PiD - Psychotherapie im Dialog 2003; 4(2): 198-201
DOI: 10.1055/s-2003-39516
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Forschung im Brennpunkt

Heinrich  Küfner, Monika  Vogelgesang, Petra  Schuhler
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Publication Date:
27 May 2003 (online)

PiD: Es war ein langer Weg von den Anfängen der Alkoholismustherapie, die etwa bei Karl Jaspers verordnet werden können, bis zur systematischen Empirie unserer Tage. Jaspers, der zu Recht als fortschrittlich galt, hat den Süchtigen noch als „psychopathisches Individuum” charakterisiert und Bleuler unterschied 1949 die Alkoholiker in Willensschwache, Kraftmenschen, frohe Menschen und fröhliche Gesellschaftsmenschen. Wie hat sich die Sicht auf den abhängigen Menschen verändert und wie wird Abhängigkeit heute in der empirischen Forschung definiert?

H. Küfner: Die Ausdehnung des Krankheitsbegriffs auf den Bereich Alkoholismus und die allmähliche Anerkennung gestörten Verhaltens auch ohne körperliche Grunderkrankung als Krankheit eigener Art führte zu einer Herausnahme der Sucht aus dem moralischen Modell in ein Krankheitsmodell mit dem Charakteristikum der Entlastung von Schuld und Verantwortung einerseits und der Zuordnung von Hilfebedürftigkeit, pathologischer Gestörtheit und relativer Ohnmacht gegenüber der Droge andererseits. Gegen die Nachteile des einseitig ausgelegten Krankheitsbegriffs hat vor allem die Antipsychiatrie und kritische Psychologie der 70er- und 80er-Jahre (Diagnose als Etikettierung und soziale Benachteiligung) Stellung bezogen.
In der empirisch ausgerichteten Forschung hat sich eine operationalisierte und beschreibende Definition der Sucht mit dem Kern des Abhängigkeitssyndroms nach Edwards und Gross (1976) durchgesetzt, wie sie beispielsweise in der ICD-10 oder DSM-IV zum Ausdruck kommt. Dabei war strittig, ob die körperliche Abhängigkeit (als Entzugserscheinungen definiert) oder die psychische Abhängigkeit als Craving und Mangel an Kontrollfähigkeit den Kern der Abhängigkeit darstellt. In den letzten Jahren hat man mit Recht die psychische Abhängigkeit unabhängig davon, ob sie mehr biologisch oder psychosozial verstanden wird, in den Mittelpunkt gestellt.
Eine rein deskriptive Definition der Abhängigkeit hat den Vorteil, sich unter Experten leichter verständigen zu können, aber auch den Nachteil, dass funktional wenig über die Bedingungen der Störung ausgesagt ist. Weiterhin ist offen, ob man von einer dimensional konzipierten graduellen Abhängigkeit oder besser von einem qualitativ-dichotomen Abhängigkeitsbegriff ausgehen sollte.
Die Annahme eines bio-psycho-sozialen Grundmodells ist ein ausreichend umfassender Ausgangspunkt für alle möglichen Einflussfaktoren. Für die psychosoziale Therapie stellt Sucht ein gelerntes Verhalten dar, das begrifflich ebenfalls breit genug ist, wenn damit nicht nur soziales Lernen, sondern auch schwer oder kaum mehr veränderbare Prägungsvorgänge sowie neuroplastische Veränderungen im ZNS gemeint sind. Für die unterschiedlichsten Formen von Interventionen (Prävention, Frühinterventionen) ist die Unterscheidung eines Public Health Ansatzes, mit einer bevölkerungsbezogenen Perspektive und einem therapeutischen, rehabilitativen Ansatz mit einer patientenorientierten Perspektive hilfreich.
Die neurobiologische Forschung hat sich primär mit dem Belohnungszentrum (Nucleus accumbens, limbisches System) und phänomenologisch mit dem Craving, jedoch kaum mit dem Kontrollsystem des süchtigen Verhaltens beschäftigt. Beides gehört aber zusammen betrachtet, wenn man süchtiges Verhalten verstehen will. Die neurobiologischen Forschungsergebnisse über neuroplastische Veränderungen durch den Konsum psychotroper Substanzen lässt die Sucht verstärkt als Gehirnkrankheit erscheinen, wobei offen gelassen wird, was darunter im Einzelnen zu verstehen ist. Verhalten ist ja stets an neurobiologische Prozesse gekoppelt und kann zu relativ stabilen neurobiologischen Veränderungen führen, hat also dort ein überdauerndes biologisches Substrat, das global als Suchtgedächtnis bezeichnet wird.

