuteil. Mehr als diese schätzte der Geehrte ohne Zweifel den Dank seiner Patienten, die durch ihn eine Besserung oder Heilung erfuhren, welche nach gängigem Ärzteurteil nicht mehr erwartet werden konnte. Dass ein solches ganz und gar der ärztlichen Berufung gewidmetes Leben bis ins höchste Alter überhaupt möglich war, ist nicht zuletzt in der vollen Unterstützung begründet, die der Verstorbene durch seine Frau und seine Familie im gastfreundlichen Heim stets gefunden hat. Abschließend sei eine hohe Anerkennung an Frau Marlene Helbling-Steidele, langjährige Mitarbeiterin und Cheforthoptistin an der Sehschule St. Gallen ausgesprochen für ihre bereits erwähnte hervorragend redigierte Jubiläumsschrift zu Bangerters 90. Geburtstag. Ohne diese wäre die Abfassung dieses Nachrufs kaum möglich gewesen. Dankbarkeit für das von meinem damaligen Chef mehrfach erfahrene hilfreiche Entgegenkommen im Zusammenhang mit unfreiwilligen Arbeitsunterbrechungen sowie die anschließende jahrzehntelange fachlich-freundschaftliche Verbindung zwischen St. Gallen und Davos bildete für den Schreibenden einen weiteren Grund, Alfred Bangerters ehrend zu gedenken. Wertvolle Unterstützung kam mir zudem von seiner Tochter, Frau Dr. med. Hartmann-Bangerter, Chur, Frau Prof. Dr. med. H. J. Kaiser, Basel, sowie Herrn PD Dr. med. D. Mojon, St. Gallen, zu.

Hch. Werner, Davos

Literatur

  • 1 Helbling-Steidele M. Prof. Dr. med. Alfred Bangerter Leben und Werk. Eine Dokumentation über mehr als 50 Jahre Pionierleistung in der Ophthalmologie. Rorschach; Bodensee-Galerie Verlag 1999