NOTARZT 2002; 18(5): 198-199
DOI: 10.1055/s-2002-35150
Fortbildung
Der toxikologische Notfall
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Unerwartete Vergiftungsursache

F.  Martens1
  • 1Charité, Campus Virchow Klinikum, Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin (Direktor: Prof. Dr. Ulrich Frei), Berlin
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Publication Date:
30 October 2002 (online)

Der Fall

Der Notarzt wird unter dem Stichwort „plötzliche Bewusstlosigkeit” in eine Wohnung gerufen. Die Sanitäter des kurz zuvor eingetroffenen RTW beatmen eine auf dem Bett liegende, etwa 35-jährige Frau, die eine deutliche Zyanose aufweist. Im gleichen Zimmer halten sich noch drei weitere Personen auf, die angeben, die Feuerwehr gerufen zu haben, weil sie ihre Mitbewohnerin nicht wecken konnten. Einer dieser Bewohner gibt sich als Betreuungsperson für die in einer „geschützten Umgebung” lebenden, psychiatrisch kranken Menschen zu erkennen. Bei der näheren Untersuchung der auf dem Bett liegenden jungen Frau erkennt der Notarzt, dass sie sich seit längerem in ihren Exkrementen gewälzt haben muss, denn Spuren davon sind an vielen Stellen des Schlafanzuges bereits eingetrocknet. Entsprechend füllt ein bestialischer Geruch den Raum. Erst nach gründlicher Zuglüftung kann mit weiteren Maßnahmen begonnen werden.

Die Patientin ist bewusstlos, hat beide Augen geschlossen. Die Pupillen sind eher weit und reagieren nur träge auf Licht. Die Patientin weist immer wieder einschießende Zuckungen besonders der oberen Extremitäten auf. Über beiden Lungen sind bei vorhandener Spontanatmung laute rasselnde Geräusche zu vernehmen. Aufgrund der Bewusstlosigkeit und der offensichtlichen Ateminsuffizienz entschließt sich der Notarzt zur Intubation. Da die Patientin beim Versuch der laryngoskopischen Einstellung immer wieder zubeißt, wird eine Venenverweilkanüle gelegt, mit dem ersten Tropfen Blut der Blutzucker gemessen (120 mg/dl) und schließlich Fentanyl und Midazolam verabreicht. Nach Absaugen des reichlich im Rachenraum vorhandenen Erbrochenen gelingt die orotracheale Intubation. Unter Beatmung mit Sauerstoff steigt die pulsoxymetrische Sättigung von anfänglich 80 auf 91 % an.

Während der Vorbereitungen zum Transport der Patientin versucht der Notarzt Hinweise auf die Genese des Komas von den Mitbewohnern zu erhalten. Die Frau lebe seit mehreren Jahren in dieser Wohngemeinschaft wegen einer Schizophrenie. Sie würde täglich zu einem Pferdehof abgeholt, wo sie einfache Arbeiten verrichte und abends wieder zurückgebracht. Hinweise auf Suizidalität habe es nie gegeben. Eigentlich sei sie eher antriebsgemindert. Körperliche Erkrankungen seien nicht bekannt. An Medikamenten nehme sie regelmäßig täglich 25 mg Zuclopenthixol ein, die Tablettenvorräte seien unter ihrer eigenen Obhut. Rasch werden die noch vorhandenen Tabletten durchgezählt. Mit Hilfe eines Anrufes beim behandelnden Neurologen kann ermittelt werden, dass seit der letzten Verordnung dieses Medikamentes etwa 20 Tabletten mehr verbraucht worden sind, als es der täglichen Einnahme entsprach. Die vom Einsatzort aus konsultierte Giftinformationszentrale bestätigt, dass eine Überdosis von Zuclopenthixol durchaus mit den vorgefundenen Symptomen vereinbar seien.

Der Notarzt bringt die Patientin nach Voranmeldung in die nahe gelegene Uniklinik auf die internistische Intensivstation. Dort werden zentraler Venenzugang, arterielle Verweilkanüle, nasogastrale Sonde und ein Blasenkatheter gelegt und die Beatmung fortgeführt. Die klinische Symptomatik stellt sich im Vergleich zur notärztlichen Schilderung unverändert dar. Bei der näheren Inspektion fallen Schürfwunden und Hämatome frischeren Datums an beiden Knien sowie eine ausgeprägte Behaarung an den Beinen und an beiden Mammae auf.

Unter dem Verdacht einer Vergiftung werden Blut, Magensaft und Urin asserviert und zur toxikologischen Analyse versandt. Die initiale Blutgasanalyse ergibt eine schlechte Lungenfunktion mit niedrigem pO2 und leichter Hyperkapnie trotz Sauerstoffbeatmung und adäquaten Minutenvolumina. Außerdem ist eine Hyponatriämie von 112 mmol/l bei einem Serumkalium von 4,2 auffällig. In den folgenden zwei Stunden nach Aufnahme entleeren sich knapp 2000 ml fast wasserklaren Urins, weshalb unter dem Verdacht einer zerebralen Schädigung ein Computertomogramm des Schädels veranlasst wird. Damit lässt sich eine Blutung ausschließen, allerdings weisen verstrichene Gyri auf ein mäßig ausgeprägtes Hirnödem hin. Inzwischen liegen die Ergebnisse aus dem klinischen Zentrallabor vor. Diese bestätigen die ausgeprägte Hyponatriämie bei Normokaliämie, außerdem ist eine Erhöhung der Kreatinkinase von 2800 U/l bei normalem Troponin T auffällig. Eine weitere Stunde später kommt aus der Toxikologie der überraschende Befund, dass der vermeintlich eingenommene Wirkstoff Zuclopenthixol in keiner der asservierten Körperflüssigkeiten nachweisbar ist. Lediglich die vom Notarzt verwendeten Substanzen zur Intubation seien in geringer (therapeutischer) Menge nachweisbar.

Unter dem Verdacht einer Wasserintoxikation wird die ausgiebige Diurese der Patientin nicht durch entsprechende Volumina ersetzt, sondern lediglich isotonische Kochsalzlösung in etwa einem Drittel der Urinmenge verabreicht. Darunter steigt die Natriumkonzentration in den folgenden Stunden auf 120 mmol/l an. Die stündlichen Urinmengen werden darunter geringer und entsprechen schließlich in etwa der Flüssigkeitszufuhr. Einen Tag nach der Einlieferung in die Klinik zeigt die Patientin gezielte Abwehrreaktionen auf Schmerzreiz und kann schließlich weitere acht Stunden später extubiert werden. Zu diesem Zeitpunkt ist sie verhangen, verfügt aber über alle Schutzreflexe.

Priv.-Doz. Dr. Frank Martens

Charité · Campus Virchow Klinikum · Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin · Klinik für Nephrologie und internistische Intensivmedizin

Augustenburger Platz 1

13353 Berlin

Email: frank.martens@charite.de

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