PiD: Die Behandlungserfolgsmessung braucht ein Referenzsystem, in dem Veränderung gemessen werden kann. Dies zu bestimmen scheint bei der Abhängigkeit einfach: Abstinenz bei Abhängigkeit bzw. Reduzierung des Konsums bei schädlichem Gebrauch. Wie sind diese Messgrößen zu werten, haben wir es da nicht mit Indikatoren zu tun, die auf höchst verdeckte Weise Auskunft geben über eine posttherapeutische Entwicklung?

H. Küfner: Bei der Erfolgsmessung im Suchtbereich ist der Konsum psychotroper Substanzen sicherlich weiterhin primäres Erfolgskriterium, aber besonders bei einer Therapieevaluation sind sekundäre Erfolgskriterien, wie körperliche Gesundheit, psychische Gesundheit, Arbeitsbereich und soziale Beziehungen ebenfalls unverzichtbare Beurteilungsaspekte. In der Evaluationsforschung erlaubt eine multidimensionale Erfolgserfassung eine differenzierte Beurteilung der Therapiewirkung (s. Dokumentationsstandards der DG-Sucht 2001). Der frühere relative Konsens über das Therapieziel Abstinenz ist mit dem Public Health Ansatz stärker infrage gestellt worden und dort auch nicht mehr sinnvoll, da es sich häufig um einen Missbrauch bzw. schädlichen Gebrauch, aber nicht unbedingt um Abhängige handeln muss. Auch die Therapie Drogenabhängiger kann sich nicht mehr allein auf die Abstinenz - außer als Fernziel - ausrichten, sondern orientiert sich zunächst am Ziel der Schadensminimierung.
Als Indikatoren geben die Erfolgskriterien nur indirekt Auskunft über die Veränderungen des dem Drogenkonsum zugrunde liegenden individuellen Verhaltensprogramms, das sich wahrscheinlich erst posttherapeutisch im Sinne einer neuen Verhaltensgewohnheit bzw. biologisch als neuronale Veränderungen stabilisiert. Eine direkte Erfassung dieses neuropsychischen, nicht klar definierten Verhaltensprogramms gibt es bislang nicht und wird es wahrscheinlich wegen des Komplexitätsgrades, der individuellen Unterschiede und der verschiedenen Einflussebenen auch nicht geben.

PiD: Unter dem Stichwort „Komorbidität bei Abhängigen” wurden in den letzten Jahren die begleitenden oder vielleicht auch verursachenden psychischen Störungen, aber auch die begleitenden körperlichen Erkrankungen bei der Sucht immer stärker in den Blick genommen. Glauben Sie, dass den psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder auch den häufigen Persönlichkeitsstörungen in der Suchttherapie genügend Rechnung getragen wird?

