Zentralbl Chir 2002; 127(12): 1021-1022
DOI: 10.1055/s-2002-36372
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Adipositaschirurgie

Surgery for Morbid ObesityE. Hell1
  • 1A. ö. KH-Hallein und Ludwig-Boltzmann-Institut für Gastroenterologie und experim. Chirurgie, Hallein
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Publication Date:
03 January 2003 (online)

Keine chirurgische Subdisziplin hat im letzten Jahrzehnt eine derartige Zuwachsrate erfahren, wie die Adipositaschirurgie. Waren es 1996 noch etwa 30 000 Fälle, die sich einem bariatrischen Eingriff unterzogen, so sind es im Jahr 2000 mehr als 100 000 morbid adipöse Personen, an denen ein derartiger Eingriff weltweit vorgenommen wurde. Die Ursachen dafür liegen nicht nur darin, dass die laparoskopischen Techniken, die in fast allen Disziplinen der Chirurgie Einzug gehalten haben, seit Mitte der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts auch die bariatrischen Operationen ansteigen ließen, sondern auch in den beeindruckenden Ergebnisverbesserungen der letzten 20 Jahre, verglichen mit den praktisch unveränderten konservativen Therapieerfolgen, was den Nutzeffekt und die Zweckmäßigkeit dieser Chirurgie mehr und mehr augenscheinlich macht. Ein zusätzlicher Faktor ist das wachsende Problem der Adipositas, die von Internisten als die pandemische Erkrankung dieses Jahrhunderts angesehen wird. Man kann davon ausgehen, dass in den westlichen Industrieländern, leider aber auch in vielen unterentwickelten Ländern das Ausmaß der Adipositas und ebenso der morbiden Adipositas, pro Jahr um 1 % steigt, wie das F. Xavier Di-Sunyer, ein führender Adipositasexperte aus New York am 6. Weltkongress der International Federation for the Surgery of Obesity im September 2001 berichtete. Es ist der Patient, der in der Operation den letzten Ausweg aus einem medizinischen, psychologischen, sozialen, physischen und wirtschaftlichen Dilemma sieht.

Dieses Szenario spielt sich ab vor einer nicht zu übersehenden Gegnerschaft, die z. T. auch aus dem eigenen Kollegenkreis kommt. Es wird aber immer schwieriger, die bestmögliche Behandlung einer fortschreitenden Krankheit auf Dauer zu ignorieren mit dem Argument, es handle sich um keine kausale Therapie, wenn es in der Tat der einzige Weg ist, diese Krankheit unter Kontrolle zu halten oder zu kurieren, die ansonsten zu einem kostenaufwändigen Unvermögen bzw. Arbeitsunfähigkeit und frühem Tod führt. Auch wenn die angewandten Methoden erst seit 15 bis 30 Jahren propagiert werden und der statistische Beweis einer tatsächlichen Lebensverlängerung aufgrund des Zeitfaktors aussteht, so sind der Rückgang der medizinischen Komorbidität nach einem bariatrischen Eingriff sowie die psychologische, soziale, physische und wirtschaftliche Verbesserung bei zumindest 80 % der Patienten doch eklatant. Die Feststellungen eines Internisten zum Leitthema „Aktuelle Adipositaschirurgie” im Artikel „Perspektiven und Grenzen der Adipositasbehandlung” (Chirurg 2000; 71: 129-133) „Für chirurgische Behandlungsverfahren steht der Nachweis von Langzeitwirksamkeit im Sinne der Senkung des Mortalitäts- und Morbiditätsrisikos und der Therapiesicherheit aufgrund kontrolliert prospektiver Studien aus und so lange solche nicht abgeschlossen sind, mag man es für gesünder halten, übergewichtig zu sein, als sich invasiven chirurgischen Maßnahmen zu unterziehen”, können bestenfalls ein Schmunzeln abringen. Unter diesen Voraussetzungen dürfte eine Unzahl elektiver Operationsmethoden nicht routinemäßig angewandt werden, was im gleichen Ausmaß für viele Pharmaka gelten würde.

In der deutschsprachigen Bevölkerung sind bereits mehr als 30 % übergewichtig, mehr als 10 % sind adipös und 1 % der Bevölkerung muss als morbid adipös bezeichnet werden. In den neuen Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland erreichen die Frauen mit einem Bodymass-Index von mehr als 30 kg/m 2 bereits die 30 %-Grenze, womit diese Population zu den europäischen Spitzenreitern gehört und nur noch von den russischen Frauen übertroffen wird. Dieser Umstand stellt eine ernst zu nehmende Belastung der Gesundheitsstruktur der Bevölkerung dar und ist damit auch ein schwerwiegender Faktor der ökonomischen Überlegungen des Gesundheitssystems. In Deutschland betragen die direkten Kosten der Behandlung von Adipositas und deren Folgeerkrankungen etwa ein Viertel aller ernährungsbedingten Erkrankungen, das bedeutet etwa 7 % der gesamten Gesundheitsausgaben.

