Dtsch Med Wochenschr 2002; 127(47): 2529-2530
DOI: 10.1055/s-2002-35642
Leserbriefe
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Morbus Sudeck - Pathophysiologie und Therapie eines komplexen Schmerzsyndroms

Zum Beitrag aus DMW 8/2002, Seite 384-389
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Publication Date:
29 April 2004 (online)

Die sehr interessante Information über die Pathophysiologie des „complex regional pain syndrome“ (CRPS) - alias „Morbus Sudeck“ [18] - aus neurologischer Sicht legt den Wunsch nahe, die für den Kliniker etwas abstrakte Materie durch diagnostisch orientierende Informationen zu erweitern.

Damit meine ich insbesondere die historische und die internistisch-rheumatologische Dimension des vorliegenden reflexdystrophischen Problems und seines ätiologischen Panoramas, dessen „idiopathische“ bzw. viszeral-klinische Pathologie hier zu kurz gekommen, aber von klinischer Bedeutung ist und auch zur interdisziplinären Lösung der angesprochenen Problematik beitragen sollte. Deshalb ist es zunächst entscheidend, den „Sudeck“ als posttraumatische Komplikation, der historischen Wirklichkeit entsprechend, von den „nicht-traumatischen“ Krankheitsbildern abzugrenzen, die unter dem Bild des Sudeck ablaufen [1] [3] [4] [5] [14] [17]. Auch beschreibt die alte Literatur ([7] [14], u. a.) vieles zur Pathophysiologie, was wir, ohne es zu bemerken, „neu“ entdecken.

Die Wurzeln der entsprechenden Nosographie liegen, wie ja bekannt ist, bei der „Kausalgie“ (Mitchell 1864) [17] und der „akuten reflektorischen (trophoneurotischen) Knochenatrophie nach Entzündungen und Traumen der Extremitäten“ (Sudeck 1900 - 1902) [15]. Die Letztere ist bis heute überwiegend so, nämlich als „Sudeck“ in unserem klinischen Bewusstsein verblieben.

Die Loslösung dieser Phänomene und ihrer Deutung von der Traumatologie [3] [4] [14] [17] im Sinne eines etwa „spontanen Sudeck“ geht zurück auf de Takats, der 1937 die „Sympathic reflex dystrophy“ definiert und die Symphaticus-Irritation verantwortlich gemacht hat. Damit war die spätere Beobachtung des „Schulter-Hand-Syndroms“ durch die internistische Rheumatologie vorbereitet; in den USA erstmals von Steinbrocker 1947 [14], in Frankreich von Ravault 1951 und in Deutschland von Schilling 1958 beschrieben [5] [9]. Dabei war neben einem „idiopathischen Sudeck“ die häufigste „Ursache“ der sympathiko-reflektorischen vaso-nervalen Fehlsteuerung proximal und distal am Arm der Myokardinfarkt, statistisch gefolgt von Zuständen nach Hirninfarkt bzw. bei Hemiplegie u. a. [1] [4] [9] [14]. Die Häufigkeit dieser Komplikation bei Koronarinsuffizienz lag vor 40 Jahren noch weltweit bei etwa 5 % aller Infarktfälle [1] [4]. Dieses viszeral-reflektorische Phänomen schmerzhafter Schulterbehinderung (einseitig links oder rechts oder wechselseitig), meistens und dominierend verbunden mit der kausalgisch schmerzenden und auch osteologisch Sudeck-artig sich entwickelnden Handschwellung mit den vasomotorischen und trophischen Störungen und schließlich der Sklerodaktylie und der Dupytren-artigen Raffung der Palmarfaszie (insgesamt die „verdorrte Hand“ [9], wird heute nicht oder kaum mehr gesehen, wofür u. a. die übliche beta-Blockierung verantwortlich sein könnte [13].

Etwas später erst wurde die Algodystrophie der unteren Extremitäten als die schließlich häufigere Form der Reflexdystrophie erkannt; zunächst von französischen Rheumatologen erarbeitet und dann als „schmerzhafte, nicht traumatische Osteoporose“ (Algodystrophie) der unteren Gliedmaßen“ (de Sèze 1960), als „Algoneurodystrophie“ (Lequesne 1963) bzw. als „reflexdystrophisches Syndrom“ [11] charakterisiert. Sie war zuerst als Algodystrophie der Hüfte aufgefallen, später auch an Knie und Fuß und im Bereich der größeren Gelenke der unteren Extremitäten „wandernd“ beobachtet worden (Duncan 1967, Swezay 1970, Schilling 1973).

