PiD - Psychotherapie im Dialog 2002; 3(3): 298-304
DOI: 10.1055/s-2002-34538
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Vergangenheit und Zukunft der Psychosen-Psychotherapie

Helm  Stierlin, Jochen  Schweitzer
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
09. Oktober 2002 (online)

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PiD: Wie sah die Behandlung schizophrener Patienten zu Beginn deiner psychiatrischen Laufbahn aus?

H. Stierlin: Meine psychiatrische Laufbahn begann 1954 an der Universitätsklinik in München. Damals waren Neurologie und Psychiatrie noch nicht getrennt, was bedeutete, dass in den großen Sälen dieser Klinik neurologische Patienten z. B. mit Multipler Sklerose und schizophrene Patienten gemeinsam untergebracht waren.
Die Behandlung beschränkte sich in der Regel auf Sedierung mit den gebräuchlichen Schlaf- und Beruhigungsmitteln. Darüber hinaus gab es Elektroschockbehandlung und auch Insulinschockbehandlung sowie kontrollierende Maßnahmen. Die damalige Situation war ganz anders als die heutige - man sah viele aufgeregte, verstörte Patienten; es war immer etwas los. So bekam man einen Eindruck von der enormen Bandbreite möglicher Verrücktheit. Heute sieht das in allen Ländern, die ich kenne, anders aus: Selbst in China und Neuseeland sieht man auf psychiatrischen Stationen jetzt überwiegend relativ gedämpfte, ruhige Patienten. Es gibt immer noch einige Patienten, die so ein bissel spinnen - paranoid sind -, aber durch die Neuroleptika-Behandlung hat sich eine enorme Änderung vollzogen.

PiD: Gab es denn damals schon eine Frühform von Psychotherapie?

H. Stierlin: Über psychotherapeutische Ansätze kann ich wenig sagen. Selbst hysterische Patienten - und davon gab es damals viele - wurden mit schmerzhaften Elektrotherapien behandelt. Man wollte ihnen mit diesen Zwangsmaßnahmen die Hysterie regelrecht austreiben. Freud war zwar schon bekannt, aber er wurde von den führenden Psychiatern, einschließlich Jaspers, weitgehend abgelehnt.

PiD: In den Landeskrankenhäusern blieben die Patienten ja zum Teil jahrzehntelang. War das an den Unikliniken anders?

H. Stierlin: Die Unikliniken hatten eine relativ geringe Kapazität. Wenn sich bei einem Patienten eine Chronifizierung abzeichnete, wurde er an die Landeskrankenhäuser überwiesen. Die Patienten wurden dort dann zum Beispiel mit Gartenarbeit beschäftigt. Wenn ein Oberarzt im weißen Kittel vorbeimarschierte, grüßten sie ehrfürchtig. Diese Situation ist heute kaum mehr nachzuvollziehen.

PiD: Du bist Mitte der 50er-Jahre in die USA gegangen - in Einrichtungen, die damals schon als psychotherapeutisch relativ avanciert galten. Kannst du die dortige Situation, die Einstellung Psychosen gegenüber und die Therapiepraktiken schildern?

H. Stierlin: Ja, ich ging 1955 in die USA und arbeitete zunächst zwei Jahre im Sheppard Ennoch Pratt Hospital in der Nähe von Baltimore. Das war ein psychiatrisches Privatkrankenhaus - eines der ältesten Amerikas - mit damals ungefähr 250 Patienten. Danach wurde ich von Chestnut Lodge, in Bethesda, angestellt, das damals als das Mekka der psychoanalytisch orientierten Psychosetherapie galt.

Die Situation in den USA war für mich ganz erstaunlich. Psychotherapie war bereits „in”. Ich betreute als junger Assistenzarzt etwa ein Dutzend Patienten, mit denen ich Gespräche führte. Einmal pro Woche bekam ich Supervision. Es war also ein völlig anderes Klima, das mich wirklich vom Hocker riss. Diese Aufgeschlossenheit und Lockerheit kannte ich aus Deutschland nicht. Diese besondere Atmosphäre am Sheppard Ennoch Pratt Hospital hatten wir nicht zuletzt dem Einfluss des Psychiaters Harry Stack Sullivan zu verdanken, der dort vor meiner Zeit Direktor gewesen war.

PiD: Wie erklärst du dir diese Unterschiede zwischen Deutschland und den USA?

H. Stierlin: In Deutschland hatten wir eine Psychiatrie, die in mehrerlei Hinsicht kompromittiert war. So war sie durch die Naziverbrechen vieler Psychiater geprägt, die später zum Teil noch hohe öffentliche Stellungen bekleideten. Sie war aber eben auch geprägt durch eine sehr autoritäre, medizinisch-biologische Einstellung gegenüber den Patienten. Und das war in Amerika ganz anders. In den USA war durch den Einfluss Sullivans, aber auch durch viele andere Einflüsse und durch das dortige demokratische Klima, Offenheit für viele unterschiedliche Ansätze da. Und das spiegelte sich auch in diesen beiden Spitälern wider, die zur damaligen Zeit mit zu den fortschrittlichsten Amerikas zählten.