Von zumindest 700 000 Personen in Deutschland, die einen Body-mass-Index von 40 kg/m2 oder mehr haben und eine potenzielle Indikation für einen bariatrischen Eingriff darstellen, sind im Jahr 2000 etwa 2 000 Personen operativ behandelt worden. Erstaunlich ist, dass in den deutschsprachigen Nachbarländern Österreich und der Schweiz mit je ein Zehntel der Bevölkerung Deutschlands die gleiche Anzahl von Patienten operiert wurde. Die Ursachen liegen in einer mehr als restriktiven Verhaltensweise der Versicherungsträger, die sich ihrerseits auf z. T. groteske Begutachtungen und Urteile von Sozialgerichten berufen, die derartige Eingriffe als nicht zielführend erachten. Bemerkenswert ist, dass in weltweit 46 verschiedenen Ländern derartige Operationen sehr wohl als zielführend erachtet werden. Man konnte zeigen, dass operierte Patienten durchschnittlich weniger Krankheitstage aufweisen, weniger Medikamentenkosten verursachen und ein höheres Steueraufkommen und eine bessere Lebensqualität haben im Vergleich zu konservativ Behandelten, für die Unsummen für zum Großteil erfolglose, wie immer geartete Kuren bezahlt werden. In einer Grundsatzstellungnahme der Arbeitsgruppe M 7 „Krankenhaus” zu „Gastric banding” wird von einer Arbeitsgruppe der 3 Ärzte, die dem medizinischen Dienst der Krankenkassen angehören, unter dem Punkt sozialmedizinische Bewertung festgestellt: „letztendlich ist nicht sicher darzulegen, ob es sich bei Adipositas um eine Erkrankung an sich handelt”. Die WHO stuft Adipositas seit Jahren als eigenes Krankheitsbild ein. Die restriktive Haltung des medizinischen Dienstes deutscher Krankenversicherungen in Bezug auf bariatrische Chirurgie ist wohl eine wesentliche Ursache für den relativen Dornröschenschlaf dieser chirurgischen Fachdisziplin, die im restlichen Europa in einem bis zu zehnfachen Ausmaß, gemessen an der Bevölkerungszahl, praktiziert wird.

Unter allen Erscheinungsformen, die eine Person in unserer Kultur belasten können, ist das Stigma des extremen Übergewichtes das, welches den Menschen am meisten trifft. Extreme Übergewichtigkeit ist selten das Resultat eines unmoralischen - oder Suchtverhaltens. Adipöse haben keine spezifischen Persönlichkeitsmerkmale, sie sind psychisch nicht mehr und nicht weniger auffällig als Normalgewichtige. Adipositas ist eine multifaktorielle Erkrankung mit genetischen und umweltbedingten Komponenten.

Die Adipositaschirurgie hat eine Entwicklung durchgemacht, die durchaus vergleichbar ist mit anderen Operationsmethoden, wie z. B. die der Hiatushernie, dem peptischen Ulkus, der portalen Hypertension, des Mammakarzinoms, der Leistenhernie und Ähnlichen mehr. Die Risken der derzeit angewandten perfektionierten Techniken sind so gering und die Vorteile sowohl in Bezug auf die Reduktion der Morbidität, der Erhöhung der Lebensqualität, der Zufriedenheit der Patienten, der Reduktion der Mortalität sind so überzeugend positiv, dass die chirurgische Behandlung der morbiden Adipositas als eine etablierte und legitimierte Form der Behandlung angesehen werden muss. Inzwischen gibt es weltweit mehr als 50 nationale Fachgesellschaften für Adipositaschirurgie und seit 1996 eine Internationale Fachgesellschaft, die International Federation for the Surgery of Obesity (IFSO), die sich dieses Problems annehmen.

Die Frage der Entscheidung nach restriktiven oder malabsorptiven operativen Behandlungsformen liegt in der Patientenselektion. Studien mit psychologischer präoperativer Evaluation über Essverhalten können in Zukunft möglicherweise bessere Richtlinien in der Entscheidungsfindung liefern. Derzeit gibt es keine Fakten über Aussichten und Prognosen der präoperativen Beurteilung diesbezüglich. In Europa boomt das laparoskopisch implantierbare, verstellbare Magenband als die restriktive Operationsmethodik und hat alle anderen Techniken weitgehend verdrängt. Der Eingriff ist zu 100 % reversibel. In den USA ist der proximale Y-Roux-Magenbypass noch immer der Goldstandard in der chirurgischen Therapie der morbiden Adipositas. Die Langzeitresultate in Bezug auf Gewichtsabnahme und Lebensqualität sind deutlich besser als bei den rein restriktiven Methoden. Auch wenn in der Hand des erfahrenen Adipositaschirurgen die perioperativen Komplikationen der Malabsorptionsmethoden äußerst gering sind, liegen sie höher als beim verstellbaren Magenband und es handelt sich um einen so gut wie irreversiblen Eingriff. So gesehen wird die Diskussion zur Frage der Operationsmethode der Wahl kontroversiell geführt. Derzeit sollte ein schrittweises Vorgehen empfohlen werden, das bedeutet, dass man einem noch jungen Patienten eher einen restriktiven reversiblen Eingriff empfehlen sollte, der im Falle des Versagens noch immer in einen malabsorptiven umgewandelt werden kann, was umgekehrt nicht möglich ist.

Dem extrem adipösen, nicht mehr ganz jugendlichen Patienten mit mangelnder Compliance sollte aus derzeitiger Sicht möglicherweise eine Malabsorptionsmethode als Mittel der Wahl von vorneherein angeboten werden.

Prof. Dr. Emanuel Hell

Am Sonnenlehen 395

A-5084 Großgmain