H. Küfner: Bei der Komorbidität wird zwischen den Achse-1-Störungen und den Achse-2-Störungen, also den Persönlichkeitsstörungen, unterschieden. Die Persönlichkeitsstörungen sind von der Suchtentwicklung m. E. kaum zu trennen. Sie wurden von der Verhaltenstherapie erst in den letzten Jahren genauer entdeckt und in ihrer Bedeutung für die Therapie erfasst (siehe z. B. die Borderline-Störung in der dialektisch-behavioralen Therapie von Linehan). Eine suchtspezifische Persönlichkeit konnte bislang allerdings nirgends bestätigt werden. Ausgeprägte Persönlichkeitsstörungen können die Therapie erheblich erschweren und erfordern unter Umständen auch eine über die Suchttherapie im engeren Sinn hinausgehende psychotherapeutische Weiterbehandlung.
Bei den Achse-1-Störungen sollte man versuchen zu unterscheiden, ob die zusätzliche Diagnose primär vor der Entstehung der Sucht vorhanden war oder sich erst sekundär mit der Sucht entwickelt hat. Depressive Störungen als Folge der Suchtentwicklung und reaktive Ängste können sich relativ schnell nach dem Entzug zurückentwickeln. Ängste können Anlass für Rückfälle sein, als Ursache einer Suchtentwicklung sind sie aber umstritten und bestenfalls für eine kleine Subgruppe relevant. Angst vor einer durch psychoaktive Substanzen geschwächten Selbstkontrolle oder vor aversiven sozialen und körperlichen Folgen kann auch zur Kontrolle des Suchtmittelkonsums beitragen.

PiD: <$>raster(11%,p)="LOGO_PID"<$>Verschiedentlich wird behauptet, Kurzzeittherapien von 6 - 8 Wochen seien genau so effektiv wie Langzeitbehandlungen von 4 - 6 Monaten. Ist ein solcher Vergleich zulässig, ohne dass dabei darauf hingewiesen wird, dass es sich bei den behandelten Patienten meist um völlig unterschiedliche Selektionen handelt?

H. Küfner: Bei einer methodisch optimalen Untersuchung über die Wirksamkeit unterschiedlicher Behandlungszeiten erfolgt eine Randomisierung der Patienten auf die unterschiedlichen Therapiegruppen, ein weniger ideales Untersuchungsdesign versucht, im Nachhinein eventuelle Unterschiede in den Untersuchungsgruppen statistisch zu kontrollieren. Randomisierung heißt, die Patienten müssen sowohl zu einer Langzeittherapie als auch zu einer Kurzeittherapie bereit sein. Dadurch fallen zwangsläufig jene heraus, die sagen, ich möchte auf keinen Fall eine Langzeittherapie, und solche, die sagen, ich brauche unbedingt eine längere Behandlung. Man darf davon ausgehen, dass manche Patienten die Schwere ihrer Störung und das, was sie zu deren Überwindung brauchen, aufgrund ihrer Vorgeschichte selbst gut einschätzen können, so dass sie eine Vorstellung davon entwickeln, was für sie nötig und hilfreich ist. Deshalb muss mit einem Selektionseffekt gerechnet werden. Dieser kann aber statistisch durch Berücksichtigung des Schweregrads der Abhängigkeit (soweit dieser ausreichend definiert und validiert ist) und früheren längeren Abstinenzphasen als positiver Prädiktor kontrolliert werden, aber natürlich bleibt die Frage offen, ob damit alle wichtigen Einflussgrößen, z. B. personale Ressourcen, erfasst sind.
Eine andersartige oft vernachlässigte, aber mindestens genauso wichtige Frage bezieht sich darauf, ob die Behandlungsdauer in einem ausreichend breiten Spektrum durch die Untersuchungen erfasst werden. Wenn, wie vor allem in den USA, nur maximal 6 - 8 Wochen Therapien durchgeführt werden, kann man nicht auf Therapiezeiten von 5 und 6 Monaten schließen, wie das aber manche Experten fälschlicherweise verallgemeinert haben. Die Meta-Analyse von Süß (1995) hat diesen Zusammenhang mit der Behandlungsdauer m. E. klar genug aufgezeigt.

PiD: Eine wichtige Differenzierung im Behandlungsspektrum stellt neben der stationären die ambulante Suchttherapie dar. Gibt es aus Forschungsperspektive besondere Umstände, die einen Effektivitätsvergleich erschweren? Beispielweise dürfte doch die Indikationsstellung nicht einfach sein, dürften entsprechende Screeningmethoden nicht zur Verfügung stehen und so fort, so dass der Stichprobenvergleich doch höchst zweifelhaft sein dürfte?

