Dtsch Med Wochenschr 2003; 128(22): 1252
DOI: 10.1055/s-2003-39457
Leserbriefe
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Kommentar zur ALLHAT-Studie

Zum Beitrag aus DMW 5/2003
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Publication Date:
28 May 2003 (online)

„ALLHAT ist nun wirklich ein „gelungenes“ Beispiel dafür, dass auch das Design einer großen Studie an der Wirklichkeit vorbeizielen kann. Das tut diese Studie sehr deutlich. Der Grund: die Planung ist mindestens 10 Jahre alt.

1. Es fehlt ein primärer Arm mit Betablockern, der natürlich sehr interessant wäre. Daher kann man weiter behaupten, dass Betablocker in die erste Reihe gehören, ohne sich um den direkten Vergleich bemühen zu müssen, denn der ist nicht vorhanden. Da aber sehr viele der Patienten in ALLHAT aufgrund einer KHK oder anderer kardialer Erkrankungen einschließlich Diabetes mellitus eine primäre Doppelindikation für einen Betablocker hatten (geschätzt zusammen fast 50 %), ist zumindest für dieses Kollektiv der primäre Ausschluss eines Betablockers fast unethisch. Die Stellungnahme einer Ethikkommission hierzu wäre wirklich sehr hilfreich. Andererseits hat die CAPPP-Studie eindrucksvoll belegt, dass eine konventionelle Therapie aus Diuretika und/oder Betablockern einer modernen ACE-Hemmer-Therapie gleichwertig ist.

Darin widerspricht die CAPPP Studie den ALLHAT-Ergebnissen noch zusätzlich, wobei allerdings der Beitrag der Betablocker in CAPPP für sich nicht eindeutig auszumachen ist.

2. Der große Stellenwert der Diuretika in der antihypertensiven Therapie ist unbestritten und war schon vor ALLHAT bekannt. Leider sind aber die Compliance bzw. Persistenz für Diuretika am schlechtesten von allen Gruppen der Antihypertensiva, und die Notwendigkeit einer ständigen Elektrolytüberwachung macht diese Therapie in der Praxis daher durch Nichtfortführung leider relativ erfolglos. Was nützt die beste Therapie, wenn sie nicht eingenommen wird? In diesem Sinne kann eine Untersuchung unter Studienbedingungen, die ja Complianceprobleme antagonisiert, natürlich überhaupt nicht weiterhelfen.

3. Es wurden Kombinationen angewandt, immerhin bei fast jedem zweiten Patienten, die Atenolol, Clonidin oder Reserpin enthielten. Die letzten beiden Medikamente sind heute in den vorderen Reihen der Therapie obsolet und damit leider auch große Teile der Studie. Die Kombinationen folgen nicht unbedingt den üblichen Aufbauempfehlungen, also hatten natürlich viele Patienten, die eigentlich ein Diuretikum brauchten (z. B. unter primärer ACE-Hemmung) eine der oben genannten Substanzen.

4. Wir haben in den letzten 10 Jahren über die der Antihypertensiva so vieles hinzugelernt, gerade im Blick auf die begleitenden Erkrankungen, dass heute Endorganschutz, vor allem aber die Compliance eine deutliche Rolle spielen müssen. Das ist natürlich auch im Hinblick auf moderne, teure Antihypertensiva wichtig. Die Angiotensin-Antagonisten, die diesem Aspekt am meisten gerecht werden, mussten naturgemäß ausgelassen werden. Für die Betablocker, die aufgrund der bei Hypertonie häufig vorkommenden kardialen Komplikationen vorzuziehen wären, gibt es derartige differenzaltherapeutische Überlegungen auch.

5. Wer also aus der ALLHAT Studie den simplen Schluss ableitet: „Der Blutdruck muss runter, egal womit, Hauptsache billig“, schraubt die Uhr um mindestens 10 Jahre zurück. Er übersieht, dass der ganze Komplex Betablocker „vergessen“ wurde, und dass die Propagierung der Diuretika in der Praxis sehr häufig zur schlechtesten Therapie, nämlich der Nichttherapie, führt.

6. Das Problem der Auswahl der Primärtherapie ist viel kleiner als landläufig angenommen. Es gibt gute Untersuchungen, dass der „alte“ Zielwert von 140/90 mmHg bei nur 37% der Patienten mit einer Monotherapie erreicht werden kann ([2]). Andererseits wird zukünftig ein Zielwert von 130/85 mmHg anzustreben sein ([3]), der unter Monotherapie noch seltener zu erreichen ist. Die ALLHAT-Studie beschäftigt sich trotz ihrer gigantischen Ausmaße also mit einem „Nebenkriegsschauplatz“ und das mit lückenhaften, z. T. obsoleten Mitteln.

7. Wenn man eine Reihenfolge der Bedeutung von Ansprüchen der antihypertensiven Therapie angibt, dann sieht es auch nach ALLHAT so aus:

eine antihypertensive Therapie ist besser als keine. die Auswahl der bei den meisten Patienten zu kombinierenden Therapiemuss sich an Begleiterkrankungen und Compliance orientieren. der Preis der Therapie sollte bei der unter b) genannten Patientengruppe sekundär sein. ALLHAT ist eine wichtige Studie, die aber „einen Dinosaurier beschreibt und die inzwischen aufgetretenen, gewandten und erfolgreichen Säugetiere weitgehend ignoriert“.

8. Im Sinne der Fragestellung gibt es auch nach ALLHAT gute Gründe, für eine adäquate antihypertensive Therapie finanzielle Mittel bereitzustellen: Fortschritt hat seinen Preis, aber der Fortschritt ist in der ALLHAT-Studie aufgrund ihrer langen Laufzeit nicht ausreichend abgebildet.

Diesem Problem stehen alle Hochdruckstudien, aufgrund der in der Regel langen Laufzeit gegenüber, wodurch aktuellen Erkenntnissen dann nicht in ausreichendem Maße Rechnung getragen werden kann. Daher ist die Evidenzbildung in der antihypertensiven Therapie so viel schwieriger als z. B. in der Herzinsuffizienztherapie.“

Literatur

  • 3 Hansson L. et al . Effects of intensive blood pressure lowering and low-dose aspirin in patients with hypertension: principal results of the Hypertension Optimal Treatment (HOT) randomised trial.  Lancet. 1998;  351 1755-62

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. M. Wehling

Institut für Klinische Pharmakologie, Klinikum Mannheim gGmbH

Theodor-Kutzer-Ufer

68167 Mannheim