Zusammenfassung
Wer in Deutschland im Bereich von Public Health über
„molekulare Medizin” spricht, macht sich verdächtig.
Tatsächlich kommen Public Health, öffentliche Gesundheitssicherung,
die Gesundheitswissenschaften insgesamt an Medizin und Biologie nicht vorbei.
Dieser Grundgedanke wird zunächst historisch-systematisch und dann
philosophisch-anthropologisch verfolgt. In einer näheren Sicht wird der
Zusammenhang von molekularer Medizin und Public Health diskutiert. Demnach wird
Gesundheit zukünftig sowohl auf individueller wie auf gesellschaftlicher
Ebene wesentlich an das Wissen um genetisch bedingte Dispositionen gebunden
sein. Es ist abzusehen, dass diese molekular-genetische Lebenswelt für die
Menschen demnächst genauso „wahr” werden wird, wie die
hygienisch-bakteriologische Lebenswelt für uns „wahr”
geworden ist. Die Medikalisierung aller menschlicher Lebenswelten wird in die
„Molekularisierung” fortgeführt werden. Es gilt, die
konkreten Auswirkungen dieser auch in der breiten Öffentlichkeit
diskutierten Transformation von ihren Grundlagen her zu verstehen. Nur so
können Chancen und Risiken der molekularen Medizin rational
eingeschätzt werden. Grundlegend für eine solche Auseinandersetzung
in der öffentlichen Gesundheitssicherung ist, dass sich die
Public-Health-Bewegung kritisch-konstruktiv mit der aktuellen Entwicklung der
molekularen Medizin auseinander setzt. Für die öffentliche
Gesundheitssicherung und die Gesundheitswissenschaften ist der Aspekt der
„Natur” und damit die Medizin und die Biologie öffentlicher
Gesundheit ein essenzieller Bestandteil. Nur so ist es möglich, das
Aktionsfeld der öffentlichen Gesundheitssicherung insgesamt
aufzuklären, seine Dynamik zu verstehen und entsprechende Maßnahmen
herauszuarbeiten: „Health is a crossroad” - so Julio Frenk:
„It is where biological and social factors, the individual and the
community, and social economic policy all converge.”
Abstract
Any person actively engaged in the sphere of Public Health who
refers to „molecular medicine” is bound to arouse suspicion.
Nevertheless, neither Public Health nor public health protection or the health
sciences in general can afford to ignore medicine and biology. This fundamental
fact is explored in a historical and subsequently in an anthropological
context. The connections between molecular medicine and public health are
discussed at length. Accordingly, health on an individual as well as on a
social level is essentially bound to the knowledge of genetically determined
dispositions. We may expect that this molecular-genetic reality will become as
„true” in future as the hygienic-bacteriological reality has
become „true” today. The medicalisation of all human realities
will be continued by their „molecularisation”. It is important to
fundamentally understand the actual effects of this transformation, which is
the subject of a wider public discussion. This is the only way to rationally
estimate both the opportunities offered by molecular medicine and the involved
risks. It is essential for a debate of this kind within public health care
institutions that the public health movement addresses the current developments
of molecular medicine in a critical but constructive manner.
„Nature”, and with it the medicine and biology of public health,
is an essential aspect of protecting public health. This is the only way to
clarify the sphere of activity of public health protection in general, to
appreciate its dynamics and to develop adequate measures: „Health is a
crossroad” according to Julio Frenk: „It is where biological and
social factors, the individual and the community, and social economic policy
all converge”.
Schlüsselwörter
Public
Health - molekulare Medizin - Gesundheit,
Geschichte - medikale Kultur
Key words
Public health - molecular
medicine - molecular
health - history - civilisation
Anmerkungen
1
Dieser Text folgt weitgehend dem gleichnamigen Vortrag
anlässlich der Festveranstaltung „30 Jahre Akademie für
öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf” am 27. Juni 2001.
