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DOI: 10.1055/s-2002-33302
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Klapperndes Geschirr
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
08. August 2002 (online)
Der Fall
Der Notarzt wird durch den RTW zu einer krampfenden Person nachalarmiert. Im dritten Stock eines Hinterhauses liegt ein etwa 30-jähriger, magerer Patient auf seinem Bett. Nach Angaben der Rettungssanitäter seien sie von einer Nachbarin alarmiert worden, die unaufhörliches lautes Klappern von Geschirr in der Wohnung gehört hatte. Da der Nachbar nicht geöffnet habe, hätte sie die Feuerwehr angerufen. Bei deren Eintreffen nach gewaltsamer Öffnung der Wohnungstür hätte der Patient bewusstlos, an allen Extremitäten zuckend, auf dem Küchenfußboden gelegen, inmitten verschiedener Töpfe und Schüsseln, deren Rasseln die Nachbarin gehört hatte. Um Verletzungen zu vermeiden, sei er von ihnen auf sein Bett gelegt worden. Kurz nach Sistieren des beobachteten Krampfes sei ein neuer aufgetreten. Daher sei der Notarzt nachalarmiert worden.
Die körperliche Untersuchung ergibt einen bewusstlosen, leicht zyanotischen, ca. 30-jährigen Mann, aus dessen linken Mundwinkel etwas Blut rinnt. An der entsprechenden Zungenseite sind einige Bisswunden zu sehen. Pulsoxymetrisch wird eine Sättigung von 88 % bei gleichzeitiger Sauerstoffinhalation von 15 l O2 über eine Maske ermittelt. Über beiden Lungen sind rasselnde Geräusche wahrnehmbar. Während der Untersuchung setzt ein neuer Krampfanfall ein, eingeleitet von einer Streckung beider Arme, die dann in rhythmisches Zucken übergehen, das dann auch beide Beine ergreift. Noch während dieser erneute Krampf nachlässt, werden zwei Venenverweilkanülen in der Mitte beider Unterarme platziert und darüber Diazepam 10 mg injiziert.
Die Fremdanamnese durch die Nachbarin ergibt lediglich, dass der Patient alleine lebe, weitere Details seien ihr nicht bekannt. Die Inspektion der verwahrlosten Wohnung fördert zahlreiche, meist leere Schnaps- und Weinflaschen zutage. In der Küche finden sich teilweise leere Medikamentenschachteln, mit den Inhaltsstoffen Isoniazid, Rifampicin, Ethambutol, N-Azetylzystein sowie Schmerztabletten mit dem Wirkstoff Azetylsalizylsäure.
Während der Inspektion der Wohnung tritt ein erneuter Krampfanfall auf, der durch die erneute Gabe von Diazepam zu durchbrechen ist. Bei anhaltend rasselnder Atmung entschließt sich der Notarzt zur Intubation, Beatmung und Analgosedierung des Patienten. Anschließend wird dieser in die nahe gelegene Schwerpunktklinik gebracht, wo als erstes ein Computertomogramm des Kopfes durchgeführt wird.
Dabei zeigt sich außer einer mäßigen Hirnatrophie kein weiterer pathologischer Befund, insbesondere keine Blutung.
Während der CT-Untersuchung treten mehrere Krampfanfälle trotz Analgosedierung auf. Daher entschließt sich der begleitende Anästhesist zur Relaxation. Anschließend wird der Patient zur Intensivstation gebracht.
Bei den ersten Laboruntersuchungen fällt in der Blutgasanalyse eine schwere metabolische Azidose mit einem pH von 6,94 auf. Gleichzeitig wird ein stark erhöhtes Laktat nachgewiesen.
Bei der Differenzialdiagnose der Ursache des Krampfstatus werden die vom Notarzt mitgebrachten Tablettenschachteln erneut untersucht. Dabei zeigt sich, dass eine Großpackung von Isoniazid à 200 mg völlig leer ist, hingegen die anderen Verpackungen noch teilweise Medikamente enthalten. Unter dem Verdacht einer Isoniazidvergiftung wird jetzt Blut für spätere Analytik entnommen und dem Patienten anschließend insgesamt 5000 mg Vitamin B6 (Pyridoxin) als Kurzinfusion infundiert. Krämpfe treten in der Folge nicht mehr auf. Nach einem Tag wird mit der Entwöhnung von der Beatmung begonnen; nach einem weiteren Tag ist der Patient ansprechbar und kann schließlich bei akzeptabler Lungenfunktion extubiert werden. Die sich anschließende Exploration ergibt, dass er seit Monaten eine tuberkulostatische Dreifachtherapie einnehme, nachdem er zuvor wegen einer Lungentuberkulose mehrere Wochen in einer Lungenklinik behandelt worden sei. Wegen dieser Erkrankung und seiner chronischen Alkoholkrankheit sei er schließlich arbeitslos geworden und habe in suizidaler Absicht versucht, alle verordneten Medikamente auf einmal einzunehmen.
Das Ergebnis der später eintreffenden toxikologischen Analyse ergibt eine stark erhöhte Isoniazidkonzentration; Azetylsalizylsäure wird nicht nachgewiesen; Ethambutol liegt im therapeutischen Bereich.
Priv.-Doz. Dr. Frank Martens
Charité · Campus Virchow Klinikum · Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin · Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin
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eMail: frank.martens@charite.de