Solchen Beobachtungen waren wir unter dem Gesichtspunkt der „ dystrophischen Pseudoarthritiden“ gefolgt [10]. Wir beschrieben mehrfach kasuistisch die möglicherweise mikrotraumatische Pathogenese der Hüftkopfdystrophie bei der retardierten Osteogenesis imperfekta (Typ Lobstein) des Erwachsenen, erkennbar an den blauen Skleren, in einem Fall auch als von Hüfte zu Hüfte und Kniegelenk und Fuß „migratorische Algodystrophie“. Weiterhin beschrieben wir den „schmerzhaft dystrophischen Fuß“ bei der Gicht bzw. nach schwergradiger Arthritis urica des Großzehengrundgelenks und in einem Fall eine neurokompressions-reflektorische Knochenatrophie bei Tarsaltunnel-Syndrom mit operativer Ausheilung.

Tab. 1 Ätiologie des reflexdystrophischen Syndroms (nach Schilling 1978). I. Traumen: „posttraumatischer Sudeck“ -Frakturen (Immobilisation) -Nervenverletzungen oder -kompressionen -Operationen mikrotraumatisch: -Osteogenesis imperfecta, -Morbus Lobstein (blaue Skleren!) trauma-äquivalent: -Gichtanfall u. a. (s. II.) -(„schmerzhaft entkalkter Fuß“) II. Nicht-traumatische Reflexdystrophie (reflektorische Algodystrophie, sympathische Algoneurodystrophie) 1. Viszerale (organbezogene) Genese: a) Myokardinfarkt (-postinfarkt, Schulter-Hand-Syndrom, spät-„postinfarkt Dupuytren“) Koronarinsuffizienz b) Intrathorakale Prozesse: -Bronchial-Ca. (Insbesondere Pancoast-Tumor) -Lungen-Tbc c) neurogen -intrakranielle Prozesse, Infarkt, -Hemiplegie (Restitutionsphase) -Parkinsonismus, Engpass-Syndrome, vertrebragen (?), -Herpes Zoster d) Gravidität → Algodystrophie der Hüfte 2. Arzneimittelinduzierte Algodystrophie: a) Barbiturate (Phenobarbital: „Barbituratrheumatismus“) b) Tuberkulostatika (?) c) Radio-Jod-Therapie, Methylthiouracil 3. Unbekannte Genese: Idiopathische Algodystrophie, ehem. „spontaner Sudeck“ III. Begleitend: Dystrophische Pseudoarthritis (10) Besonderheit: Wandernde Algodystrophie, ehem. migrat. Osteoporose oder Osteolyse Disponierend: Pathologisches Stoffwechselsyndrom, Alkoholismus, psychische Konstitution, Epilepsie, Hyperthyreose

Die Algodystrophie ist nämlich in allen Fällen klinisch und radiologisch an Gelenke und deren Umgebung gebunden mit der Evidenz einer sekundären Reiz-Synovitis. Wir konnten dies histopathologisch bei Vorfuß-Dystrophie belegen (Fassbender 1977), als typisch klassifizieren und als morphologische Komplettierung in das reflexdystrophische Syndrom einordnen [12].

Schließlich habe ich im Jahre 1978 das Panorama der Reflexdystrophien und Algodystrophien als „das reflexdystrophische Syndrom“ zusammengefasst [11], verbunden mit der deutschen Erstbeschreibung der durch Schwangerschaft induzierten Algodystrophie der Hüfte sowie mit Beispielen der „wandernden Osteoporose“. Das breite ätiologische Spektrum traumatogener, organbezogener, neurogener und durch Arzneimittel [6] induzierter Natur wurde aufgelistet (Tab. [1]).

Interessant geblieben sind die Reflexdystrophie der Schwangerschaft und die wandernde Algodystrophie [8] [13]; beide jedoch in der letzten Zeit unter neuen methodischen Gesichtspunkten. Dabei ist ein Mangel an interdisziplinärer Querverbindung zwischen Radiologie, Rheumatologie und Neurologie offenkundig und kontraproduktiv geworden. So geht das Wissen um die Algodystrophien verloren [13], der Neurologe entdeckt die CRPR [2] [17] und der Radiologe beschreibt kernspintomographisch das Syndrom des „transienten Knochenmarködems“ [15], ohne dass die entsprechenden Disziplinen bemerken, dass sie vom gleichen nosologischen Gegenstand mit mindestens sehr verwandter Pathogenese sprechen. Die durch Gravidität induzierte Algodystrophie [8] stellt sich im MRT als vorübergehendes Knochenmarködem der Hüftköpfe dar [13].