Der Frage von Herrn Prof. Dr. med. Johannes Gostomzyk, den Vortrag einem
breiteren Publikum bekannt zu machen, komme ich gerne nach.
2
Frenk J.
The new public health.
Annual Revue Public
Health.
1993;
14
469-490
3
Internet: http://www.icml.org/sunday/plenary1/frenk.htm:
Frenk, 1953 in Mexico-City geboren, war, als er den soeben zitierten Aufsatz
veröffentlichte, am Center for Population and Development Studies der
Harvard University, Cambridge, Mass., tätig. Seit 1998 ist er
„Executive Director in charge of Evidence and Information for Policy at
the World Health Organisation” in Genf. Weitere Hinweise zu seiner Vita
sind der hier angegebenen Internet-Adresse zu entnehmen.
4
Auch dieser Begriff stammt aus dem Umkreis Gottsteins; vgl.
Gottstein A, Schlossmann A, Teleky L (Hrsg). Handbuch der sozialen Hygiene und
Gesundheitsfürsorge. Berlin: Springer. Bd.1-6. 1925-1927, ebd.
1. Bd.: Grundlagen und Methoden. Berlin: Springer. 1925: v-vii: Vorwort:
(v) „Gesundheitswissenschaft”.
5 Zu Adolf Gottstein s. ausführlich Koppitz U, Labisch
A (Hrsg) .Adolf Gottstein - Erlebnisse und Erkenntnisse. Nachlass
1939/1940. Autobiographische und biographische Materialien. Mit
einem Vorwort von Klaus und Ulrich Gottstein Berlin
u.a; Springer 1999
6 Die mehr oder weniger ausdrücklichen, offenbar
unvermeidlichen gesundheitlichen Utopien der Genetik und die daraus
resultierenden eugenischen Schlussfolgerungen werden in der Literatur immer
wieder angesprochen. Vgl. u. v. a. Dunn LC, Cross currents in the
history of human genetics. American Journal of Human Genetics 1962; 14:
1-13; Kevles DJ. In the Name of Eugenics - Genetics and the Uses of
human Heredity. New York: Knopf. 1985; Weß L (Hrsg). Die Träume der
Genetik - Gentechnische Utopien von sozialem Fortschritt
(= Schriften der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des
20. Jahrhunderts, Bd. 6). Nördlingen: Greno. 1989; 2. Aufl. 1998; Silver
LM. Das geklonte Paradies - Künstliche Zeugung und Lebensdesign im
neuen Jahrtausend. München: Droemer. 1998 (orig.: Remaking Eden -
Cloning and beyond in a brave new World. Avon, New York: Morrow. 1997); Kitcher
P. Genetik und Ethik - Die Revolution der Humangenetik und ihre Folgen.
München: Luchterhand. 1998 (Orig.: The Lives to come - The genetic
Revolution and human Possibilities. New York: Simon & Schuster. 1996). Vgl. hierzu auch Paul N. Anticipating molecular medicine
- Smooth transition from biomedical science to clinical practice?
American Family Physician 2001; 63: 1704f.; ders. Understanding values in the
transition to molecular medicine. NTM, International Journal of History and
Ethics of Natural Sciences, Technology and Medicine (im Druck).
7 Zur Entwicklung und zum Stand der Proteomics vgl. Burley SK
u. a.. Structural genomics - Beyond the human genome project.
Nature Genetics 1999; 23: 151 - 156; Maelicke A.
Proteomics. Nachrichten aus Chemie, Technik und Laboratorium. Zeitschrift der
GDCh 1999; 47; Nr. 12: 1433 - 1435; Williams KL. Genomes
and proteomes - Towards a multidimensional view of biology.
Electrophoresis 1999; 20; Nr. 4/5: 678 - 688; Lander ES,
Weinberg RA. Pathways of discoveries - Genomics: journey to the center of
biology. Science 2000; 287: 1777 - 1782.
