Sprache · Stimme · Gehör 2003; 27(1): 1-3
DOI: 10.1055/s-2003-38000
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Gedächtnis: Neurowissenschaftliche Grundlagen - Störungen und deren Therapie - Aspekte der Entwicklung - Funktionsweise des Arbeitsgedächtnisses

G. Büttner
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Publikationsdatum:
19. März 2003 (online)

Funktionen des Gedächtnisses sind die Aufnahme (Enkodieren), das längerfristige Speichern (Behalten) und der Abruf von Informationen. Im Alltagsleben (z. B. bei der Wahrnehmung, beim Denken und Problemlösen, bei der Sprache, bei alltäglichen Routinehandlungen) nimmt das Gedächtnis einen zentralen Stellenwert ein. Z. B. ist bereits das Verstehen eines gesprochenen oder geschriebenen Satzes elementar davon abhängig, ob es gelingt, die am Satzanfang enthaltene Information mindestens so lange präsent zu halten, bis das Satzende erreicht ist. Um den vertrauten Weg zum Bäcker oder zur Arbeitsstelle zielsicher zu finden, ist es erforderlich, gespeicherte Information über diesen Weg abzurufen und verfügbar zu machen. In ähnlicher Weise wie soeben beschrieben sind in vielfältigen Situationen des Alltagslebens Aufgabenstellungen nur deshalb zu bewältigen, weil es uns gelingt, relevante Informationen über einen längeren Zeitraum aktiv im Bewusstsein präsent zu halten oder, falls erforderlich, inaktive Informationen durch Abrufprozesse in aktivierter Form wieder ins Bewusstsein zu holen.

Das Gedächtnis wird in der Psychologie seit mehr als hundert Jahren wissenschaftlich untersucht (z. B. [1] [2] [3]). Einen besonderen Aufschwung nahm die einschlägige Forschung mit der kognitiven Wende der Psychologie in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Theoretischer Hintergrund dieser kognitiv orientierten Forschung ist das Paradigma der Informationsverarbeitung, in dem zwischen gedächtnisrelevanten Strukturen und Prozessen unterschieden wird. Als bedeutsame Strukturen des Gedächtnisses gelten zum einen verschiedene Formen von Gedächtnisspeichern, in denen Information unterschiedlich verarbeitet wird. Zum anderen werden zu den Strukturen auch verschiedene Formen von Wissen über Fakten oder über Fertigkeiten gezählt, wobei vorausgesetzt wird, dass die Wissensformen stabil über einen längeren Zeitraum erhalten bleiben. Als gedächtnisrelevante Prozesse werden das Enkodieren, das Behalten und das Abrufen von Informationen angesehen [4].

Vor dem Hintergrund der Theorie der Informationsverarbeitung wurden verschiedene Modellvorstellungen zur Funktionsweise des Gedächtnisses entwickelt. Eine der Fragen, auf die von Anfang an unterschiedliche Antworten formuliert wurden, bezog sich auf die Anzahl und auf die charakteristischen Merkmale unterscheidbarer Gedächtnisspeicher. In der psychologischen Forschung gewann insbesondere das Dreispeichermodell von Atkinson und Shiffrin [5] eine große Bedeutung. Das Dreispeichermodell geht von einem Ultrakurzzeitgedächtnis (sensorischen Register) mit relativ großer Speicherkapazität und sehr geringer Speicherdauer (im Bereich von Millisekunden), einem Kurzzeitgedächtnis mit eng begrenzter Kapazität und einer vergleichsweise kurzen Speicherdauer (im Bereich von Sekunden) und einem Langzeitgedächtnis mit unbegrenzter Kapazität und einer potenziell unbegrenzten Speicherdauer aus. Eine Differenzierung und Ergänzung dieser Modellvorstellung wurde von Baddeley [6] initiiert. Er widmete sich in seinen eigenen Forschungen intensiv dem Kurzzeitgedächtnis und konzipierte es als ein aktives Verarbeitungssystem, das aus einer zentralen Exekutive und aus zwei Subsystemen (verbal und visuell-räumlich) besteht, in denen Information nicht nur für kurze Zeit passiv aufbewahrt wird, sondern durch Kontroll- und strategische Aktivitäten einem Veränderungsprozess unterliegt. Informationen werden in den Subsystemen aufgabenspezifisch so aufbereitet, dass sie bei aktuellen Aufgabenstellungen (z. B. beim Lesen eines Textes oder beim Addieren von Zahlen) zielgerichtet verwendet werden können. Dem aktiven Charakter seiner Konzeption entsprechend bezeichnete Baddeley [6] das Verarbeitungssystem nicht mehr als Kurzzeit-, sondern als Arbeitsgedächtnis (working memory).

