Gesundheitswesen 2003; 65(5): 295-298
DOI: 10.1055/s-2003-39548
Akademische Gedenkfeier
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Frühe Entwicklung und Gewaltprävention

Precocity and Prevention of ViolenceF. Resch1
  • 1Abt. für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
28. Mai 2003 (online)

Magnifizenz,
Spektabilitäten,
Herr Präsident der Akademie der Wissenschaften,
liebe Familienmitglieder der Familie Schaefer, sehr verehrte Festgäste dieser Gedenkfeier, meine Damen und Herren,

der Mann, zu dessen Ehren die heutige Gedenkfeier stattfindet, war ohne Zweifel eine außerordentliche Persönlichkeit. Auch aus der Sicht meiner Generation, die sozusagen die Enkelgeneration darstellt, verbinden sich mit Hans Schaefer Begriffe wie Weitblick und Klugheit. Ich kann aus der Erfahrung persönlicher Begegnung und Wertschätzung sprechen, und nachdem ich über Anregung Hans Schaefers ihm selbst für die Liga für das Kind in der Reihe der Präsidenten nachfolgen durfte, kann ich auch als jemand sprechen, der das menschliche Grundanliegen Schaefers, nämlich das Anliegen, der künftigen Generation mehr Augenmerk und Beachtung zu schenken, weitertragen und weiterentwickeln möchte.

Hans Schaefer verband Humor mit Fachwissen ebenso wie Zivilcourage mit einem unerschütterlichen Glauben. Er verband also in profunder Weise Verstand und Gefühl zu einer Vernunft, die es wagte, hoch über unsere Niederungen postmoderner Beliebigkeit hinauszudenken.

So klar er der Empirie verpflichtet blieb, um Fakten zu beschreiben, war sein Denken niemals wertfrei in der Interpretation. Er entschlug sich nicht des Urteils und der Stellungnahme, scheute auch Irrtum und Standpunkt nicht und hatte oft Recht, wenn es darum ging, die wissenschaftlichen Fakten nicht im luftleeren Raum stehen zu lassen, sondern mit dem Leben im menschlichen Alltag zu verbinden. Dieser Mut zum Bekenntnis, das Wagnis über die unbestechliche Sachlichkeit im Umgang mit den Fakten hinaus sich auch um deren Umsetzung in gesellschaftlichem Rahmen zu kümmern, kennzeichnen sein Denken. Ebenso wie er es vermochte, Fakten objektiv darzustellen, war er in der Lage, diese Fakten auch persönlich in ein Bild der Welt einzuordnen. Hans Schaefer war einer, der es sich zugestand, nicht nur Klugheit, sondern auch eine Meinung zu haben.

Ich möchte im Folgenden einen ideengeschichtlichen Bogen von Schaefers späten Erkenntnissen und Werken zu unseren heutigen gesellschaftlichen Problemstellungen spannen und den Weg einer sozialmedizinisch soziophysiologischen Sichtweise bis zum Engagement in der Deutschen Liga für das Kind nachzeichnen und aufzeigen, wie sehr Schaefer die Zusammenhänge erkannte, die uns heute und in der Zukunft mit großen Schwierigkeiten belasten und belasten werden.

Aus meinen persönlichen Gesprächen mit Hans Schaefer nehme ich den frischen Geist mit, die Sprachkunst, den Mut und die entschlossene Rede, das bestechende und überzeugende Urteil, das der Umgebung in frühen wie in späten Zeiten oft Richtung zu geben vermochte. Noch in Zeiten körperlicher Erkrankung sah Hans Schaefer scharf und weit in eine Zukunft, die ihn, und nicht nur ihn, mit Besorgnis erfüllte.

Immer wieder mahnt Schaefer an, dass die Destruktivität, die Erich Fromm in der modernen Gesellschaft ausgemacht hat und die wir heute in der postmodernen Gesellschaft in eskalierender Weise zur Kenntnis nehmen müssen, bislang keine zureichende Erklärung gefunden hat. Schaefer betont, dass die Rückführung menschlicher Aggression auf die tierische zu kurz greifen muss, wenn auch manche Mechanismen aggressiven Verhaltens, die im Tierreich beschrieben werden, grundsätzlich ebenso für den Menschen gelten. Auch beim Menschen sind die aggressiven Erregungen in den Dienst des Lebensvollzugs gestellt. Aber die Verbindung dieser Aggressivität zur menschlichen Intelligenz sieht Schaefer als besondere Herausforderung. Die menschliche Intelligenz kann sich strategisch aller Information kultureller, politischer und historischer Fakten bedienen. Schaefer meint, dass es eine umfassende Anthropologie geben müsste, die bis heute nicht gedacht werden kann. So vermag unsere technische Intelligenz heute so weit reichende Kampfmittel zur Verfügung zu stellen, die dann im Rahmen der Globalisierung durch die weltweite Verschmelzung alter und junger Kulturen auf einem freien Markt zur Verfügung stehen. Und so kommt es, dass mittelalterliche Menschenbilder heute handlungsleitend für Individuen sind, die bis an die Zähne mit Biowaffen und nuklearen Geschützen gerüstet sind. Wir befinden uns in einem Spätherbst westlicher technologischer Kultur, wenn wir der Bildersprache Oswald Spenglers folgen. Die Beschäftigung mit diesem Thema war eine von Schaefers Wurzeln für das spätere Engagement in der Liga für das Kind, weil er sah, dass eine Beeinflussung der Gewaltspirale nur durch einen präventiven Ansatz, nur durch Verbesserung der kindlichen Entwicklungsbedingungen erreichbar ist.