H. Küfner: Ein Effektvergleich ambulanter und stationärer Therapie erscheint methodisch wegen der problematischen Randomisierung noch schwieriger als der Vergleich unterschiedlicher Behandlungszeiten innerhalb der stationären oder ambulanten Therapie. Es bleibt der Versuch, entweder im Nachhinein als Fall-Kontrollstudie „Zwillinge” zu finden, die sich bezüglich wichtiger Moderatorvariablen gleichen, oder statistisch zu versuchen, diese Variablen wiederum im Nachhinein zu kontrollieren, was aber ebenfalls die Kenntnis der entscheidenden Einflussfaktoren voraussetzt. Die Selektionsprozesse bei der zu vergleichenden ambulanten und stationären Therapie sollten genauer erfasst werden als dies sonst bei Evaluationsstudien üblich ist. Auf diese Weise sollte es möglich sein, allmählich evidenzbasierte Indikationskriterien zu finden.

PiD: Sie berichten über die Effekte verschiedener Behandlungsansätze. Dabei steht das soziale Kompentenztraining an erster Stelle hinsichtlich der Wirksamkeit. Würde das nicht dafür sprechen, dass wir in unseren Ansätzen in der Alkoholismusbehandlung dem sozialen Lernen und - weiter gedacht - dem sozialen Mikrokosmos in den therapeutischen Wohngruppen der Fachkliniken nach wie vor besondere Bedeutung zumessen sollten?

H. Küfner: Im Zusammenhang mit der Sucht und dem Problem der Rückfälligkeit bedürfen solche Ergebnisse einer klinischen Interpretation. Soziale Kompetenztrainings umfassen meist suchtspezifische (z. B. Ablehnungstraining von Drogen) und suchtunspezifische (Kommunikationsstrategien) Komponenten. Solche Interventionen können zu einer Stärkung der Selbstwirksamkeitserwartung beitragen, und sie führen wahrscheinlich auch zu einer Veränderung des sozialen Umfeldes im Sinne einer Unterstützung des Abstinenzverhaltens und anderer Verhaltensweisen des Patienten. Die Erfahrungen im Mikrokosmos einer Wohngruppe werden wahrscheinlich nur wirksam, wenn diese Erfahrungen erfolgreich sind, als vom eigenen Verhalten bestimmt erlebt werden und zu einer veränderten Gewohnheit führen. Dies sind vermutlich notwendige Bedingungen für eine längerfristige Wirksamkeit.

PiD: Die tagesklinische Behandlung wird von ihrem Umfang und ihrem Angebot eher der stationären als der ambulanten Therapie zugerechnet. Allerdings ist bei tagesklinischen Behandlungen die Zeit wesentlich geringer, die für soziale Kontakte, für Erfahrungserwerb und informellen Meinungsaustausch mit anderen Patienten außerhalb der Therapiezeiten zur Verfügung steht. Bildet sich dieser Unterschied zu einem vollstationären Entwöhnungssetting in den Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchung in tagesklinischen Behandlungen ab?

H. Küfner: Die bisherigen Untersuchungen zur tagesklinischen Behandlung haben die von Ihnen erwähnten Faktoren nicht ausreichend berücksichtigt. Die Ausweichmöglichkeiten sind in einer tagesklinischen Behandlung natürlich deutlich größer als in einer stationären Behandlung. Hier ist sicherlich weitere Forschung nötig, um die Unterschiede und deren Bedeutung für den Veränderungsprozess herauszuarbeiten. Überhaupt ist der Faktor gegenseitiger Hilfe, der natürlich auch bei einer tagesklinischen Behandlung nach dem offiziellen Therapieprogramm einsetzen kann, auch nicht annähernd ausreichend erforscht.

PiD: Welche empirisch nachgewiesene Bedeutung hat die gegenwärtige Debatte der Abhängigkeit aus biologisch-genetischer Perspektive, d. h. welche gesicherten Hinweise gibt es für eine biologische Verankerung der Abhängigkeitsentwicklung, die nicht durch Umweltfaktoren, in unserem Fall durch eine psychotherapeutische oder psychosoziale Behandlung, konterkariert werden könnte?

