Psychother Psychosom Med Psychol 2002; 52(7): 293
DOI: 10.1055/s-2002-32866
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Falsche Versprechungen, einseitige Darstellungen, konstruktive Erwartungen

Unrealistic Promises, One-Sided Presentations, Constructive ExpectationsFranz  Caspar
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Publication Date:
19 July 2002 (online)

Die alte Vorstellung, dass der Arzt oder Therapeut schon weiß, was für seine Patienten richtig ist, hat ausgedient. Es gibt die Vorstellung des „informed consent”, dass also ein Patient in voller Kenntnis von Wirkungen, Nebenwirkungen und Alternativen einer Behandlung zustimmen muss. Das bedeutet eine nennenswerte Belastung des Behandlers, nicht nur im Gespräch mit dem Patienten. Es bedeutet auch eine Belastung in Bezug auf die Informiertheit des Behandlers selber. So selbstverständlich die gesetzlich verankerte Forderung erscheint, auf dem aktuellen wissenschaftlichen Stand zu therapieren, so schwierig ist es für den Praktiker, sich auf dem Laufenden zu halten. Das illustrieren nicht zuletzt große Anstrengungen zur Aufarbeitung des Wissensstandes, z. B. in Leitlinien.

Rechtlich ist die Zustimmung zur jeweiligen Behandlung durch den Patienten wichtig, v. a. natürlich, wenn das Ergebnis unbefriedigend ist. Gemeint ist dabei nicht nur die Rechtsprechung im engeren Sinn, welche kaum auf den empirischen Erkenntnisstand zur Wirkung von Behandlungen Bezug nimmt. Gemeint ist auch ein naives Rechtsempfinden: Bin ich es einem Patienten, wenn ich ihn trotz möglicher Beeinträchtigung der Urteilsfähigkeit durch seinen psychischen Zustand als erwachsenen Menschen ernst nehme, nicht ohnehin schuldig, ihn über alle Möglichkeiten aufzuklären und dann selber über seine Behandlung entscheiden zu lassen? Wir können die Rechtslage nicht wirklich zum Maßstab unseres Handelns machen. In den USA, aus denen ja einiges an Maßstäben für „richtiges Behandeln” kommt, gibt es das Prinzip der „respectable minority”. Wenn es mir gelingt, sechs Kollegen zu überzeugen, dass eine ziemlich verschrobene Behandlung sinnvoll ist, habe ich diese Minorität zusammen und bin rechtlich geschützt.

Soweit so gut. Vielleicht ließe sich das Problem des Zeitaufwandes und des Informiertseins lösen; nun kommt aber etwas hinzu: Das Erwecken positiver Erwartungen scheint ein wichtiger Faktor für eine erfolgreiche Therapie zu sein, wohl nicht allein für Psychotherapie (Grawe 1998). Der Plazeboeffekt - immer mehr auch als spezifischer Wirkfaktor diskutiert - soll bei psychotherapeutischer ebenso wie medikamentöser Behandlung 30 % des Ergebnisses und mehr erklären, also ganz schön viel im Vergleich zum Effekt, der auf die spezifische Behandlungstechnik zurückgeht! Müssten wir dann nicht versuchen, die positive Erwartung zu maximieren, sind wir nicht auch ethisch und juristisch gegenüber dem Patienten verpflichtet, auch diesen Wirkfaktor maximal zu nutzen? Ist es vertretbar, dass ein Patient die Behandlung gar nicht aufnimmt, abbricht oder mit einem Misserfolg beendet, nur weil wir den Wirkfaktor „Erwecken positiver Erwartungen” nicht optimal genutzt oder gar beeinträchtigt haben?

Genau hier steckt ein Konflikt: Können wir denn noch optimale Erwartungen erzielen, wenn wir erstmal alle möglichen Nebenwirkungen und Alternativen aufzählen? Ist es nicht wichtig, um mit Goethe zu sprechen, „alles zu vergessen, um eines zu tun”? Wie viel Appetit haben Sie noch, wenn Sie bei einem wundervollen Nachtisch erstmal eine Liste der Ingredienzien gelesen haben, auch wenn sich hinter einem „E296”, „E300” oder „E410” nur vergleichsweise Harmloses wie Apfelsäure, Vitamin C oder Johannisbrotkernmehl versteckt?

Es ist ein alter Trick beim Schreiben, erst ein Problem als nach menschlichem Ermessen unlösbar darzustellen, um dann eine geniale Lösung herbeizuzaubern. Ich habe keine wirkliche Lösung für den geschilderten Konflikt „ethisches Handeln aufgrund eines informed consent” vs. „ethisches Handeln durch Wirksamkeitsmaximierung unter Einschluss des Erweckens positiver Erwartungen”. Sicher, man kann eine Balance suchen, die bei jedem einzelnen Patienten wieder etwas anders aussieht. Wenn man Glück hat, hat man es mit Patienten zu tun, bei denen die nüchterne Darstellung von Alternativen und Nebenwirkungen das Zutrauen in die Professionalität des Therapeuten so weit steigert, dass dadurch der Wirkfaktor „Erwecken positiver Erwartungen” annähernd ausgeschöpft wird. Im Übrigen, meine ich, müssen wir mit diesem Paradox, wie mit mehreren anderen, als Therapeuten leben: Die Forderungen nach Konflikt- und Ambiguitätstoleranz als einer der wichtigsten persönlichen Qualitäten von Therapeuten - aber auch nach Kreativität bei Suchen von angemessenen Lösungen im Einzelfall, lassen grüßen!