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DOI: 10.1055/s-2003-38009
Angebot und Nachfrage in der Psychotherapie
Demand and Supply in PsychotherapyPublication History
Publication Date:
20 March 2003 (online)
Psychotherapie hat seit mehr als 20 Jahren ein Problem: Psychotherapie wird nur marginal von jenen Personen in Anspruch genommen, die sie am meisten brauchen würden. Die direkten und indirekten Auswahlprozesse im System psychotherapeutischer Versorgung führen dazu, jene auszuschließen, die multiple Probleme haben, die sozial und bildungsmäßig benachteiligt sind und auch jene, die krankheitsbezogene Schwierigkeiten haben (z. B. Arbeitslosigkeit aufgrund von psychischen Störungen).
Der Effekt dieses Versorgungssystems ist, dass vor allem jene Personen Psychotherapie in Anspruch nehmen, die es sich leisten können. In der Regel bedeutet das aber auch, dass dies gerade jene Personen sind, die eine gute ökonomische Position haben und sich vermutlich schon dadurch beweisen, dass sie eine gewisse Ich-Stärke aufweisen. Diese Effekte sind seit 1958 [1] bekannt. Während in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Rahmen des Aufstieges der Sozialpsychiatrie noch Studien zu diesem Thema durchgeführt wurden, kam es in den 80er- und 90er-Jahren immer seltener dazu, dass sich die Forschung und die Praxis für dieses Thema interessierten. Die wenigen Untersuchungen der letzten Jahre, die zu diesem Thema stattfanden, haben gezeigt, dass die soziale Schicht der Patienten und die Form der Bezahlung der Psychotherapie (Selbstzahler, Krankenkasse, Vorauszahlung und Refundierung) und das Bildungsniveau ein wesentlicher Faktor dafür sind, ob jemand Psychotherapie in Anspruch nehmen kann oder nicht.
Wir haben es also auf der einen Seite mit einer Vielzahl von sozialen Faktoren zu tun, die über die Aufnahme einer Psychotherapie entscheiden. Wir wissen, dass im Gesundheitswesen grundsätzlich - anders als bei Konsumgütern - niemals ein Sättigungsgrad erreicht wird. D. h. Leistungen, die angeboten werden, werden auch in Anspruch genommen. Da in vielen europäischen Ländern traditionell die Krankenkassen zumindest einen wesentlichen Teil der Behandlungskosten in der Medizin finanzieren, stellt sich die Frage nach Kriterien der Behandlungsbedürftigkeit. In der Psychotherapie ist dies nicht leicht zu beantworten, da sie sowohl die Behandlung von Störungen als auch die Persönlichkeitsentwicklung für sich in Anspruch nimmt. Die Diskussion, welche Beschwerden, Symptome, subjektives Leiden oder Persönlichkeitsentwicklungen von der Solidargemeinschaft der Krankenkassenmitglieder finanziert werden soll, wird nicht geführt.
Exemplarisch könnte man den Konflikt etwa an Gerhard Schröder oder anderen Politikern und ihren vielfachen Eheschließungen festmachen. Wäre es zum Beispiel angemessen die Beziehungsprobleme, die sich darin zu spiegeln scheinen, über Krankenkassenkosten zu behandeln? Oder wäre dies Privatangelegenheit im Sinne einer Persönlichkeitsentwicklung? Oder ist es in diesem Fall ein öffentliches Interesse, dass ein Politiker die Möglichkeit Beziehungsfähigkeit zu entwickeln, bekommt?
Die fehlende Diskussion darüber, welche Leidenszustände über die Solidargemeinschaft der Krankenkassenmitglieder finanziert werden soll, wiederholt sich auffällig im Bereich publizierter Forschungsarbeiten. Im Gegensatz zu den 70er-Jahren sind Forschungsfragen und Forschungsergebnisse zum Problem inwieweit Bevölkerungsgruppen von der Psychotherapie durch die bestehenden Versorgungssysteme ausgeschlossen sind, bestenfalls Randthemen. Es scheint aber auch die Diskussion unter den TherapeutInnen zu fehlen, ob sie den Menschen, die soziale, ökonomische und Bildungsdefizite haben, überhaupt etwas anbieten wollen.
Literatur
- 1 Hollingshead A B, Redlich F C. Social Class and Mental Illness; A Community Study. New York; John Wiley & Sons 1958
Univ.-Doz. Dr. Elisabeth Jandl-Jager
Universitätsklinik für Tiefenpsychologie und Psychotherapie (AKH)
Währinger Gürtel 18 - 20
1090 Wien · Österreich