PiD: Sullivan wird ja als eine Pionierfigur der Psychosen-Psychotherapie angesehen. Kannst du ihn näher beschreiben?

H. Stierlin: Sullivan habe ich nicht mehr persönlich kennen gelernt, aber seine Persönlichkeit blieb für mich in vielerlei Hinsicht präsent, nicht zuletzt durch die Zeitschrift Psychiatry, die er begründet hatte. Um Sullivan rankten sich viele Geschichten, etwa dass er in einem speziellen Gebäude für adoleszente schizophren Erkrankte kein weibliches Personal zuließ. Es gab dort nur männliche Pfleger. Sullivan meinte, weibliches Personal hätte die jungen Männer zu sehr aufgeregt.
Er führte die soziopsychologische Perspektive in Amerika ein beziehungsweise begründete sie sehr stark mit. Er wurde bekannt durch den Ausspruch: „We are much more human than otherwise”, also „Wir sind viel mehr menschlich als alles andere”. Und das gilt auch für die Schizophrenen. Diese Einstellung charakterisiert Sullivan als einen teilnehmenden Beobachter, der sich bemühte, auch die verrückte Welt des Schizophrenen zu verstehen. Dies im Gegensatz zum distanzierten Beobachter, der, unter anderem bestärkt durch Karl Jaspers, davon ausgeht, dass die Symptome des Schizophrenen prinzipiell unverständlich sind. Da klaffte ein Abgrund der Unverstehbarkeit, der praktisch jeden psychotherapeutischen Versuch ausschloss. In Amerika galt dagegen die Prämisse, dass auch Schizophrene durchaus verstehbar sind, wenn man sich nur genug Mühe gibt und einen geeigneten Bezugsrahmen findet.

PiD: Weißt du etwas darüber, wie Sullivan mit seinen Patienten gearbeitet hat?

H. Stierlin: Ja, doch die Erzählungen boten ein sehr widersprüchliches Bild. Auf der einen Seite zeigte er sich sehr einfühlsam, auf der anderen Seite auch als sehr autoritär. Er muss etwas sehr Provozierendes an sich gehabt haben. Frauen gegenüber schien er nicht besonders freundlich eingestellt gewesen zu sein. Man sagte ihm auch eine latente homosexuelle Neigung nach. Er hat nie geheiratet, jedoch einen Sohn adoptiert. Er war eine schillernde, legendäre Gestalt, von der mir immer wieder etwas anderes erzählt wurde.

PiD: Heute beruft sich die interpersonale Therapie, nicht zuletzt in der Depressionsbehandlung, gelegentlich auf Sullivan. Und ein Fragebogen von Horowitz und anderen, das Inventar interpersonaler Probleme, stützt sich ebenfalls auf ihn. Kannst du noch etwas zu seinem geistigen Erbe sagen?

H. Stierlin: Er hat sich auf verschiedene Weise fortgepflanzt, einmal natürlich durch das Journal und seine Aufsätze und sein Buch „Concepts of Modern Psychiatry”. Dieses Buch hat mich beflügelt, nach Amerika zu gehen und auf Sullivans Spuren zu wandeln.
Sullivan wird von vielen Systemikern, z. B. von Jay Haley, als ein Vorläufer der systemischen Therapie angesehen. Interessant ist auch, dass z. B. Don Jackson, der ebenfalls in Chestnut Lodge arbeitete und sich ständig mit Sullivan auseinander setzte, meinte, er sei nicht weit genug gegangen. Frieda Fromm-Reichmann ist ebenfalls sehr stark durch Sullivan beeinflusst. Sie gibt drei Lehr-Väter an, nämlich Freud, Goldstein und Sullivan. Viele Therapeuten, mit denen ich zu tun hatte, bezeichneten sich als Schüler von Sullivan.

PiD: Damit sind wir bei der zweiten Pionierfigur der Psychosen-Psychotherapie: Frieda Fromm-Reichmann, die in Deutschland durch ihr Buch „Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen” sehr bekannt geworden ist. Was war sie für ein Mensch?

H. Stierlin: Ich hatte das Glück, Frieda Fromm-Reichmann noch kennen zu lernen, ein knappes Jahr, bevor sie plötzlich gestorben ist. Ich war beeindruckt von dieser Power, die von dieser relativ kleinen, energischen Frau ausging. Sie war eine Zeit lang mit Erich Fromm verheiratet und leitete hier in Heidelberg ein Institut, neben unserem Mönchhofstraßen-Institut. In Chestnut Lodge wurde sie sozusagen die Mentorin schlechthin und bewohnte ein eigenes Haus, das sich Frieda Fromm-Reichmann-Haus nannte. Dieses Haus war der geistige Mittelpunkt von Chestnut Lodge. Damals erschien ihr Buch „Principles of Intensive Psychotherapy” in immer neuen Auflagen. Im Wesentlichen vertritt sie darin die Position, dass schizophrene Symptome verstehbar sind, analog zu den neurotischen Symptomen, die Freud beschrieben hat. Wenn man sich nur genug Mühe gibt, dann sieht man auch die schizophrenen Symptome als Ausdruck und Folge von Versuchen der Konfliktbewältigung, von Abwehrmechanismen usw.

PiD: Wie hat sie therapeutisch gearbeitet?