8
Zur Begriffsklärung: Ein Genom umfasst die gesamte
genetische Information eines Individuums. Jede Zelle enthält die komplette
Kopie des Genoms. Der Begriff Genomics umschreibt die Charakterisierung und
Sequenzierung des Genoms sowie die Analyse der Verhältnisse von
Genaktivität und Zellfunktion. Ein Proteom umfasst das gesamte
Proteinprofil einer Zelle oder eines Gewebes zu einer gegebenen Zeit. Der
Begriff Proteomics umschreibt die systematische Analyse des Proteinprofils von
gesundem und krankem Gewebe mit Bezug auf die jeweils aktiven
Gene.
9
Vgl. jetzt in Übersicht: Pandey A, Mann M. Proteomics to
study genes and genomes. Nature 15. Juni 2000; 405: 837-846.
10
Goedecke A. et al .
Disruption of myoglobin in mice induces multiple compensatory
mechanisms.
Proceedings of the National Academy of Sciences of the
United States of
America.
1999;
96
10495-10500
11 Honnefelder L, Propping P. (Hrsg) .Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom
kennen?. Köln; DuMont 2001
12
Vgl. zum Folgenden ausführlich Paul N. Molekulare
Prädiktion - Ein Weg zur molekularen Prävention?
Gesundheitswesen 2001; 63 (SH; im Druck).
13 Zu den kategorialen Denkfehlern und der biologischen
Unmöglichkeit dieser Vorstellungen vgl. Dunn. Cross currents. 1962: 10:
„Such schemes (i. e.: of eugenicism) assume that there is an
ideal genotype for a human being. (...)/11 Can human cultures be maintained by
an ideal genotype? (...) are there objective scientific criteria by which they
might be selected?”; Davis B. Germ-line therapy - Evolutionary and
moral considerations. Human Gene Therapy 1992; 3:
361 - 363, verweist darauf, dass die meisten Gene, die
homozygot zu einer monogenen Krankheit führen können, rezessiv und
damit unbemerkt in der Bevölkerung vorkommen, und dominant vererbte
„Gendefekte” in den meisten Fällen durch Neumutation
entstehen; daher sei das Ideal einer „Reinigung des Genpools”
überhaupt nicht zu erreichen. Vgl. trocken und klar auch Reich J. Die
Utopie von der Verbesserung der genetischen Konstitution des Menschen. Jahrbuch
für Wissenschaft und Ethik 1999; 4: 5-12.
14
Brand A. Screening auf genetische Erkrankungen - Pro
und Contra. In: Schwinger E, Dudenhausen JW (Hrsg). Nichtdirektive
humangenetische Beratung - Molekulare Medizin und genetische Beratung
- Ein Leitfaden der Stiftung für das behinderte Kind zur
Förderung von Vorsorge und Früherkennung, (= Umwelt und
Medizin). Frankfurt a. M.: Med. Verl.-Ges. Umwelt und Medizin. 1999:
36-46, das Zitat ebd. 46.
15
Holtzman N A.
Proceed with caution - Predicting genetic risks in the
recombinant DNA era (= The Johns Hopkins series in contemporary
medicine and public health). Baltimore u. a.
John Hopkins
Univ.
Pr. 1989;
16
Holtzman N A, Marteau T M.
Will genetics revolutionize medicine?.
The New
England Journal of Medicine.
July 13, 2000;
343
(2)
141-144
17
Holtzman Marteau.
Will genetics revolutionize
medicine?.
2000;
143f
18
Frenk.
New Public
Health.
1993;
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. phil. M.A. (Soz.) Alfons Labisch
Geschäftsführender Direktor,
Institut für Geschichte der Medizin,
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Universitätsstr. 1
40225 Düsseldorf
Email: histmed@uni-duesseldorf.de
URL: http://www.uni-duesseldorf.de/WWW/MedFak/HistMed/welcome.htm