H. Küfner: Die Zwillingsforschung an eineiigen und zweieiigen Zwillingen hat eine biologisch-genetische Grundlage nahe gelegt. Welcher Anteil an der Suchtentwicklung dabei genetisch und welcher durch psychogenetische umfeldgesteuerte Entwicklungsfaktoren bestimmt ist, erscheint dagegen relativ bedeutungslos, wenn man beide Einflussbereiche als annähernd gleich bedeutsam ansieht und man sich therapeutisch die Frage stellen muss, welcher Bereich kann therapeutisch beeinflusst werden. Der entscheidende Punkt ist aber die Frage, wie sich eine erbgenetische Disposition in der Suchtentwicklung phänomenologisch bemerkbar macht. Hier können die Studien von Schuckit über die Söhne alkoholabhängiger Väter Aufschluss geben, die unter Alkohol weniger negative Auswirkungen erleben als die Söhne nicht alkoholabhängiger Väter und damit weniger Anlass haben, ihren Alkoholkonsum zu reduzieren als jene, welche die negativen Folgen des Alkoholkonsums unmittelbar erleben.
Eine gesicherte biologisch-genetische Grundlage ist m. E. auch ein relatives Argument gegen das kontrollierte Trinken, weil es dieses zwar nicht zwangsläufig, aber doch mit Wahrscheinlichkeit schwerer erreichbar erscheinen lässt. Diese erbgenetische Disposition ist durch psychosoziale Interventionen nicht veränderbar, könnte aber u. U. durch Verhaltensänderungen kompensiert werden. Aber das ist meiner Meinung nach wissenschaftlich nicht gesichert.

PiD: In Deutschland gibt es Diskrepanzen zwischen der guten therapeutischen Versorgung Suchtkranker und den nur mäßigen präventiven Bemühungen. Welche Art der Suchtprävention hat aus wissenschaftlicher Sicht die besten Ergebnisse?

H. Küfner: In den Meta-Analysen zur Prävention im Suchtbereich liegen die durchschnittlichen Effektgrößen deutlich niedriger als im psychotherapeutischen Bereich und als in der Alkoholismusbehandlung. Die präventiven Bemühungen haben meist einen bevölkerungsbezogenen Ansatz, selten dass sie sich an definierte Hochrisikogruppen richten.
Der Lebenskompetenzansatz hat bislang die größte Wirksamkeit gezeigt. Massenmedial wird man hauptsächlich über soziale Schlüsselpersonen größere Bevölkerungsgruppen erreichen können. Klinisch bedeutsam wäre die Arbeit mit Hochrisiko-Kindern oder Erwachsenen, worüber es aber kaum methodisch fundierte Studien gibt.

PiD: So genannte Partydrogen, wie z. B. Ecstasy, haben in den letzten 10 Jahren die „Suchtlandschaft” verändert. Gibt es inzwischen empirische Studien darüber, wie viele der Partydrogenbenutzer tatsächlich abhängig werden bzw. liegen Ergebnisse bezüglich des Therapieoutcomes bei diesem Klientel vor?

H. Küfner: Der Ecstasy-Konsum ist in Deutschland in den alten Bundesländern weitgehend gleich geblieben. Eine neuere Untersuchung über Ecstasy-Konsumenten weist auf häufige primäre psychische Defizite und Störungen hin, sodass wahrscheinlich Ecstasy-Konsumenten unter zahlreichen anderen Diagnosen auftauchen. Außerdem ist bekannt, dass vielfach auch andere illegale Drogen und Alkohol missbraucht werden, so dass die Ecstasy-Konsumenten wahrscheinlich keine genügend homogene, stabile Konsumentengruppe bilden werden. Ergebnisse der Behandlung sind mir bislang nicht bekannt.