H. Stierlin: Sie hat offenbar sehr mit Überraschungseffekten gearbeitet und dabei eine sehr intensive persönliche Beziehung zu ihren Patienten hergestellt. Es gab das geflügelte Wort bei Supervisoren: „Now you have to pull a Frieda Fromm-Reichmann”, das hieß, man sollte irgendetwas Überraschendes, Provokatives sagen. Ein Beispiel für ihre Schlagfertigkeit ist die Geschichte, die ich aber auch nur durch Hörensagen kenne, dass einer ihrer männlichen Patienten einmal eine Pistole auf sie richtete und sie offenbar in der Sitzung erschießen wollte, und sie dann sagte: „Was soll der Quatsch, Sie haben doch schon eine Pistole mehr als ich, können wir das nicht sein lassen?” Woraufhin dieser Patient offenbar völlig baff war und mit ihr weitergearbeitet hat.

PiD: Frieda Fromm-Reichmann wird das Konzept der schizophrenogenen Mutter zugeschrieben. Wie kam sie darauf, und wie ist dieses Konzept damals aufgenommen worden? Wir wissen, dass dieses später bei den Angehörigenverbänden sehr kritisiert wurde. Wie ist deine Haltung zu diesem Konzept, das die öffentliche Diskussion lange Zeit bestimmt hat?

H. Stierlin: Dazu ist erst einmal anzumerken, dass sie selbst diesen Begriff nur relativ beiläufig erwähnt hat. Er wurde nicht zu einem Zentralbegriff für sie. Er leitete sich von Beobachtungen her, die sie an verschiedenen Müttern von Schizophrenen gemacht hat. Diese erlebte sie als besonders eindringend, bedrängend, klammerig, konfusionierend usw. Solche Mütter gibt es natürlich, die habe ich auch kennen gelernt. Der Begriff wurde dann von Schülern oft aufgegriffen; z. B. benutzte ihn Lewis B. Hill in seinem Buch, das ich damals ins Deutsche übersetzt habe, sehr oft.
Man kann es als Friedas Verdienst ansehen, das interpersonelle Szenario mit einbezogen zu haben, denn bis dahin war der Fokus der Beobachtung und Behandlung fast ausschließlich auf der innerpsychischen Dynamik schizophrener Patienten. Dass sie diesen unglücklichen Begriff eingeführt hat, ist sozusagen ein Nebenprodukt dieser Hinwendung zum interpersonellen Feld, was dann ja auch zu sehr vielen Problemen und Missverständnissen geführt hat, die letzten Endes der Familientherapie geschadet haben.

PiD: Ein anderer, sehr prominenter Begriff aus der Frühzeit ist die Double-Bind-Hypothese der Bateson-Gruppe. Wie siehst du aus heutiger Sicht die Vor- und Nachteile dieses Konzepts?

H. Stierlin: Bateson selbst hat dieses Konzept noch zu Lebzeiten relativiert. Er meinte später, es könnte ein Mitfaktor sein in der Entstehung einer schizophrenen Störung; aber Double-Binds kommen, wie er zunehmend erkannte, auch in vielen anderen menschlichen Zusammenhängen vor, so bei Kreativität, Humor usw. Ich glaube, dieses Konzept war wichtig, weil es den Blick auf die Kommunikation Schizophrener richtete und uns für das sensibilisierte, was ich dann als Beziehungsfallen übersetzt habe, die durch eine unklare und verwirrende Kommunikation gekennzeichnet ist. Bateson hat hier, obgleich er selbst kein Psychiater war und eigentlich relativ wenig Kontakt mit Schizophrenen hatte, doch eine neue Dimension des Verständnisses erschlossen.

PiD: Der Prozess der Entwicklung und Ausdifferenzierung der Familientherapie von Schizophren fällt vor allem in die 50er- und 60er-Jahre. Was waren die Marksteine?

H. Stierlin: Die 50er- und 60er-Jahre waren die Zeiten des Zenits der analytisch orientierten Therapie. Die prominentesten Lehrstühle in den USA waren damals von Analytikern besetzt, was dazu führte, dass etwa zwölf Prozent aller Medizinstudenten Psychiater werden wollten. Sie waren von der Magie der Analyse angezogen.
Dann kam im Laufe der 60er-Jahre die Desillusionierung. Einen Hauptanstoß dazu gab ein ehemaliger Chestnut Lodge-Psychiater, Tom McGlashen, der eine Verlaufsstudie mit - man kann schon sagen - miserablen Resultaten veröffentlichte. McGlashen empfahl daraufhin sogar Elektroschocktherapie, weil er völlig desillusioniert war. Seine Aufsätze, die damals viel Furore machten, erschienen in der Zeitschrift „Archives of General Psychiatry”. Sie haben wie kaum andere Arbeiten dazu geführt, dass der psychoanalytische Zugang, aber auch überhaupt psychotherapeutische und psychosoziale Zugänge zu Psychosen in Verruf gerieten und durch eine Hinwendung zur neurobiologischen Sicht fast verdrängt wurden.

PiD: Nun waren die 60er-Jahre auch die Zeit, in der die damals neuartigen Community Mental Health Centers entstanden. Haben diese neuen Settings eure Arbeit in der Psychotherapie der Psychosen beeinflusst?

