Suchttherapie 2002; 3(3): 133-134
DOI: 10.1055/s-2002-34319
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Editorial

EditorialHeino Stöver1 , Axel Heinemann2
  • 1Universität Bremen, Bremer Institut für Drogenforschung, (BiSORO) FB 06, ARCHIDO
  • 2Institut für Rechtsmedizin der Universität Hamburg
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Publication Date:
25 September 2002 (online)

Was sind die Leitlinien medizinischer und psychosozialer Versorgung im Gefängnis: Woran haben sich diese Hilfen zu orientieren? Ein zentraler Grundsatz, Gegenstand vieler internationaler Kongresse, Resolutionen und Empfehlungen, ist das Äquivalenzprinzip, d. h., die medizinischen und psychosozialen Standards innerhalb sollen denen außerhalb des Vollzugs angepasst werden. Die WHO beispielsweise hat in den allgemeinen Grundsätzen ihrer Richtlinien zu „HIV-Infektion und AIDS im Gefängnis” ausgeführt: „Alle Gefangenen haben ein Recht auf Gesundheitsfürsorge, einschließlich vorbeugender Maßnahmen, das derjenigen in der Allgemeinbevölkerung entspricht und Diskriminierung vermeidet, dies insbesondere im Hinblick auf ihren rechtlichen Status und ihre Nationalität” (WHO 1993). Der Europarat hat sich ebenso geäußert (Council of Europe 1993). Auch die European Prison Rules, die neueste Fassung der „Minimalen Standardbestimmungen der Vereinten Nationen” enthalten diesen Kernsatz, ebenso wie Resolutionen, wie z. B. des International Council of Prison Medical Services 1996: „Die medizinische Betreuung in Gefängnissen sollte mindestens gleich gut wie außerhalb der Gefängnisse sein ...” (vgl. Bolli 1996, S. 4).

Angleichung an erprobte, bewährte und somit erfolgreiche Arbeit draußen sollte also die normative Leitlinie für die „Gesundheitspolitik und -praxis” im Strafvollzug sein. Gesundheitliche Verbesserungen für die Gefangenen sind auf dieser Grundlage anzumahnen und durchzusetzen. Doch wie steht es mit der Effektivität der Gesundheitsdienste und konkret der Hilfen für drogenabhängige Straftäter? Was wissen wir über den Gesundheitszustand der Gefangenen, was über den der Bediensteten - was angesichts der vielen Fehltage in dieser Berufsgruppe ebenfalls gefragt werden muss? Welche Studien gibt es grundsätzlich über den Zusammenhang von Freiheitsentzug, einschränkender physischer Realität und Gesundheit? Welche Auswirkung hat die Organisation der Gesundheitsdienste (Vertragsärzte von draußen oder Anstaltsärzte) auf deren Inanspruchnahme und auf das Arzt-Patient-Verhältnis - wird es aufgrund der nicht vorhandenen freien Arztwahl als „Zwangsverhältnis” wahrgenommen? Wie steht es mit dem legalen und illegalen Drogenkonsum: Kann erzwungene Abstinenz durchgehalten werden oder wird das Konsummuster deformiert und bleibt risikobehaftet in und kurz nach der Haft? Welches Wissen haben Gefangene über drogenkonsumbedingte Risiken, aber auch: Welche Kompetenzen haben sie?

Antworten auf diese Fragen können auch in diesem Heft nur bruchstückhaft und für Teilbereiche der Suchtproblematik gegeben werden, beispielsweise können wir die Situation von Gefangenen mit Alkoholproblemen in diesem Rahmen nicht näher beleuchten.

Die Forschung auf dem Sektor der Suchtkrankenhilfe in „totalen Institutionen” wird bis auf wenige Ausnahmen kaum gefördert, das föderale System trägt nicht gerade zu einem Gesamtüberblick bei, die Transparenz der Gesundheitsversorgung ist gering - Qualitätssicherungsmaßnahmen greifen nur zum Teil. Es gibt wenig aggregierte und mit Informationssystemen über kommunale Suchthilfestrukturen vernetzte Daten, so dass wir geneigt sind, von einer „Prison Health” und einer „Public Health”-Diskussion zu sprechen.