PiD: Obwohl der Tabak hinsichtlich Verbreitung und Schädlichkeit einen Spitzenplatz unter unseren Suchtmitteln einnimmt, nimmt er in der allgemeinen Suchtmitteldiskussion in Deutschland nur einen Nebenplatz ein. Was müsste sich Ihrer Meinung nach in Deutschland ändern, damit der Tabakkonsum effektiv gesenkt werden könnte?

H. Küfner: In der Tat steht der Nikotinmissbrauch hinsichtlich der Zahl der geschätzten Abhängigen und der volkswirtschaftlichen Schäden vor Alkohol an der Spitze der problematischen psychoaktiven Substanzen mit Abhängigkeitspotenzial. Bei Maßnahmen gegen den Nikotinmissbrauch muss man beachten, dass der Nikotinmissbrauch in sozialer Hinsicht weit weniger problematisch ist als Alkohol und illegale Drogen, weil es kaum zu gestörten Verhaltensweisen z. B. in Bezug zur Familie, zu keinen direkt nikotinbedingten Leistungsausfällen und zu keiner Veränderung der Persönlichkeit kommt.
Auch hier sollte man zwischen einem Public-Health-Ansatz und einem individualtherapeutischen Ansatz des Suchtproblems unterscheiden. Zunächst sollten Maßnahmen im bevölkerungsbezogenen Ansatz konsequenter von der Bundesregierung vorangetrieben werden, in dem auch in den Restaurants und Cafes das Einrichten einer rauchfreien Zone gefordert wird. Die beharrliche Einstellung der Bundesregierung gegen ein Verbot der Tabakwerbung spricht nicht gerade für ein Engagement gegen das Rauchen, auch wenn der Effekt eines solchen Werbeverbots nicht als allzu groß eingeschätzt werden darf. In wissenschaftlicher Hinsicht sollte auch die Begrifflichkeit geklärt werden hinsichtlich der Frage, weshalb es beim Nikotin keine Diagnose „schädlicher Gebrauch” in der ICD10 gibt, wie bei den anderen Substanzen mit Abhängigkeitspotenzial auch.

PiD: Eine Substitution bei Opiatabhängigen führt (trotz häufigen Beigebrauchs) zu einer deutlichen Verbesserung der psychosozialen Integration der Betroffenen. Ist es aus wissenschaftlicher Perspektive jedoch nicht problematisch die Substitution in eine Reihe mit kurativen Ansätzen zu stellen, da es sich hierbei doch eher um eine passager angelegte Maßnahme zur Harm-reduction handelt, die immer in Begleitung mit einer psychosozialen Therapie erfolgen sollte und an die sich weitere Schritte in Richtung einer zufriedenen Suchtmittelabstinenz anschließen sollten?

H. Küfner: Die Substitutionsbehandlung sollte eigentlich besser substitutionsgestützte Behandlung der Opiatabhängigkeit heißen, weil darin der Stellenwert des Substitutionsmittels und der psychosozialen Interventionen in einem Gesamtkonzept zum Ausdruck kommt. Die psychosoziale Therapie wird häufig als Begleittherapie bezeichnet, was eine gewisse Nachrangigkeit andeutet. Wissenschaftlich könnte mit sehr viel größerem Nachdruck auf die psychosoziale Behandlung als Kern der Drogenbehandlung hingewiesen werden, wenn dazu meta-analytische Zusammenfassungen vorliegen. Eine Teilgruppe von Patienten ist sicherlich für eine psychosoziale Therapie nicht motiviert, und die Ärzte haben in der Regel wenig Erfahrung mit psychosozialer Therapie. Deshalb ist es nicht weiter erstaunlich, wenn außer der Medikamentenvergabe häufig keine weiteren systematischen Maßnahmen erfolgen. Die Substitution selbst ist eine Brücke zu dem Fernziel der Drogenfreiheit. Wir brauchen mehr systematische und gleichzeitig flexible psychosoziale Therapieprogramme, die den Effekt dieser Form der Maßnahmen deutlich belegen. Das ist aufwändig angesichts der langen Zeit, die bei vielen Patienten notwendig ist, bevor sie aus ihrer Abhängigkeit wieder herauswachsen.