H. Stierlin: Es gab eine Aufbruchsstimmung und großen Optimismus. Es war auch viel Geld da. Man konnte alles versuchen und hoffnungsvoll forschen, um das Rätsel der Schizophrenie zu lösen. Es war damals eine Zeit, in der - angestoßen durch Begriffe wie schizophrenogene Mutter, aber auch durch die Studien von Theodor Lidz am Yale Psychiatric Institute - immer mehr die Familiendynamik in den Mittelpunkt des Forscherinteresses rückte.
Lyman Wynne hat damals im Raum Baltimore und Washington alle Psychiater angeschrieben, sie sollten Familien zur unentgeltlichen Kontaktaufnahme und möglicherweise auch Behandlung schicken, von denen sie - die Psychiater - selbst überzeugt waren, dass es normale Familien seien. Das war das Ausgangssample. Und mit diesen Familien wurden dann eine Menge Interviews durchgeführt. Dabei bestätigte sich der Verdacht, dass in diesen Familien in der Tat etwas mit der Kommunikation im Argen lag.
Daraufhin erarbeiteten Wynne und Singer ein Testdesign, um diese Kommunikationsstörung genauer zu erfassen. Dazu wurde der Rohrschach-Test von Singer umfunktioniert in einen Test zur Erfassung der Klarheit oder Unklarheit der Kommunikation. Der Rohrschach-Test bietet sich ja an, rumzuschwafeln: Ein Bild legt zum Beispiel eine Fledermaus nahe. Wenn dann der Betrachter sagt: „Wenn ich das so anschaue, könnte es eine Fledermaus sein, könnte aber auch keine sein, vielleicht flattern Fledermäuse so rum, dass sie sich so zeigen, vielleicht aber auch nicht”, dann ist das eine abschweifende, etwas verwirrende Weise zu antworten, die als Kommunikationsabweichung eingestuft würde.
Der Rohrschach-Test stellt eine Herausforderung dar, einem Gegenüber eine relativ klare Realitätskonstruktion zu schaffen, dabei einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus zu errichten und sich auf die Wellenlänge des anderen einzustellen. Abweichungen davon kann man als Kommunikationsabweichungen bezeichnen, von denen Wynne und Singer zuerst 94 diagnostizierten. In einem Manual begrenzten sie dann deren Zahl auf 42.
In den 60er-Jahren habe ich die vier entscheidenden Ansätze, die zunächst in der Zeitschrift „General Archives” erschienen sind, auch auf Deutsch in einem Sonderheft der Zeitschrift „Psyche” herausgebracht. Dort liefere ich auch viele Beispiele für solche Kommunikationsabweichungen. So etwa Beispiele für Fokusverschiebung, für „verrückt quatschen”, für „vage bleiben”, für provokatives Infragestellen usw. Das halte ich immer noch für eine der eindrucksvollsten Forschungen im Psychiatriebereich. Ich halte sie auch deswegen für eindrucksvoll, weil Wynne und Singer aufgrund dieser Rohrschachtest-Ergebnisse, die bei den Eltern erhoben wurden, in der Folge Voraussagen dahingehend gemacht haben, ob und in welcher Form eine Schizophrenie bei einem erwachsenen Kind vorliegen würde.
Singer kannte nur das Geschlecht, das Alter und die Zahl der Kinder, mehr nicht. Es waren, glaube ich, 32 solcher Familien. In 30 Fällen hat sie die Diagnose korrekt vorausgesagt.

PiD: Ist das später noch einmal untersucht worden?

H. Stierlin: Natürlich, Singers und Wynnes Forschungen haben damals in der psychiatrischen Welt sehr viel Aufsehen erregt, und es kam auch bald zu Nachuntersuchungen, die indessen deren Ergebnisse nicht bestätigten. Ich war selbst bei mehreren größeren psychiatrischen Kongressen dabei, an denen die Widerleger zu Wort kamen. Meine persönliche Meinung ist, dass die Widerleger es sich zu leicht gemacht haben. Denn man erhält solche Kommunikationsabweichung eigentlich nur, wenn man den Probanden viel Zeit lässt, damit sie sich sozusagen selbst als Kommunikationsabweicher „outen” können. Wenn man die Zeit für Antworten sehr kurz bemisst, bekommt man diese Kommunikationsabweichungen nicht. Doch die Widerleger setzten sich in der Szene durch, und die Forschungarbeiten von Wynne und Singer sind marginalisiert worden.

PiD: Somit haben diese Arbeiten ein anderes Schicksal genommen als die Forschungen zu den Expressed Emotions.

H. Stierlin: Ja. Der Expressed-Emotions-Ansatz war immer von der Annahme ausgegangen: Hier liegt eine Krankheit vor, die organisch bedingt ist und die sich in einer nervlichen Übererregung bekundet. Dadurch blieb die Frage nach der Schuld ausgeklammert. Ein wichtiger Aspekt der sich davon ableitenden Therapie war, dass man Gruppensitzungen mit Familien einführte, die ein ähnliches Schicksal teilten und sich dadurch gegenseitig bestätigt fanden. Das hatte für mein Gefühl einen enormen therapeutischen Effekt. Hinzu kam die Befreiung von impliziten Schuldzuweisungen.