Das Langzeitgedächtnis ist jener Teil des Gedächtnisses, in dem Informationen relativ stabil über einen längeren Zeitraum enthalten sind. Charakteristisch ist, dass die Inhalte des Langzeitgedächtnisses nicht isoliert voneinander abgespeichert sind. Vielmehr existieren zwischen den Inhalten Verbindungen und Verknüpfungen, die aus den Einzelinformationen ein zusammenhängendes System machen. Derart gespeicherte Information wird als Wissen bezeichnet. Das Langzeitgedächtnis gilt als ein Wissensspeicher, der nicht einheitlich strukturiert ist, sondern sich aus verschiedenen Komponenten zusammensetzt [7]. Dementsprechend werden aus psychologischer Perspektive mehrere Formen des Wissens unterschieden [8]. Von besonderer Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen deklarativem und nicht deklarativem Wissen. Das deklarative Wissen ist ein Wissen über Fakten (Wissen darüber, was etwas ist) und wird noch einmal unterteilt in episodisches/autobiografisches Wissen und in semantisches Wissen [9]. Episodisches/autobiografisches Wissen bezieht sich auf Gedächtnisinhalte, die auf persönlich erlebten Ereignissen beruhen. Die entsprechenden Gedächtnisinhalte weisen eine zeitliche und/oder eine räumliche Komponente auf. Semantisches Wissen umfasst demgegenüber abstraktes Weltwissen ohne Bezug zu persönlichen Erfahrungen (z. B. das Wissen, dass eine Uhr ein Gegenstand ist, mit dem Zeit gemessen werden kann). Zum nicht deklarativen Wissen zählt u. a. prozedurales Wissen über Fertigkeiten (Wissen darüber, wie etwas gemacht wird, z. B. Schnürsenkel zubinden).

Die Auffassung, dass das menschliche Gedächtnis keine einheitliche Größe darstellt, sondern sinnvollerweise in mehrere Gedächtnissysteme (verschiedene Gedächtnisspeicher, verschiedene Komponenten des Arbeits- und des Langzeitgedächtnisses) unterteilt werden muss, wird durch eine Reihe einschlägiger empirischer Befunde aus der psychologischen Forschung unterstützt: (1) Befunde von Patienten mit spezifischen Hirnschädigungen zeigen, dass je nach Ort und Ausmaß der Schädigung selektiv einer der Gedächtnisspeicher oder eine der Komponenten des Arbeits- bzw. des Langzeitgedächtnisses gestört sein kann [7] [10]. (2) Mit Hilfe moderner Aufnahmeverfahren konnte gezeigt werden, dass beim Abruf und bei der Verarbeitung von Inhalten des Langzeitgedächtnisses je nach Form des erforderlichen Wissens (z. B. semantisch vs. episodisch) unterschiedliche Strukturen des Gehirns beteiligt sind [11]. (3) Der Erwerb von deklarativem und nicht deklarativem Wissen (z. B. episodisch vs. prozedural) folgt unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten. Zur Vermittlung von episodischem Wissen eignen sich verbale Hilfsmittel (Vortrag oder Text), während der Erwerb von prozeduralem Wissen in erster Linie Demonstration und praktische Übung erfordert [12].

Im vorliegenden Themenheft zum Gedächtnis sind fünf Beiträge mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten enthalten. Als gemeinsamer theoretischer Hintergrund dient im weitesten Sinne der Ansatz der Informationsverarbeitung und das Mehrspeichermodell des Gedächtnisses. Auf diese Modellvorstellung wird direkt oder indirekt in allen Beiträgen Bezug genommen. Im ersten Beitrag von L. Pickenhain (Leipzig) werden wesentliche biologische Grundlagen der menschlichen Gedächtnistätigkeit dargestellt. Zunächst werden die unterschiedlichen Prozesse und Mechanismen, die dem Kurzzeit- und dem Langzeitgedächtnis zugrunde liegen, erläutert und den verschiedenen Formen des Gedächtnisses werden unterschiedliche Hirnstrukturen zugeordnet. Danach wird auf zeitliche Aspekte des Gedächtnisses eingegangen. Pickenhain verweist darauf, dass aufgenommene Informationen lediglich etwa für drei Sekunden im Bewusstsein präsent bleiben und als Gegenwart erlebt werden und anschließend subjektiv der Vergangenheit angehören.

M. Brand und H. J. Markowitsch (Bielefeld) erörtern anhand von Fallbeispielen und von Befunden aus klinischen Studien verschiedene Formen von Gedächtnisstörungen (Amnesien). Die Störungsformen werden in zwei große Bereiche unterteilt. Zunächst wird auf Beeinträchtigungen des Gedächtnisses eingegangen, die durch Schädigungen spezifischer Gehirnstrukturen bedingt sind. Die Vielfalt der beschriebenen Phänomene verdeutlicht die komplexe Beziehung, die zwischen den zahlreichen Facetten des menschlichen Gedächtnisses und den Strukturen des menschlichen Gehirns angenommen werden muss. Nach den organisch bedingten Störungen werden Amnesien erörtert, die durch psychische Traumata (z. B. durch Schockerlebnisse) bedingt sind.

