PiD - Psychotherapie im Dialog 2003; 4(2): 202-203
DOI: 10.1055/s-2003-39533
Resümee
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Sucht

Petra  Schuhler, Klaus  Walter  Bilitza
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Publication Date:
27 May 2003 (online)

Als Matthäus Friderich, Pfarrherr zu Görentz, 1557 seinen Sendbrief „Wider den Sauffteufel” aussandte, zog sich das „nationale Laster des Trunks” (L. Stacke 1892, 128) bereits durch alle Stände, fand sich an Fürstenhöfen ebenso wie bei den kleinen Leuten. Dem Teufel oder in noch früheren Zeiten den Göttern die Verantwortung zu geben, mag dem aufgeklärten modernen Suchttherapeuten wohl fremd erscheinen, wenn sich auch so mancher angesichts der anspruchsvollen therapeutischen Aufgabe diese Zeiten zurückwünschen mag.

Die Verhaltenstherapie knüpft seit geraumer Zeit wieder an den Erkenntnissen von Wolpe und Lazarus an, Pionieren der Verhaltenstherapie, die bereits auf die enorme Bedeutung der therapeutischen Beziehung jenseits der Technik hinwiesen. Diese Einsicht wurde von Verhaltenstherapeuten lange Zeit nicht beachtet. Erst die zunehmende Verfestigung der neuen Therapietechniken auf der Grundlage der Lerngesetze schien den Raum zu geben, sich wieder der therapeutischen Beziehung zuzuwenden. Genau hier begegnen ihnen die Analytiker, denen es auch um eine Erweiterung ihres Therapieverständnisses geht.

Aufbauend auf Ich-Psychologie, Selbstpsychologie und Objektbeziehungstheorie und unter dem Einfluss der analytischen Säuglingsforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten und von der „nicht-analytischen” Fachöffentlichkeit nahezu unbemerkt die ehemals am medizinischen Krankheitsmodell orientierte 1-Personen-Psychologie längst zu einer interaktionistischen 2-und-Mehr-Personen-Theorie erweitert. Heute reicht es nicht mehr aus, Sucht auf einen psychischen Triebkonflikt oder auf eine strukturelle Ich-Störung allein zu reduzieren. Die Abhängigkeitserkrankung geht vielmehr auf pathologische Formen der inneren Repräsentanzen von Selbst und Objekt, sowie deren spezifische Beziehung zueinander zurück, die wiederum als Niederschlag pathogener Beziehungserfahrungen des Patienten entstanden sind. Mit anderen Worten: Der Abhängigkeitserkrankung liegt eine „tiefe”, unbewältigte und emotional hoch aufgeladene Abhängigkeit eines schwachen Selbst von einem seinerseits in der hilfreichen psychischen Funktion versagenden Objekt zugrunde, d.h. es handelt sich um pathologische abhängige Objektbeziehungen in den „tieferen”, unbewussten Schichten der Person. Diese innere Struktur hatte sich aus Erfahrungen mit realen relevanten Bezugspersonen in den kritischen „frühen” Entwicklungsphasen oder infolge nicht zu bewältigender Traumatisierungen herausgebildet.

Diese Erweiterung ermöglichte, wie die internationale Literatur zeigt, einerseits in der Krankheitslehre psychoanalytische Theorien über Wesen und Entstehung von Persönlichkeitsstörungen, z. B. narzisstische Persönlichkeitsstörungen oder Borderlinestörungen, sowie Suchterkrankungen und führte andererseits in der Behandlungstechnik zu den modernen analytischen Behandlungsformen, wie sie auch in der Suchtbehandlung zur Anwendung kommen. Nach interaktionistischer Theorie gestaltet der Patient die therapeutische Beziehung bzw. das Netz von Beziehungen in der Klinik nach dem Muster seiner inneren, frühen „Programmierungen”, in diesem Sinne bietet die Suchttherapie Gelegenheit zur Reinszenierung pathologischer Selbst- und Objektbeziehungen, die klinisch mit Hilfe der Konzepte von „Übertragung” und „Gegenübertragung” zu entschlüsseln sind.

Besonders die so genannten Parameteränderungen in der Handhabung der „Gegenübertragung” zeichnen die neueren therapeutischen Ansätze aus, wie auch die hier versammelten Beiträge belegen. Während der Therapeut im klassischen Setting seine „Gegenübertragung” lediglich diagnostisch auswertet, sie gewissermaßen für sich behält, indem er abstinent deutet, verhält sich der Analytiker in der interaktionellen Therapie als Interaktionspartner in einer lebendigen Begegnung mit dem Patienten, er legt theoriegeleitet und mit therapeutischer Zielsetzung seine „Gegenübertragung” offen, aber ohne die professionelle therapeutische Haltung von Präsenz und Akzeptanz und beobachtendem Ich aufzugeben. Therapie bietet so Halt und Schutz zur Nachreifung von Ich-Funktionen, wie z. B. Affektdifferenzierung und Gestaltung von Beziehungen, oder zur Förderung der Über-Ich-Organisation, kurz: sie bietet die Chance zur korrigierenden emotionalen Erfahrung mit anderen in der sozialen Umwelt.