PiD: Wir kommen damit allmählich zu den Kontroversen, die die 80er-Jahre kennzeichneten. Damals hast du mit Kollegen im von dir geleiteten Universitätsinstitut sehr intensiv die Familientherapie bei manisch Depressiven, bei schizoaffektiven und bei schizophrenen Psychosen betrieben und untersucht. Was war neu daran?

H. Stierlin: Wir gingen dem Rätsel Schizophrenie in einem neuen Setting nach. Es gab bereits auf der einen Seite das Setting der analytischen Zweierbeziehung und auf der anderen Seite das Setting, in dem die Familien vornehmlich Forschungsobjekte waren. Aber ich glaube, wir waren die erste Gruppe weltweit, die hier in einer Kombination mit Forschung und Therapie etwas therapeutisch zu bewirken suchte: Wir studierten die Interaktionen der Familienmitglieder und versuchten gleichzeitig, Strategien zu entwickeln, die hier etwas Gutes bewirken konnten. Und vor allem: Wir öffneten uns nicht nur für die möglichen pathologischen Aspekte der Kommunikation in der Familie, sondern auch für die darin liegenden Ressourcen.
Wir gingen davon aus, dass hier etwas schiefgelaufen war, dass dabei aber auch sehr viel guter Wille im Spiel war, dass es also völlig verfehlt und kontraproduktiv war, irgendwie von einer Schuld auszugehen trotz und wegen der Tatsache, dass sich viele Familienmitglieder durch Schuld belastet zeigten. Und das hat, glaube ich, bewirkt, dass wir in Heidelberg nie Schwierigkeiten hatten, Familien zu gewinnen, und eigentlich, wie ich es im Rückblick sehe, mit allen Familien, mit denen wir gearbeitet haben, eine kooperative, konstruktive Beziehung aufbauen konnten. Gerade weil wir primär auf die Ressourcen in diesen Familien geschaut haben, anstatt vor allem nach Defekten oder Problemen in der Beziehung und in der Kommunikation zu suchen.
Bei solcher Einstellung zeigten sich uns Psychosen auf unterschiedliche Weise als Ausdruck und Folge von Dilemmata und von Zwickmühlen, in die Menschen besonders dann hineingeraten, wenn neue Phasen im Prozess der bezogenen Individuation - das ist mein Zentralbegriff - fällig werden. Es geht darum, hier eine neue Balance bzw. Versöhnung zu finden. So geht es vor allem um Innovation und Abgrenzung bei gleichzeitigem Erhalt und gleichzeitiger Veränderung der Beziehung zum existenziell bedeutsamen Zugehörigkeitssystem, was in der Regel die Familie ist. Dann müssen wir uns erinnern, dass die meisten schizophrenen Episoden zum ersten Mal in der späten Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter auftreten. Das sind auch die Zeiten, in denen fällige Individuationsprozesse unvermeidbar werden, die typischerweise mit Konflikten der Loyalitäten und mit Ablösungsängsten einhergehen, die dramatische Formen annehmen und sich nun auch in schizophrenen Symptomen zeigen können. Was dann auch zur so genannten Exkommunikation führen kann, die Arnold Retzer so gut beschrieben hat. Exkommunikation bedeutet hier unter anderem: Die Betroffenen werden eher als krank beschrieben. Das kann von den Beteiligten eine große Schuld nehmen. Aber es führt auch dazu, dass deren Möglichkeiten, aktiv und eigenverantwortlich auf das psychotische Verhalten und Erleben Einfluss zu nehmen, reduziert werden. Es ergibt sich also ein komplexes Szenario, nicht zuletzt auch durch die Einführung der neueren Neuroleptika. Zu deren Bewertung ergeben sich dann viele weitere Fragen und Probleme, die sich in diesem kurzen Interview nicht einmal andeuten lassen.

PiD: Aber greifen wir doch einmal ein Problem auf: Wie stehst du denn als systemischer Familientherapeut zur Frage der Neuroleptika-Medikation?

H. Stierlin: Ich müsste sehr blind sein, um nicht den Wert der Behandlung mit Neuroleptika und besonders der neueren, atypischen Neuroleptika anzuerkennen, weil sie sehr viel Leid vermeiden helfen. Was aber auch berücksichtigt werden muss, sind ihre Neben- und Dauerwirkungen! So die Spätdyskinesien vor allem bei den älteren Neuroleptika. Oder zum Beispiel auch, dass sich Patienten nun überessen. Also wenn Neuroleptika angewendet werden, dann in einer möglichst kleinen Dosis. Und es sollte auch immer wieder überprüft werden, ob die Medikamentengabe noch nötig ist.
Eine systemische Therapie mit der Familie oder selbst mit einem Einzelnen ist bei gleichzeitiger Behandlung mit Neuroleptika sehr problematisch. Wenn man in einer Familie etwa einen jungen Mann sieht, der sich sehr gedämpft zeigt, dann weiß man nicht: Ist dieses Sich-gedämpft-Zeigen Ausdruck und Folge seines Bemühens, um mit dem, was er als die ihn bedrängenden Manöver seines Vaters wahrnimmt, umzugehen, oder ist es Ausdruck und Folge der Medikamente?
Solche Fragen kann man nur stellen, wenn man eine Metaposition gegenüber den Medikamenten einnimmt. Und ich glaube, wir waren in Heidelberg sehr bevorzugt, dass das bei uns möglich war, da die psychiatrische Betreuung, was Medikamente und Hospitalisierung anbelangt, in anderen Händen lag. Dabei hatten wir eine gute Beziehung zu diesen Psychiatern. Aber sie blieben draußen und trafen ihre Entscheidungen nur aufgrund ihrer persönlichen Einschätzung der Situation. Das ist, wenn man heute die psychiatrische Szene ansieht, kaum gegeben und kaum möglich.