PiD: Was halten Sie von neuen Suchttherapieperspektiven wie z. B. der Kokainimpfung?

H. Küfner: Nachdem es für Kokain kein Substitutionsmittel gibt, wurde vor allem in den USA vehement nach einem anderen medikamentösen Ansatz geforscht. Offenbar gibt es erste Ergebnisse zu Ansätzen, die eine Art Impfung gegen die Kokain-Wirkung darstellen. Dabei wird das Kokain als Substanz im Blut durch Antikörper abgefangen, so dass es nicht mehr im ZNS an den Synapsen und Rezeptoren wirksam werden kann. Das Craving bleibt aber davon unberührt und muss letztlich auf andere Weise bewältigt werden. Dieser Impfschutz soll etwa ein Jahr anhalten. Natürlich setzt dies die grundsätzliche Bereitschaft des Patienten voraus, sich einer solchen Impfung zu unterziehen. Wenn das Wirkungsspektrum spezifisch auf Kokain beschränkt ist, muss man wohl mit einem Umsteigeeffekt auf andere Substanzen rechnen. Dennoch würde ein solcher Ansatz zumindest in der ersten Zeit der Behandlung bei einer Monoabhängigkeit von Kokain eine deutliche Hilfe gegen Rückfälle darstellen, aber in jedem Fall müsste diese stützende medikamentöse Behandlung in eine psychosoziale Rahmenbehandlung integriert werden. Bei einem multiplen Substanzgebrauch wäre eine solche Impfung wahrscheinlich wenig hilfreich.

PiD: Immer wieder wird das Pro und Contra einer Freigabe so genannter „weicher” Drogen wie z. B. Cannabis auch bei uns diskutiert. Welche Haltung nehmen Sie vor dem Hintergrund der derzeitig vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse dabei ein?

H. Küfner: Das Verbot oder die Legalisierung einer psychoaktiven Substanz lässt sich nicht allein wissenschaftlich begründen, sondern bedarf einer gesellschaftlichen Bewertung und Entscheidung, zu der allerdings die Wissenschaft wesentliche Grundlagen herbeitragen muss und dafür von der Gesellschaft auch die erforderlichen materiellen Ressourcen bekommen sollte. M. E. ist der wissenschaftliche Bewertungsprozess noch nicht ausreichend abgeschlossen. Erst allmählich werden Umfang und Langzeitfolgen des Cannabis-Missbrauchs deutlich (z. B. NIDA Research Report Marijuana Abuse 2002). Auch sollten die Auswirkungen der beschränkten Cannabis-Freigabe in der Schweiz abgewartet werden. Bis eine ausreichende Evidenz zur Folgenabschätzung vorliegt, könnte man sagen, dass jede weitere Substanz mit Abhängigkeitspotenzial, und sei diese noch so risikoarm, ein zusätzliches Übel darstellt. Der Effekt einer abschreckenden Wirkung eines Drogenverbots und entsprechender Sanktionen wird wahrscheinlich unterschätzt, jedenfalls fehlt es hier an geeigneten Studien. Die Vorteile einer Legalisierung, die sich meist auf die Entkriminalisierung bezieht, müssten ebenfalls wissenschaftlich stärker herausgearbeitet werden. Erst danach kann eine fundierte Risikoeinschätzung erfolgen, die letztlich eine gesellschaftliche und gesundheitspolitische Entscheidung darstellt.

Literatur

  • 1 Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie .Dokumentationsstandards III für die Evaluation der Behandlung von Abhängigen. Sucht 2001
  • 2 Edwards G, Gross M M. Alcohol dependence: provisional description of a clinical syndrome.  Br Med J May. 1976;  1 1058-1061
  • 3 Schuckit M A. Low level of response to alcohol as a predictor of future alcoholism.  Americ J Psychiatr. 1994;  151 184-189
  • 4 Süß H-M. Zur Wirksamkeit der Therapie bei Alkoholabhängigen: Ergebnisse einer Meta-Analyse.  Psychologische Rundschau. 1995;  46 248-266