R. Kaschel (Gießen) beschäftigt sich mit verschiedenen Möglichkeiten, Amnesien mit Hilfe von Gedächtnistrainings zu behandeln. Die Notwendigkeit solcher Trainings ergibt sich daraus, dass nach einer Hirnschädigung die Funktionstüchtigkeit des Gedächtnisses ohne Hilfestellung von außen erfahrungsgemäß nicht oder nur unzureichend wieder hergestellt wird. Bei Gedächtnistrainings ergibt sich das Problem, dass sie in unterschiedlichem Ausmaß wirksam sind. Kaschel geht näher auf diese Problematik ein und konzentriert sich auf Vorgehensweisen, die nachweislich die Verbesserung und die Rehabilitation von Gedächtnisleistungen fördern.

G. Büttner (Würzburg) thematisiert Entwicklungsaspekte des Gedächtnisses. In der entwicklungspsychologischen Forschung wurde in den letzten Jahrzehnten intensiv die Frage untersucht, worauf im Kindes- und Jugendalter Verbesserungen von Gedächtnisleistungen zurückzuführen sind. Als relevante Bedingungsfaktoren wurden die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses, das verfügbare Wissen im Langzeitgedächtnis (Vorwissen), das Wissen über das eigene Gedächtnis (Metagedächtnis) und das strategische Verhalten beim Erwerb von Wissen (Strategiegebrauch) identifiziert. Die vier Bedingungsfaktoren werden näher erläutert und zu jedem der vier Faktoren werden typische Entwicklungsveränderungen skizziert.

M. Hasselhorn und D. Grube (Göttingen) beschäftigen sich explizit mit dem Arbeitsgedächtnis. Sie erläutern zunächst in Anlehnung an Baddeley [6] die Struktur und die Funktionsweise des Arbeitsgedächtnisses und gehen anschließend auf Entwicklungsaspekte der zentralen Exekutive, des verbalen und des visuell-räumlichen Subsystems ein. Darauf aufbauend erörtern sie die Bedeutung von Beeinträchtigungen des phonologischen Arbeitsgedächtnisses (verbales Subsystem) für die dysphasische Sprachentwicklungsstörung (Dysgrammatismus), für Lernbehinderung und für Rechenschwäche. Die Befunde, die von Hasselhorn und Grube präsentiert werden, deuten darauf hin, dass ein beeinträchtigtes phonologisches Arbeitsgedächtnis bei jeder der drei Entwicklungsstörungen eine bedeutsame Rolle spielt.

Zusammen genommen bilden die fünf Beiträge ein breites Spektrum der gedächtnispsychologischen Forschung ab. Wir verbinden mit der Publikation dieser Beiträge die Hoffnung, den Leserinnen und Lesern der Zeitschrift Sprache - Stimme - Gehör einen Überblick über die vielfältigen Aspekte des Gedächtnisses gegeben zu haben, der auch in ihrer praktischen Tätigkeit von Nutzen ist.

Literatur zu diesem Artikel siehe S. 30

Literatur

  • 1 Ebbinghaus H. Über das Gedächtnis: Untersuchungen zur experimentellen Psychologie (unveränderte und ungekürzte Neuauflage der Erstveröffentlichung von 1885). Darmstadt; Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1985
  • 2 Müller G E, Pilzecker A. Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Gedächtnis. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Ergänzungsband 1, 1900
  • 3 Pohlmann A. Einfluss der Lokalisation auf das Behalten. In Pohlmann A (Hrsg.) Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Gedächtnis. Berlin; Gerdes & Hödel 1906: 91-138
  • 4 van der Meer E. Gedächtnis. In: Wenninger G (Hrsg.) Lexikon der Psychologie. Band 2. Heidelberg; Spektrum Akademischer Verlag 2001: 99-102
  • 5 Atkinson R C, Shiffrin R M. Human memory: A proposed system and its control processes. In: Spence KW, Spence JT (Eds.) The Psychology of Learning and Motivation. (Vol. 2). New York; Academic Press 1968: 90-197
  • 6 Baddeley A D. Working Memory. Oxford. Oxford University Press
  • 7 Squire L R, Knowlton B, Musen G. The structure and organization of memory.  Annual Review of Psychology. 1993;  44 453-495
  • 8 Mandl H, Spada H  (Hrsg.). Wissenspsychologie. München; Psychologie Verlags Union 1988
  • 9 Tulving E. How many memory systems are there?.  American Psychologist. 1985;  40 385-398
  • 10 Baddeley A D. Human Memory. Theory and Practice. Boston; Allyn and Bacon 1990
  • 11 Markowitsch H J. Dem Gedächtnis auf der Spur. Vom Erinnern und Vergessen. Darmstadt; Primus 2002
  • 12 Derry S J. Learning strategies for acquiring useful knowledge. In: Jones BF, Idol F (Eds.). Dimensions of Thinking and Cognitive Instruction. Hillsdale, NJ; Erlbaum 1990: 347-379