PiD: Eben. Kannst du jenen, die in einer psychiatrischen Ambulanz, auf einer psychiatrischen Station oder auch als niedergelassene Psychiater arbeiten, Empfehlungen geben? Wie lässt sich die neuroleptische Medikation mit der systemischen Therapie vereinbaren?

H. Stierlin: Ich bin in einer ganzen Reihe psychiatrischer Anstalten als Supervisor tätig gewesen. Daher weiß ich, dass sich jeder Fall anders zeigt, und wie schwierig es ist, hier etwas allgemein Verbindliches zu sagen, ohne die spezielle Situation zu kennen. Auf jeden Fall sollte man sich ein systemisches Bild der Situation, die zur Einweisung führte, machen: Was lief da ab? Wie weit ist diese Einweisung verständlich im Kontext von Ablösungsbemühungen und von Konflikten in der Familie? Von den so gewonnenen Kenntnissen sollte man sich dann leiten lassen. Wobei es durchaus sinnvoll sein kann, für kurze Zeit jemanden zu hospitalisieren, ihm auch Medikamente zu geben, einfach um mit dieser akuten Situation fertig zu werden. Aber man sollte so bald wie möglich wieder eine Systemperspektive anlegen, bei der auch Nutzen und Gefahren einer Medikation berücksichtigt werden.
Und diese Systemperspektive müsste meines Erachtens das existenziell relevante System dieses Menschen einbeziehen: Das ist vor allem seine Familie, seine Peerbeziehung, aber dann zunehmend auch das Spital mit Strukturen, die infolge der jeweils maßgeblichen Erklärungs- und Behandlungsmodelle auch immer unübersichtlicher werden. Ich denke dabei an die häufig unterschiedlichen - offen oder verdeckt zur Wirkung gelangenden - administrativen und Machtstrukturen, die für sehr viel Unordnung sorgen, aber natürlich auch für viel Spannung und die die Arbeit interessant machen können. Mein Eindruck ist, dass in den Kliniken, die sich dieser Unordnung aussetzen, auch viel mehr Energie in die Arbeit einfließt. Da gibt es mehr Fragen als bei denen, die auf bestimmte Vorstellungen, zum Beispiel was die Behandlung mit Neuroleptika anbelangt, festgelegt sind.

PiD: Nun haben wir in diesem Heft einen Artikel von Hamburger Kollegen über das „Persist-Modell”. Da geht es, grob gesagt, darum, die verschiedenen Behandler auf einer Station für junge Schizophrene möglichst gut und möglichst eng miteinander zu koordinieren. Findest du das gut oder bist du eher gegen eine solche Einschränkung von chaotischer Kreativität?

H. Stierlin: Ich halte das für sinnvoll und sogar notwendig. Paradigmatisch haben wir ja immer wieder gefunden, dass, wenn ein junger Erwachsener schizophrene Plussymptome entwickelt, dies in der Regel erst nach einer längeren Phase bereits bestehender Negativsymptome der Fall ist, wobei es dann auch zu sehr unterschiedlichen Bewertungen, Beschreibungen und Erklärungen des Verhaltens in der Familie kommen kann.
Um ein einfaches Beispiel zu wählen: Ein junger Mann zieht sich zurück, lässt sich verwöhnen, erscheint energielos und matt und scheint auch innerlich rumzuspinnen. Da lässt sich dann beobachten, dass die Mutter sagt: Er hat Angst vor dem Abitur, und er braucht jetzt mehr mütterliche Liebe und Zuwendung, Orangensaft am Morgen usw. Der Vater meint dagegen, er will sich nur vor dem Abitur und den sich daraus ergebenden Herausforderungen drücken.
Typischerweise kommt hier ein Punkt, an dem die Psychiatrie mit ins Spiel kommt, z. B. wenn die Mutter denkt: „Ah ja, wir wissen ja, die Schwester meiner Mutter ist auch schizophren gewesen, da schlägt jetzt die erbliche Veranlagung durch.” Worauf dann ein Psychiater hinzugezogen wird, der seine Sicht der Verhältnisse einbringt. Typischerweise zeigt sich oft eine Pattsituation zwischen Beteiligten im Erklären, Bewerten und Beschreiben der Verhältnisse, die jahrelang anhalten kann, bis dann durch einen Machtspruch eines Psychiaters oder einen dramatischen Akt diese Klarheit geschaffen wird: Der junge Mann ist ein psychiatrischer Fall, woraus sich wieder eine neue Erklärungs- und Bewertungssituation ergibt.