Aus verhaltenstherapeutischer Sicht ist der psychotherapeutische Prozess eingebettet - und sein Gelingen abhängig von der therapeutischen Beziehung, dem Miteinander von TherapeutIn und PatientIn. Empirisch wurden spezifische Abhängigkeiten in der Interaktion zwischen PatientIn und TherapeutIn festgestellt: So führt Einfühlung des Therapeuten zur Selbstöffnung beim Patienten, Unterstützung zur emotionalen Öffnung des Patienten und zur aktiven Gesprächsbeteiligung, Direktiven bewirken klärende Äußerungen beim Patienten, rufen aber auch am deutlichsten Widerstand hervor. Die therapeutische Beziehung in der Suchtbehandlung wird stets modelliert durch das Suchtmittel, durch die Beziehung, die der Patient mit diesem, in der Regel schon seit langer Zeit, eingegangen ist. Beispielsweise setzen dependente PatientInnen häufig das Suchtmittel ein, um ihre maladaptive Überlebensstrategie Unterwerfung ertragen zu können. Typischerweise gibt es eine Entsprechung im Beziehungsaufbau zum Suchttherapeuten oder zur Suchtherapeutin: Die bislang eingesetzten Strategien werden auch in der therapeutischen Beziehung aktiviert, um den Therapeuten bzw. die Therapeutin an sich zu binden und von ihm beschützt zu werden. Wachstum kann nur gelingen, wenn behutsam die dependenten Beziehungswünsche in ihrer dysfunktionalen Dienstfunktion für die Lebensbewältigung sichtbar gemacht werden und zunächst der assoziative emotionale Raum des Verstehens erweitert wird, bevor Verhaltensalternativen entworfen und erprobt werden. Der Therapeut bzw. die Therapeutin stellt sich dann durchaus auch als Instrument zur Verfügung, indem die eigene Wahrnehmung und emotionale Reaktion auf den Patienten genutzt wird als Information über die Beziehungswünsche des Patienten. Ob dies auch dem Patienten rückgemeldet wird, muss vom therapeutischen Verlauf abhängig gemacht werden.

In Ansätzen, die verhaltenstherapeutische mit imaginativen Elementen verbinden, wird der Aufbau und der Erhalt einer produktiven therapeutischen Beziehung, vor allem bei schwer gestörten Suchtpatienten durch die Induktion positiven Erlebens hervorgehoben. Es leuchtet ein, dass dies gerade bei in dieser Hinsicht sehr bedürftigen Suchtkranken zu einer raschen Belebung und Aufeinanderzubewegung in der therapeutischen Beziehung führt. Eng verwandt damit sind narrative Therapieelemente, in denen schwer eingängige, aversive Zusammenhänge in der Suchtentwicklung, der Suchttherapie und der therapeutischen Beziehung parabelhaft, auf einer Symbolebene, dargestellt werden. Gerade im Umgang mit Widerstand und Reaktanz auf Seiten des Patienten wird dieses nicht-konfrontative Vorgehen empfohlen, das den assoziativen Raum erweitert, den Kampf um die Macht in der therapeutischen Beziehung vermeidet und zur Neugier und Entdeckerfreude einlädt.

Treffen sich also Verhaltenstherapeuten und Psychoanalytiker bei dem therapeutisch-technischen Umgang mit der „Beziehung”? Während Verhaltenstherapeuten ihre Aufmerksamkeit verstärkt darauf richten, die Beziehung in der Therapie als wichtige Variable, methodisch sowohl zu erfassen als auch zu gestalten, erweitern Psychoanalytiker den Umgang mit Übertragung und Gegenübertragung von der Arbeit über die Beziehung zur therapeutisch-technischen Arbeit in der Beziehung.

Merkmale einer Annäherung können wir in der Bedeutsamkeit erkennen, die beide therapeutischen Ansätze der subjektiven und jeweils individuellen Therapiegeschichte zubilligen. Folglich wird dann Therapieabbrüchen und Rückfällen, die als typische Reaktionen eines schwachen Ichs auf ausweglose Beziehungskonflikte im therapeutischen Setting aufgefasst werden, anders therapeutisch zu begegnen sein, als wenn diese ausschließlich einem Versagen des Patienten angelastet werden. Neben der positiven konstruktiven Seite von hilfreichen Therapeuten und mehr oder weniger motivierten Patienten kann dann die negative destruktive Seite von frustrierten Professionals und autoaggressiven Patienten einbezogen werden.

Denn Therapeuten der unterschiedlichen Schulen, die sich derart auf die Beziehung einlassen, geraten unweigerlich mit den abgewehrten aggressiven Seiten der Suchtpatienten in Berührung, die allenfalls in der unbezwingbaren Gier vermutet oder über die hohe Suizidrate erschlossen werden können. Werden Therapeuten in der Wiederauflage lebensgeschichtlich früher Objektbeziehung zum Objekt des Hasses, und klinisch spricht viel dafür, Hass als den „Kern-Affekt von schweren psychopathologischen Störungen, insbesondere von schweren Persönlichkeitsstörungen, Perversionen und funktionellen Psychosen” (Otto F. Kernberg: Wut und Hass. Klett-Cotta 1998, 35) anzunehmen, stehen sie vor neuen therapeutischen Herausforderungen, die sie aus sicherer Therapietechnik-Distanz so nicht kannten. Sich hassen zu lassen, ohne sich in das Hassobjekt zu verwandeln, erscheint ebenso schwer wie sich lieben zu lassen, ohne zum Liebesobjekt zu werden.

Es ist die therapeutisch professionelle Beherrschung von Methode und Beziehung, die TherapeutInnen vor diesen Gefahren schützen wird.