Zusammenfassend darf ich feststellen, dass das „Sudeck-Syndrom“, das „komplexe regionale Schmerzsyndrom“ und das „reflexdystrophische Syndrom“ nosologisch, klinisch, radiologisch und mit großer Wahrscheinlichkeit auch pathophysiologisch das gleiche reaktiv neuro-vasotrophisch induzierte Krankheitsbild darstellen, mit gleichen therapeutischen Konsequenzen. Aktuell ist also auch hier wieder das Postulat der Rückkehr zur interdisziplinären, historisch und synoptisch orientierten theoretischen und klinischen Medizin.

Literatur

  • 1 Doury P, Dirheimer  Y, Pattin S. Algodystrophy - Diagnosis and Therapy of a Frequent Disease of the Locomoter Apparatus. Berlin-Heidelberg-New York: Springer Verlag 1981
  • 2 Birklein F, Riedl B, Siewake N. et al . Neurological findings in complex regional pain syndromes - analysis of 145 cases.  Acta Neurol Scand. 2000;  101 262-269
  • 3 Blumensaat C. Der heutige Stand der Lehre vom Sudeck-Syndrom. Hefte zur Unfallheilkunde 1956 Nr. 51
  • 4 Dörken H. Das Schulter-Hand-Syndrom nach Herzinfarkt.  Dtsch Med Wochenschr. 1969;  94 327-329
  • 5 Knick B, Schilling F. Beitrag zur Reflexdystrophie der oberen Extremität (Schulter-Hand-Syndrom nach Myocardinfarkt, nach Hemiplegie und nach thoracalem Trauma mit Polyradiculitis und kausalgiformem Syndrom des Rumpfes).  Act Neurovegetativa. 1960;  21 109-120
  • 6 Kriegel W, Müller W. Drug induced diseases.  1972;  4 423
  • 7 Mascher W L. Das reflexdystrophische Syndrom.  Schweiz Arch Neurol. 1975;  80 235 und 1958; 81: 226
  • 8 Perka C, Buttgereit F, Backhaus M. Schwangerschaftsinduzierte Algodystrophie.  Z Rheumatol. 1998;  57 399-408
  • 9 Schilling F. Reflexdystrophie der oberen Extremität. Genova: Vortrag 8. Symposium Soc Internaz Ric Neuroveget 1958: 167
  • 10 Schilling F. Reflexdystrophien und dystrophische Pseudoarthritiden der unteren Extremitäten.  Z Rheumaforschg. 1973;  32 375-384
  • 11 Schilling F. Das reflexdystrophische Syndrom (die Algoneurodystrophien). [Übers. Referat Wien 1978].  Verh Dtsch Ges Rheumatol. 1980;  6 167-172
  • 12 Schilling F, Fassbender H G, Ess H. Observations cliniques, radiologiques et histophatologiques l’algodystrophie migratrice. Paris III: Ve Journées francaises de Rhumatologie (Soc Franc Rhumat) 1982
  • 13 Schilling F. Über Reflexdystrophien - Erinnerungen an deutsche rheumatologische Erstbeschreibungen und was daraus wurde - 100 Jahre nach Sudeck.  Akt Rheumatol. 2000;  25 69-73
  • 14 Steinbrocker O, Spitzer N, Friedman H. The shoulder-hand syndrome in reflex dystrophy of the upper extremity.  Ann Int Med. 1948;  29 22-51
  • 15 Solomon L. Bone-marrow oedema syndrome (Editorial).  J Bone Joint Surg. 1993;  75 B 627-628
  • 16 Sudeck P. Über die akute (trophoneurotische) Knochenatrophie nach Entzündungen und Verletzungen an den Extremitäten und Traumen der Extremitäten.  Dtsch Med Wochenschr. 1902;  28 336-338
  • 17 Trostdorf E. Die Kausalgie. Thieme Stuttgart 1956
  • 18 Weber M, Neundörfer B, Birklein F. Morbus Sudeck - Pathophysiologie und Therapie eines komplexen Schmerzsyndroms.  Dtsch Med Wochenschr. 2002;  127 384-389

Autor

Prof. Dr. med. F. Schilling

Klinikum der Johannes Gutenberg Universität Mainz und Rheinland-Pfälzisches Rheuma-Zentrum

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