Dtsch Med Wochenschr 2003; 128: S5-S6
DOI: 10.1055/s-2003-39118
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Deutsch-Österreichische Leitlinien für Diagnostik und Therapie

German-austrian guidelines for diagnostics and treatmentN. H. Brockmeyer1
  • 1Klinik für Dermatologie und Allergologie der Ruhr Universität Bochum
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
08. Mai 2003 (online)

Prof. Dr. N. H. Brockmeyer, Bochum

Die Entwicklung der HIV-Therapie zeichnet sich durch ein hohes Maß an Dynamik aus. Sie basiert auf der großen Geschwindigkeit, mit der in den letzten Jahren neu- bzw. weiterentwickelte antiretrovirale Medikamente erprobt und für die Behandlung zugelassen wurden. Entscheidende Kriterien sind dabei die hinsichtlich Wirkung und Nebenwirkung gute Kombinierbarkeit mit den schon vorhandenen Substanzen, die Erhaltung bzw. Ausdehnung alternativer Therapieoptionen in der Zukunft und die Vereinfachung der Therapie für den Patienten z.B. „once daily application” zur Verbesserung der Compliance/Adhärenz.

Das Wissen über den fachgerechten Einsatz der Kombinationstherapien hat bei gleichzeitig gestiegener Lebensqualität zu einer sich über Jahre bis Jahrzehnte erstreckenden Verlängerung der Lebenserwartung der Erkrankten geführt. In der Folge wurden bei den HIV-Infizierten berechtigte Hoffnungen auf neu zu entdeckende Lebensperspektiven und bei den mit HIV kontaminierten Personen die Hoffnung auf Verhinderung der Serokonversion bzw. der Infektion geweckt. In diesem Sinne geben die vier in diesem Sammelband zusammengefassten Deutsch-Österreichischen Leitlinien nicht nur Antwort auf die Frage, wie heute ein HIV-Infizierter therapiert werden sollte und wie eine Postexpositionsprophylaxe durchgeführt wird, sondern sie sind auch Leitlinien zur Beratung und ggf. Behandlung, wenn es um die Verwirklichung persönlicher Lebensziele wie z.B. den immer häufiger geäußerten Kinderwunsch geht.

Die Deutsch-Österreichischen Leitlinien wurden gemäß den von der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) definierten Standards entwickelt [1]. Entscheidend sind hierbei eine nach den Kriterien der „evidence based medicine” durchgeführte Literatursuche, eine multidisziplinäre Konsensus- und Delphikonferenz mit ständiger Beteiligung von Patientenorganisationen sowie das anschließende Review durch nicht direkt am Konsensusprozess beteiligte wissenschaftliche Fachgesellschaften. Die Therapieleitlinien für Erwachsene liegen in der dritten, die für Schwangere und für die Postexpositionsprophylaxe in der zweiten Fassung vor und entsprechen jeweils der Stufe 2 der AWMF-Leitlinienentwicklung. Die Leitlinien für HIV-diskordante Paare mit Kinderwunsch liegen in der ersten Fassung vor und entsprechen der 1. Stufe der AWMF-Leitlinienentwicklung.

Allen überarbeiteten Leitlinien ist gemeinsam, dass sie bezüglich neuer Therapieoptionen und Bewertungen des Nebenwirkungsprofils der Medikamente aktualisiert wurden.

Die Therapieleitlinien für Erwachsene sind mit Modifikationen die Basis aller Deutsch-Österreichischen Leitlinien. In diese wurden bei der Überarbeitung die ausführlichsten Modifikationen vorgenommen. Der Beginn der HIV-Therapie wurde aufgrund von Surrogatmarker-Studien und nach Meinung der Experten ab 350 CD4+-T-Lymphozyten in Abhängigkeit von der Viruslast neu definiert. Im Hinblick auf neue Therapieoptionen und neue Studienergebnisse zum Verlauf der HIV-Infektion wird der Beginn der HIV-Therapie auch bei zukünftigen Bearbeitungen Diskussionspunkt bleiben. Auch die Frage, wann Resistenztestungen durchzuführen sind, wurde neu bewertet und die Empfehlung aufgrund vorliegender neuer Studienergebnisse eindeutiger ausgesprochen. Aufgenommen in die Leitlinie wurde ebenfalls das Medikamentenmonitoring bei Therapieversagen, die Beschreibung von möglichen Wechselwirkungen antiretroviraler Medikamente und die Bewertung von Therapiepausen.

Die Leitlinien für HIV-diskordante Paare mit Kinderwunsch waren aufgrund der neuen Lebensperspektiven der Betroffenen notwendig und waren die ersten zu dieser Frage weltweit. Diese Leitlinien stellten die besondere Herausforderung, dass sie nicht nur medizinisch, sondern auch zum Schutze von Behandlern und Patientinnen juristisch sicher abgefasst sein mussten. So ist dies die einzige Leitlinie, an der auch Juristen mitgearbeitet haben. Insbesondere wurde das Vorgehen diskutiert, wie weit eine aktive Hilfestellung zur Realisierung des Kinderwunsches bei der HIV-infizierten Frau möglich ist. Diese Diskussion muss im Hinblick auf weitere Erfolge bei der Behandlung HIV-infizierter schwangerer Frauen in einiger Zeit mit Sicherheit neu geführt werden.