PiD: Bist du dafür, die verschiedenen Therapieansätze kombiniert anzuwenden, oder hältst du es für sinnvoller, sie streng zu trennen?

H. Stierlin: Es klingt vielleicht ein bisschen verrückt, aber ich bin für beides. Ich bin dafür, dass man sich über die Möglichkeiten und auch die Grenzen einer Methode klar wird. Das Team kann sich auf diese Methode festlegen. Es sollte aber trotzdem für andere mögliche Zugänge und Einstellungen offen bleiben. Die professionellen Mitarbeiter sollten sich für die Unterschiede, die sich aus den unterschiedlichen Modellen und Erwartungen für ein therapeutisches Vorgehen ergeben, sensibilisieren.
Also wenn jemand davon ausgeht, dass eine Schizophrenie Ausdruck und Folge einer frühkindlichen präödipalen Störung ist, die in einem langen Prozess von Übertragung und Gegenübertragung aufgearbeitet werden muss, dann ist es fast unvermeidlich, dass so etwas herauskommt, wie ich es in Chestnut Lodge erlebt habe, nämlich eine Behandlung, die sich über vier, fünf, zehn oder gar 15 Jahre erstrecken kann. Wenn man jedoch davon ausgeht, dass hier Kommunikationsstörungen oder Verbiesterungen vorliegen, die man unter Umständen durch bestimmte Interventionen in kurzer Zeit auflösen kann, dann hat das ganz andere Auswirkungen.
Ich bin für Aufgeschlossenheit für unterschiedliche Zugänge. Man sollte sich immer fragen: Was kann hier helfen und was ist möglicherweise der Preis dafür? Um ein Beispiel zu geben: Ich habe vor kurzem miterlebt, wie es ein Kollege, ein Allgemeinarzt, mit einem Patienten zu tun bekam, bei dem aus meiner Sicht eine sehr starke, verstrickende Mutterbindung vorlag. So wie sich mir die Situation darstellte, kam es zu einer psychotischen Symptomatik, als sich der Patient aus dieser Verstrickung zu lösen versuchte. Der Patient bekam dann bereits vom Allgemeinarzt die neuen Neuroleptika, mit der Folge, dass die Symptome weitgehend verschwanden, er wieder arbeitsfähig wurde und sich die alte Beziehung zur Mutter wiederherstellte.
Weder er noch die Mutter sahen noch einen Grund, da etwas zu ändern - die Medikamente funktionierten ja und hatten offenbar keine ernsthaften Nebenwirkungen. Für sie war das Problem gelöst. Das Problem der blockierten bezogenen Individuation blieb jedoch - wie ich es sehe - bestehen.

PiD: Was hältst du davon, dass sich Angehörige und Patienten zunehmend in Gruppen und Verbänden organisieren?

H. Stierlin: Ganz allgemein gesagt, empfinde ich das als eine sehr interessante Entwicklung, und ich finde auch, dass Dorothee Buck und Thomas Bock, die die Psychoseseminare mit ins Leben gerufen haben, etwas sehr Wichtiges in Gang gesetzt haben, das uns auch viele neue Einsichten über die vielerlei Bedeutungen, die eine Psychose für Betroffene haben kann, beschert hat. Denn diese kann etwa von manchen Klienten als etwas Befreiendes erlebt werden, von vielen anderen jedoch als etwas schrecklich Verwirrendes und Belastendes.
Es ist dies ein Zeichen eines Demokratisierungsprozesses in der Psychiatrie, den ich im Ganzen für sehr gut halte, der viele neue Fragen aufwirft, aber auch besonders für die jüngeren Zeitgenossen viele Herausforderungen mit sich bringt. Ganz anders sehe ich die Situation in den USA. Dort ist die NAMI, „The National Alliance of the Mental Ill”, nach letzten Informationen auf bald 200.000 Mitglieder angewachsen, unter ihnen auch viele Psychiater, die noch sehr stark gegen alle psychosoziale Forschung und Psychotherapie eingestellt sind. Mit dem Resultat, dass dort die biologisch orientierte Hirnforschung enorm unterstützt wird, während die psychosozial orientierte Forschung marginalisiert bleibt.

Das halte ich für eine sehr unglückliche Entwicklung. Mein Eindruck ist, dass zwar auch in Deutschland und allgemein im deutschsprachigen Raum Tendenzen in diese Richtung gehen, aber dass insgesamt hier doch ein viel kooperativeres Klima zwischen psychotherapeutisch eingestellten Psychiatern und den verschiedenen Patientengruppen herrscht.

PiD: Es gibt ja wohl zwei Forschergruppen, die bei den Psychosen das Zusammenspiel genetischer und familiendynamischer Prozesse untersuchen. Das ist die finnische Gruppe um Alanen und die Gruppe in Washington um David Reiss. Kannst du deren Forschungsansätze und Ergebnisse charakterisieren?

