Allgemeine Homöopathische Zeitung 2003; 248(2): 93-94
DOI: 10.1055/s-2003-38822
Originalia

Karl F. Haug Verklag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & CO. KG

Entwicklung ist nötig - Antwort auf ein Manifest

Johannes Naumann, Harald Walach
  • Arbeitsgruppe Evaluation Naturheilverfahren und Umweltmedizin Universitätsklinikum - IUK
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Publication History

Publication Date:
22 April 2003 (online)

Einige Autoren des Manifests kennen wir persönlich und schätzen sie, andere dem Namen nach und schätzen sie nicht minder. Unser Kommentar ist nicht ad personam, sondern zur Sache zu verstehen.

So sehr wir den Wunsch der Autoren des Manifests verstehen, Missbrauch des Namens und der Tradition der Homöopathie verhindern zu wollen, so führen die Forderungen unserer Meinung nach doch zu weit. Manche davon gehen sowohl historisch als auch sachlich von falschen Voraussetzungen aus.

Es wird gefordert, Wissen nur aus reiner unverfälschter Beobachtung der Arzneiwirkung zu schöpfen. Wir Menschen der Moderne wissen jedoch nur zu gut, dass es trotz allen Bemühens eine reine unverfälschte Beobachtung gar nicht gibt, denn wir alle haben unsere Erfahrungen und Geschichte und nehmen vor diesem Hintergrund sehr unterschiedlich wahr. Die „theory ladenness - Theoriebeladenheit” (Hanson) [[1]] aller Beobachtung ist eine zentrale Erkenntnis der modernen Wissenschaftstheorie, mit der der Positivismus von der wissenschaftstheoretischen Bühne verabschiedet wurde. Zwar gibt es selbstverständlich immer noch die gute Tradition der Phänomenologie, auf die sich die Homöopathie beruft, aber auch diese kann um die zentrale Grunderfahrung der modernen Erkenntnis nicht herum, dass es so etwas wie eine reine, unverstellte, unvermittelte Wahrnehmung nicht gibt. Man kann sie zu kultivieren versuchen. Sie ist aber eher Zielpunkt als Ausgangspunkt der Wissenschaft. Außerdem muss alle Beobachtung sprachlich vermittelt werden und unterliegt somit den semantisch-semiotischen Regeln der jeweiligen Zeit. Schon hier beginnen Übersetzungsprobleme etwa der Prüfersprache Hahnemanns in unsere heutige Sprache, die nie zu umgehen sind.

Es ist auch nicht zu verstehen, warum das, was wir so unverfälscht zu beobachten glauben, nicht etwas „Metaphysisches” als Ursache haben soll.

Wir wissen leider auch heute noch nicht, wie Homöopathie wirkt und können deshalb solche Erklärungsmodelle nicht prinzipiell ablehnen und sind teilweise auch auf Spekulationen angewiesen. Auch Hahnemann hat sich am Ende von seinem puristischen Ideal verabschiedet und notgedrungenerweise Theoriekonzepte angeboten - Lebenskraft, geistartige Arzneiwirkung, etc. Ohne Theorie funktioniert gar nichts im Leben. Die Frage ist nicht, Theorie oder nicht, sondern welche Art von Theorie. Hier ist es am ehrlichsten zu sagen, wir haben noch keine gute Theorie und deswegen ist es nötig, verschiedene Modelle zu testen und nach ihren Konsequenzen zu befragen.

Unser Bemühen sollte sein, uns so rational wie möglich auch mit neuen Ideen in der Homöopathie auseinanderzusetzen und nicht, dieses auf Abgrenzung zu richten. Auch historisch ist eine wie hier geforderte Abgrenzung nicht zu verstehen. Wie lässt sich Hahnemanns Miasmenlehre, die ja nicht nur auf Arzneimittelprüfungen basiert, in diese geforderte Homöopathie einordnen? Wie die Arzneimittelbilder Kents oder die Essenzen von Vithoulkas? Wie die Heuschnupfenstudien von Reilly mit nicht geprüften isopathischen, aber potenzierten Allergenen?

Ist eine Arzneimittelprüfung in Form einer Verreibung schlechter als eine mit Einnahme von Globuli, wenn nur die beobachteten Symptome notiert werden?

Wie können wir die neuen Arzneimittelprüfungen, doppelblind und mit Placebo, mit ihren verblüffenden Ergebnissen einordnen, bei denen immer wieder erstaunlich spezifische Symptome in der Placebogruppe beobachtet werden?

Wir meinen, eine Offenheit, eine Kennzeichnung der Methoden und Quellen, die verwendet werden, ist sinnvoll. Eine Ausgrenzung, fehlende Experimentierfreude oder Beschneidung möglicher Ideen dagegen wird der Entwicklung der Homöopathie eher schaden.

Hahnemanns Kennzeichen war trotz aller Rechthaberei und Streitsucht doch im Kern eine empirische Offenheit für die Erfahrung. Wir möchten alle ermuntern, letzteres als das wahre Erbe der Homöopathie zu sehen und sich von den Schattenseiten - dogmatischen Flügelkämpfen und Beharren auf der vermeintlich reinen Lehre - zu distanzieren. Wenn es eine Konstante in Hahnemanns Leben und in seinem Wirken für die Homöopathie gibt, dann diese: Er hat bis zuletzt seine Meinungen immer wieder revidiert, neue Erkenntnisse produziert und integriert, seiner eigenen Theorie, gestern publiziert, in seinen aktuellen Handlungen laufend selber widersprochen. Wäre er 200 Jahre alt geworden, er würde noch immer an einer Weiterentwicklung arbeiten. Insofern sollte man Homöopathie im Bewusstsein der Unabgeschlossenheit dieses Projekts und nicht in der Sicherheit bleibenden Wissens für die nächsten Jahrhunderte betreiben.

Literatur

  • 01 Hanson N. Patterns of Discovery. Cambridge; University Press 1958

Anschrift der Verfasser:

Johannes Naumann
Harald Walach

Arbeitsgruppe Evaluation Naturheilverfahren und Umweltmedizin
Universitätsklinikum - IUK

Hugstetter Str. 55

79106 Freiburg

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