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DOI: 10.1055/s-2002-34542
Psychosentherapie: Auf dem Weg in eine psychiatrische Verhandlungskultur?
Publication History
Publication Date:
09 October 2002 (online)
Trennendes: Psychose als nebenwirkungsreiche kreative Konfliktlösung oder als gemeinsam beherrschbarer neurobiologischer Defekt?
Im ersten Teil dieses Heftes stehen Beiträge friedlich vereint nebeneinander, deren konzeptionelle Ansätze und Inhalte oft außerordentlich kontrovers diskutiert werden. Eine zentrale Kontroverse kreist um die Frage: Macht psychotisches Erleben einen Sinn, den es zu verstehen und für die Lebensgestaltung zu nutzen gilt?
Auf der einen Seite gehen so unterschiedliche Ansätze wie die Psychoanalyse, die Systemische Therapie, das Familienstellen und die Psychoseseminare gemeinsam davon aus, dass psychotisches Erleben und Verhalten lebensgeschichtlich oder aus der aktuellen Beziehungssituation zumindest zum Teil verstehbar ist und dass dieses Verständnis einen wesentlichen Schlüssel zur Veränderung darstellt. In dieser Optik ist psychotisches Erleben und Verhalten stets auch eine - wenngleich partiell misslungene - Leistung, ein in Teilbereichen kreativer, aber nebenwirkungsreicher Lösungsversuch einer Dilemmasituation. Ihre therapeutische Konsequenz ist das gemeinsame Bemühen um Verstehen und um das Finden sehr personenspezifischer „Auswege” aus diesen Dilemmata. Beliebt scheint diese Sichtweise u. a. bei Psychiatrieerfahrenen zu sein, die sich gegen die dauerhafte Zuschreibung eines Krankenstatus wehren.
In der Verhaltenstherapie und der Psychoedukation wird dieser Art des Verständnisses eine geringe Bedeutung zugeschrieben: Biografisches wirkt lediglich als „Auslöser”, das einen neurobiologisch bereits „vulnerablen” (verletzlichen) Menschen über eine kritische Belastungsschwelle in die psychotische Dekompensation treibt. Aus dieser Sicht ist psychotisches Verhalten und Erleben eher Ausdruck eines „Defektes” - der sich aber mit den angebotenen modernen Methoden besser als früher „in den Griff” bekommen lässt. Das Verstehen wird weniger gemeinsam erarbeitet, vielmehr der Wissenschaft entnommen und von informierten Experten dem Laienpublikum angeboten. Diese Sichtweise entlastet all jene Psychoseerfahrenen und Angehörigen, die unter Schuldgefühlen und/oder einem hohen Veränderungsdruck leiden. Die neurobiologische Vulnerabilität dient als gemeinsame Projektionsfläche, die von subjektiv erlebter Schuld und Scham entlastet und ein höheres Maß an Kontrollierbarkeit des Chaos verspricht.
Diese Unterscheidung hat praktisch bedeutsame Auswirkungen. Im Defekt-Modell ist die therapeutische Zielrichtung von vornherein relativ klar vorgegeben: Verminderung der Symptomatik und Verhinderung von Rückfällen. Das therapeutische Vorgehen ist an der Indikations-Logik orientiert: Was braucht der Patient (objektiv)? Im Konflikt-Modell muss hingegen mehr Auftragsklärung betrieben werden: Was will der Patient (subjektiv)? Vielleicht strebt er (bewusst, halbbewusst, unbewusst) ja gerade viele Dinge an, die seinen Behandlern widerstreben - z. B. unklare Kommunikation, Symbiose mit der Mutter, Rückkehr und langer Verbleib in der Klinik. Im Defekt-Modell muss mehr informiert und angeleitet, im Konfliktmodell mehr verhandelt werden.
1 Ciompi, L. (1997). Zu den affektiven Grundlagen des Denkens. System Familie, 10 (3), 134).