Die Autoren dieses Hefts bemühen sich gleichwohl um einen Über- und Durchblick: über die Drogenhilfe im Vollzug allgemein, deren (Struktur-)Probleme und Fallstricke. Vor allem geht es uns am Beispiel des Umgangs mit Drogenkonsum und Infektionskrankheiten darum, die Gesundheit eines großen Teils der Gefangenen (etwa 20 %) zu thematisieren und die Hilfemaßnahmen auf Angemessenheit zu untersuchen. Weil der Anteil der KonsumentInnen legaler wie illegaler Drogen im Strafvollzug seit Jahren steigt, muss auch das Prinzip der Äquivalenz umgesetzt werden: Die Differenzierung der Drogenhilfe außerhalb muss im Gefängnis ihre Entsprechung finden.

Einzelne Beiträge befassen sich vor allem mit der Schnittstelle von drinnen und draußen: Haftentlassung und das hohe Mortalitätsrisko; anderen Beiträgen geht es um die Infektionsrisiken in Haft (mit HIV/AIDS und Hepatitiden) und geeignete Präventionsmaßnahmen. Untersucht werden auch die traditionell abstinenzorientierten Angebote für Gefangene, die sich verpflichten, in der Anstalt drogenfrei zu leben.

Allen Beitragenden geht es im Kern um eine Erhöhung der Kompetenzen der Gefangenen angesichts der Tatsache, dass oftmals eine Ressourcenverringerung stattfindet - mit all ihren Symptomen von Unselbstständigkeit, Lethargie, Depressionen, Interessen- und Mutlosigkeit, Passivität. Die totale Institution ‚Gefängnis’ muss als überwiegend ressourcenverringernd begriffen und Formen der Ressourcenförderung und der erweiterten Handlungskompetenz müssen erarbeitet werden.

Fachliche Diskussion und Praxis der Gesundheitsförderung (erprobt in Schulen, Krankenhäusern, Städten) könnten als eine Vorlage dienen, auch die Lebens- und Gesundheitsbedingungen Gefangener und der im Strafvollzug Beschäftigten zu überprüfen. Keppler macht in seinem Beitrag über den Wandel von der „Gefangenenfürsorge zur Gesundheitsförderung” deutlich - ausgehend von der Erkenntnis, dass Gesundheit mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit -, dass nämlich für die Stärkung protektiver Faktoren die jeweiligen Lebens-, Arbeits-, Lern- und hier die Vollzugsbedingungen mit berücksichtigt werden müssen. Das umfasst neben der Einbeziehung der spezifischen Lebens- und Arbeitsbedingungen im Gefängnis auch die materiellen, baulichen, personellen, kommunikativen und kooperativen Gegebenheiten des Gefängnisses. Ein systemischer Blick auf das Gefängnis ist gefordert, der lebensweltbezogen, fächerübergreifend und kontextorientiert Lebensqualitäten unter den gegebenen Bedingungen des Freiheitsentzugs weiterentwickeln hilft. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass eine Diskussion von ‚Healthy Prisons’ von mehreren Disziplinen geführt werden muss: Erkenntnisse aus Sozial-, Gesundheits-, Politik- und Rechtswissenschaften müssen miteinander verbunden werden, um die Bedingungen und Entwicklungspotenziale einer Gesundheitsförderung im Gefängnis zu analysieren. Gelingt in Zukunft keine intensivierte Vernetzung von Public Health und Prison Health-Programmen, werden wir nicht in der Lage sein, die Ineffizienz des gesamten Versorgungssystems wahrzunehmen und wirksam zu mindern - eine Ineffizienz, die durch die - je nach Perspektive - einseitige Ausblendung des jeweils anderen Teils der Lebenswirklichkeit vieler zwischen den Räumen fluktuierender Drogengebraucher entsteht.

Dr. Heino Stöver

Universität Bremen, Sucht- und Drogenforschung, FB 06, ARCHIDO

Postfach 330 440

428334 Bremen