H. Stierlin: Soweit ich hier einen Überblick habe, zeigt sich Folgendes: Offenbar gibt es eine genetische Disposition. Aber die ist multifaktoriell bedingt, und sie trifft auch nicht auf die eingeengte Definition der Schizophrenie zu, sondern für so genannte schizophrene Spektrumstörungen. Das hat auch die finnische Studie ergeben, bei der man versuchte, den genetischen Anteil und den Umgebungsanteil auseinander zu fieseln. Es ist auch hier die Frage, ob das, was sich jeweils als ein Defekt oder als eine Pathologie zeigt - wie etwa bei Aufmerksamkeitsgestaltung, beim Wiedererinnern von Geschehnissen und bei Bedeutungsgebungen - nicht auch mit Positivem verbunden ist.
Es gibt inzwischen - z. B. aus Studien in Island - Anhaltspunkte dafür, dass bei bestimmten Schizophrenen eine Art von zwischenmenschlicher Sensibilität vorliegt, die diese sowohl zwischenmenschlich kreativer als auch verwundbarer macht. Das ist eine interessante These, die zu verfolgen sich lohnen würde. Man geht hier nicht nur von Pathologie und Vulnerabilität aus, sondern auch von verborgenen Ressourcen.
Das Problem, das ich sehe, ist, dass inzwischen auch die genetisch orientierte Forschung so kompliziert geworden ist, dass es für einen Außenstehenden immer schwieriger wird, sich da zurechtzufinden und da irgendwie mitzureden. Andererseits sind natürlich die Genetiker und biologisch orientierten Forscher so auf ihren Phänomenbereich festgelegt, dass anderes sehr leicht aus dem Blickfeld gerät. Vor kurzem war ich bei Manfred Spitzer in Ulm zu Besuch, der ja in Deutschland als einer der führenden Hirnforscher im Bereich Schizophrenie gelten darf, wobei mir wieder einmal klar wurde, wie unterschiedlich in diesem Feld die erkennenden Linsen von vornherein eingestellt sein können mit den Folgen, dass es immer schwieriger wird, diese Linseneinstellungen sozusagen so zu koordinieren, dass unterschiedliche Phänomenbereiche genügend gewürdigt werden.

PiD: Einige Familientherapeuten in den USA gehen davon aus, dass erfolgreiche Familientherapie die Dichte von Neuronenverbindungen verändert, was sich auch durch bildgebende Verfahren nachweisen ließe. Überspitzt gesagt: Familientherapie ist Gehirntherapie. Was hältst du von dieser Idee?

H. Stierlin: Ich finde es eine sehr spannende Sache. Unser Hirn ist ja viel lernfähiger und flexibler, als wir bislang angenommen haben, und das offenbar bis ins hohe Alter, was natürlich auch für mich persönlich beruhigend ist. Tatsächlich kann man das jetzt durch die enorm entwickelten modernen bildgebenden Verfahren nachweisen. Manfred Spitzer zum Beispiel hat gezeigt, dass bei Kindern, die sehr früh schon das Geigenspiel erlernen und regelmäßig zwei Stunden am Tag üben, das entsprechende Gehirnareal erweitert ist. Diese Erkenntnisse widersprechen nicht der Annahme, dass auch Familientherapie Lernprozesse auslöst, sondern bestätigen sie vielmehr.

PiD: Wenn wir einmal gemeinsam in die Zukunft schauen: Was wird sich in der Psychosentherapie in zehn Jahren verändert haben, was wird dann im Vordergrund stehen?

H. Stierlin: Ein Großteil der Forschung geht jetzt in Richtung Erkennen von Verläufen, von Prodromalsymptomen, von möglichen auslösenden Faktoren usw. Ich glaube, diese Forschungsrichtung wird auch zunehmend dazu führen, dass eine systemische Sicht der zwischenmenschlichen Dynamik wichtiger wird, gerade auch, wenn es um Prävention geht.
Ian Falloon zum Beispiel hat ein tolles Pilotprojekt durchgeführt: Er stellte sich auf das Erkennen und Behandeln von schizophrenen Prodromalsymptomen ein und konnte so einen Großteil der zu erwartenden schizophrenen Entwicklungen verhindern. Ich glaube, in dieser Sensibilisierung für Verläufe, für Prodromalsymptome, für ihre Bedeutung und die sich daraus ergebenden Einwirkungsmöglichkeiten sehe ich eine der Hauptentwicklungsrichtungen der nächsten zehn Jahre. Natürlich verlangt das sowohl systemisches Know-how als auch Aufgeschlossenheit für die Beziehung des Selbst zum System Körper oder, etwas anders gesagt: für das, was in den inneren Parlamenten dieser Menschen abläuft. Da ist sicher noch viel Neuland zu entdecken.

PiD: Warum hast du die Arbeit mit schizophrenen Patienten und deren Familien so intensiv betrieben? Was hat dir am meisten Spaß gemacht?

H. Stierlin: Ich fand die Arbeit mit diesen Menschen faszinierend und verlebendigend. Ich habe auch schon immer ein Faible für Menschen gehabt, die gegen den Strom schwimmen, die sich nicht in das allgemeine Bild fügen. Wichtig war auch eine neue Wertschätzung für die Weise, wie diese Menschen ihre Symptome entwickeln und nutzen. Oft zeigen sich mir gerade deren Symptome als kreativer Ausweg aus inneren Beziehungszwickmühlen.

PiD: Ich danke dir ganz herzlich für dieses Gespräch.