Psychiatr Prax 2003; 30: 1-2
DOI: 10.1055/s-2003-38554
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Editorial

EditorialGünter  Klug
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Publication Date:
11 April 2003 (online)

Dem Menschen in seiner Welt begegnen - ein noch immer ungelöstes Paradigma in der Sozialpsychiatrie.

Was bewegt einen Trägerverein in der sozialpsychiatrischen Versorgung, die Tagung und die Festschrift zu seinem 10-jährigen Bestehen unter dieses Thema zu stellen?

Dazu bedarf es einiger erklärender Worte. Die sozialpsychiatrische Entwicklung in der Steiermark, dem österreichischen Bundesland in dem der Verein „Gesellschaft zur Förderung seelischer Gesundheit” (GFSG) tätig ist, verlief nicht geradlinig.

Nach der Gründung der ersten gemeindenahen Beratungsstelle in Österreich versank die Entwicklung lange Jahre in einem Schlaf, der weniger an Dornröschen, sondern eher an eine bleierne Müdigkeit erinnert. Erst mit dem Beginn der 90er-Jahre kam Dynamik in die Entwicklung.

Von psychiatrischer Seite war die treibende Kraft dieser Entwicklung Prof. Dr. Hans Georg Zapotoczky, der 1990 an die Universitätsklinik für Psychiatrie in Graz berufen wurde. Ihm sind auch die Gründung und die Weiterentwicklung der GFSG zu verdanken.

Sein offenes Weltbild und seine Beweglichkeit über organisatorische und dogmatische Grenzen, hin zum Machbaren im Sinne der Klienten und Patienten, haben die GSFG aber auch die gesamte sozialpsychiatrische Entwicklung in der Steiermark geprägt.

Natürlich steht dieser Weg in der Tradition der österreichischen Psychiatrieentwicklung, zeigt aber einige interessante Eigenheiten.

Im Gegensatz zu den Nachbarländern Deutschland und Italien hat in Österreich keine Psychiatriereform stattgefunden. Das heißt nicht, dass sich die Psychiatrie in Österreich nicht entwickelt hat, sie hat nur einen anderen Weg gewählt. Es gab keine großen Reformkommissionen, keine gesetzlichen Kraftakte und keine signalgebenden Schließungen von stationären Einrichtungen.

Trotzdem gab es in den verschiedenen Bundesländern unterschiedlich schnelle Verbesserungen, Aufbau von gemeindenahen Strukturen, Abbau von stationären Betten und dem internationalen Trend vergleichbare Entwicklungen.

Der Begriff „Psychiatrieevolution” beschreibt diesen unspektakulären Weg noch am Besten. Teil diese Weges ist das Fehlen einer einheitlichen Regelung in diesem ohnehin nicht sehr großen Land. In jedem Bundesland, und sogar hier zum Teil regional unterschiedlich, entstand eine eigene Struktur.

In diesem Patchworkmodell ist die Steiermark noch besonders heterogen. In dieser flächenmäßig großen und teils gebirgigen Region leben 1,2 Millionen Menschen.

Sie wurde und wird von acht Trägervereinen aus unterschiedlichen inhaltlichen und regionalen Positionierungen heraus entwickelt.

Das führte zu unterschiedlichen Zugängen, aber allen ist gemeinsam, dass sie schon durch ihre geografische Nähe und die direkte Bezogenheit auf die Menschen in gutem und direktem Kontakt zu deren Bedürfnissen und Wünschen standen und stehen.

Der Anspruch, aber auch die Notwendigkeit, den Menschen in ihrer Welt zu begegnen, war und ist also Teil der Entwicklung.

Durch die Beibehaltung der vielfältigen Trägerstruktur konnte eine kompetitive Komponente, im Sinne eines Qualitäts- und Standardvergleichs, erhalten werden. Gleichzeitig ist es gelungen, durch den Zusammenschluss zu einem Dachverband Kommunikationsstrukturen zu entwickeln, die eine Diskussion über diese Inhalte möglich macht, und auch ein gemeinsames Auftreten nach außen in diesem Sinne erlaubt.

Diese anfänglich etwas mühsame Struktur hat sich im Laufe der Zeit als sehr wirksames und auch belebendes Konzept erwiesen. Mit der seit einigen Jahren vom Land Steiermark eingesetzten Psychiatriekoordinatorin ist es möglich, Planungsstrukturen zu schaffen, die den Menschen in ihren verschiedenen Welten begegnen. Wichtigstes Ziel ist das „Andocken” an den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen mit sozialen und psychischen/psychiatrischen Problemstellungen selbst. Schwerpunkt ist aber auch, die verschiedenen Welten der Betroffenen mit der der Angehörigen, Mitarbeiter, Vereinsleitungen, Öffentlichkeit und Politik in Einklang zu bringen.

Selbstverständlich ist eine vollständige Zufriedenheit all dieser Gruppen nicht möglich. Es scheint aber möglich, dass jede dieser Gruppen so viel Selbstbewusstsein und Toleranz entwickelt, dass es ihr gelingt, sich auf die Welt des anderen Einzulassen und Verständnis zu entwickeln. Durch die Anerkennung der verschiedenen Positionen ohne Abwertung, kann gemeinsam an der Entwicklung in diesem Bereich gearbeitet werden, auch wenn allen Beteiligten bewusst ist, dass sie sicher nicht alle ihre Ziele erreichen.

Dem Menschen in seiner Welt begegnen und sie auf diese Art lebenswert für alle Beteiligten zu machen, ist eine Grundprämisse in diesem Bereich, die natürlich in besonderem Maße in der Arbeit mit den Klienten Gültigkeit hat. Sie erleichtert aber auch die Zusammenarbeit zwischen allen betroffenen Gruppen.

Dies soll nicht heißen, dass dieser Grundsatz in der „Gesellschaft zur Förderung seelischer Gesundheit” oder in der Steiermark bereits voll umgesetzt ist.

Genauso wie wir Schritte im Ausbau der Versorgung getan haben und trotzdem noch sehr vieles fehlt, gab und gibt es ermutigende Schritte hin zu einem besseren gegenseitigen Verstehen.

Nach zehn Jahren bedarf es der Rückbesinnung auf die eigentlichen Werte in der Arbeit und einer Auffrischung der Motivation, auch wenn es dem Einzelnen, gerade im Alltag, nicht so bewusst ist.

In diesem Sinne war das Generalthema der Tagung ein wichtiger Anstoß für unsere Arbeit.

Als Thema dieser Sondernummer und durch den Inhalt der Artikel möchten wir einen Beitrag zur immer wieder notwendigen allgemeinen Aktualisierung dieses Themas liefern.