Die Leitlinien zur HIV-Therapie in der Schwangerschaft wurden insbesondere in den Kapiteln „Vorgehen bei unvollständiger und bei risikoadaptierter Transmissionsprophylaxe” überarbeitet und neue Therapieoptionen aufgenommen. Es wurde eine Bewertung von HIV-Schnelltestergebnissen vorgenommen und ein Kapitel zur Versorgung des Neugeborenen im Kreißsaal eingefügt. Die Leitlinien wurden für die wesentlichsten therapeutischen Indikationen mit einem hohen Empfehlungsgrad versehen. Dies ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil - wie auch bei der Postexpositionsprophylaxe - aus ethischen Gründen nicht zu allen Fragestellungen Studien durchführbar sind. Bedeutsam ist, dass die schon in der ersten Fassung präferierte Kombinationstherapie aus Sektio und antiretroviraler Behandlung nun auch in internationalen Leitlinien etabliert ist [2]. Die Bedeutung dieser Leitlinie lässt sich daran ablesen, dass bei einer lege artis durchgeführten Therapie in der Schwangerschaft das Transmissionsrisiko in der Bundesrepublik Deutschland unter einem Prozent liegt (Quelle Robert Koch-Institut).

Eine ähnliche Bedeutung haben die Leitlinien zur Postexpositionsprophylaxe. Seit Beginn der Epidemie in der Bundesrepublik Deutschland 1982 wurden ca. 50 Fälle im Gesundheitswesen als beruflich akquirierte HIV-Infektion anerkannt [3]. Unter ihnen wurde in zehn Fällen die Infektion in Hochprävalenzländern erworben. Ein eindeutig gesicherter Übertragungsweg konnte in acht Fällen beschrieben werden. Bedeutsam ist, dass nach einer entsprechend den Leitlinien durchgeführten Postexpositionsprophylaxe keine Serokonversion aufgetreten ist (J. Jarke, BUG- Hamburg, persönliche Mitteilung). Die Modifikation der Leitlinien betrifft u.a. die Neubewertung der einzusetzenden Medikamente, insbesondere die Behandlung bei Auslandseinsätzen in Ländern mit hoher HIV-Prävalenz.

Die vorliegenden Leitlinien sind das Ergebnis eines mittlerweile 5 Jahre dauernden Diskussionsprozesses. Sie zielen darauf hin, in der ärztlichen Berufspraxis unter Berücksichtigung systematisch entwickelter Entscheidungshilfen unnötige medizinische Maßnahmen und Kosten zu vermeiden und unerwünschte Qualitätsschwankungen im Bereich der ärztlichen Versorgung zu vermindern.

Damit sie ständig einen aktuellen Stand aufweisen, beschäftigt sich eine Kommission kontinuierlich mit der Weiterentwicklung. Über die bestehenden Leitlinien hinaus werden Leitlinien zur Salvage-Therapie, zur Behandlung der mit der HIV-Therapie verbundenen Nebenwirkungen, zur Behandlung HIV-assoziierter Erkrankungen (opportunistische Infektionen und Tumoren) und zur Prävention und Behandlung von Genitalkarzinomen erarbeitet.

Es ist zu berücksichtigen, dass sich die HIV-Behandlung zu einer komplizierten Spezialtherapie entwickelt hat, die zumindest eine Supervision von entsprechend spezialisierten Zentren erfahren muss.

Obwohl seit langem beantragt, sind Resistenztestungen nicht in die Regelversorgung zu Lasten der Versicherungsträger aufgenommen. Um Schaden von Patienten durch Therapieversagen und Neuinfektionen abzuwenden, muss entsprechend den Leitlinien eine Resistenztestung zu Lasten der Krankenversicherer möglich sein. Bei Schwangeren findet sich in bis zu 17% der Fälle eine AZT-Resistenz [4].

Der Bereich der HIV-Infektion ist zur Zeit einer der innovativsten und erfolgreichsten der Medizin. Indikatoren sind die erreichte Verlängerung der Lebenserwartung, die z.B. im Vergleich mit der koronaren Bypass-Operation geringen Therapiekosten pro Jahr Lebenszeitverlängerung und die Erhaltung der Arbeitsfähigkeit [5]. Trotzdem wurde die HIV-Erkrankung vom Kommissionsmodell „off label use”, wie es für die Onkologie gilt, ausgenommen. Um die erreichten Therapieerfolge nicht zu gefährden, wird ein solches Modell auch für die Therapie der HIV-Infektion und ihrer assoziierten Erkrankungen benötigt.

Das Ziel der Deutschen AIDS-Gesellschaft, Leitlinien der AWMF-Stufe 3 zu etablieren, wird weiterverfolgt. Ich danke allen beteiligten wissenschaftlichen Gesellschaften und Institutionen aus Deutschland und Österreich sowie den Selbsthilfeorganisationen, insbesondere der Deutschen AIDS-Hilfe für die fruchtbaren Diskussionen und die Bewältigung des großen Arbeitsaufwandes.

Literatur

  • 1 Kopp I, Encke A, Lorenz W. Leitlinien als Instrument der Qualitätssicherung in der Medizin.  Bundesgesundheitsbl-Gesundheitsforsch-Gesundheitsschutz. 2002;  45 223-233
  • 2 Newell M L, Rogers M. Pregnancy and HIV infection: A European Consensus on management.  AIDS. 2002;  16 218-231
  • 3 Jarke J, Marcus U. Berufsbedingte HIV-Infektionen bei medizinischem Personal - eine aktuelle Übersicht.  Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed. 2002;  16 218-231
  • 4 Palumbo P. et al. . Antiretroviral resistance mutations among pregnant human immunodeficiency virus type 1-infected women and their newborns in the United States: vertical transmission and clades.  J Infect Dis. 2001;  184 1120-1126
  • 5 Moore R D, Bartlett J G. Combination antiretroviral therapy in HIV infection: an economic perspective.  Pharmacoeconomics. 1996;  10 109-113

Prof. Dr. N. H. Brockmeyer

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