Schon früh begann Schaefer sich für das Verhältnis von Biophysik und Biokybernetik zu interessieren. Er war davon fasziniert, dass mit dem System der Rückkoppelung das Wesen des Lebensvorgangs unmittelbar verständlich wurde. „Leben ist das, was sich selbst erhält”, sagt Schaefer. Dass die Kybernetik auch mit der Evolutionslehre auf eine innige Weise zu verbinden war, brachte Schaefer zu neuen Fragen. Die Kybernetik machte die Zweckmäßigkeit des Lebendigen verständlich. Die Regulation erfolgt immer auf bestimmte Ziele hin, aber sie lässt den Ursprung des zweckhaft arbeitenden Systems selbst völlig ungeklärt. Schaefer ließ es als unwahrscheinlich erachten, dass Menschen mit ihren Fähigkeiten zur Regulation quasi als kybernetische Maschinen durch den Zufall von Mutationen entstanden sein könnten. Diese Fragestellung hat Schaefer sein Leben lang beschäftigt. Regelmaschinen repräsentieren das Notwendige, die Mutation, aus der sie entstanden sind, das Zufällige.

Die Idee der Wechselwirkung des Individuums mit der es umgebenden Umwelt brachte Schaefer auf die Spuren der Sozialmedizin und die Auseinandersetzung mit Psychiatrie und Psychosomatik schließlich zur Formulierung einer Soziopsychosomatik unter präventiven Gesichtspunkten. Schaefer meinte, dass eine Soziopsychosomatik durchweg eine auf Krankheitsverhütung und nicht auf Therapie abgestellte Theorie sei. Er meinte sogar, dass diese Theorie therapeutisch gar nicht fündig werden kann, da eine bereits entstandene Krankheit durch Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen nicht mehr zu behandeln ist. Schaefer meint jedoch, dass die Einbeziehung gesamtgesellschaftlicher Rahmenbedingungen eine Verbesserung des Wissens um die Krankheitsentstehung bringen könnte, wobei dann präventive Ansätze und Frühinterventionen möglich seien könnten. Schaefer beschäftigte sich mit dem aufkommenden Stresskonzept und untersuchte die Rolle, die das Individuum bei der Entstehung des Krankheitsgeschehens hat. Er kritisiert in diesem Zusammenhang auch den Anspruch der Medizin insgesamt und sagt:

„Wir stehen also in der Medizin in einer doppelbödigen, wir mögen auch sagen schizophrenen Situation. Höchste Leistung in Hinsicht auf Lebensrettung besteht neben beträchtlichen Einseitigkeiten der Lehre vom Wesen der Krankheit und daraus folgenden erheblichen Defekten im Umgang mit dem Patienten. Die technische Perfektion steigt von Jahr zu Jahr. Das ist die notwendige Folge einer Zeit, in der technischer Fortschritt zum Existieren und Wirtschaften unerlässlich ist. Zugleich aber steigt die Wehleidigkeit der Menschen, ihr Anspruchsniveau, die Quantität unreflektierter Forderungen an, eben weil niemand mehr etwas aushalten will und die Wohlstandsmentalität sich zu dem gerade widersinnigen Schlagwort von ‚Recht auf Gesundheit’ entwickelt hat.”

Schaefer meint jedoch, dass es eine Pflicht zu gesundem Verhalten gibt und dass Gesundheit in einem erheblichen Umfang an uns selbst liegt. Einerseits an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die wir alle mitgestalten, ebenso wie an unserer individuellen Fähigkeit, Maß zu halten.

Schaefer bezieht sich mit seinen Überlegungen auf den großen Pathologen Rudolf Virchow. Virchow ging davon aus, dass die großen Probleme, die von der Bevölkerungspolitik und nicht nur von ihr ausgehen, besonders von Medizinern wissenschaftlich durchschaut werden können. Was damit gemeint ist, muss näher spezifiziert werden. Es handelt sich dabei nicht um einen billigen Gesamtanspruch auf die Erklärung sozialer Fragen durch die Medizin. Die Erkenntnis, dass gesellschaftliche Theorie die Natur des Menschen nicht vernachlässigen dürfe, ist jedoch von essenzieller Bedeutung. Damit ist nicht gemeint, dass eine engstirnige Soziobiologie die komplexen gesellschaftlichen Vorgänge auf Regelprinzipien des Tierreichs quasi herunterrechnet und allzu billig vereinfacht, sondern es wird betont, wie gefährlich eine Vernachlässigung psychophysiologischer als auch emotionaler Bedingtheiten des Menschen in gesellschaftlichen, juristischen oder ökonomischen Theorien ist oder sein kann. Jede Gesellschaftstheorie, die den Menschen grundsätzlich nur als Vernunftwesen, als besonnen entscheidendes, nach Abwägung aller Bedingungen logisch schlussfolgerndes Intelligenzwesen betrachtet, übersieht, dass juristisch relevante Tatbestände wie Verbrechen, aber auch Entscheidungsstrukturen des Marktes und der Börse, ebenso wie politische Argumentationen in hohem Maße affektgeleitet, angstgetrieben, hasserfüllt, in gedanklicher Engführung und Borniertheit, also irrational sein können! Der Mensch ist nicht nur Homo sapiens sapiens, sondern immer auch noch ein emotionales Wesen, wobei die Emotion über den Einsatz der Vernunft allzu oft entscheidet. Das hat Schaefer mit großem Weitblick erkannt.

Schaefer wehrt sich gegen den Gedanken, dass die Menschheit dank supertechnischer Errungenschaften in Zukunft gesünder werde und nennenswert länger ein Leben mit Lebensgenuss leben könnte. Schaefer fürchtet, dass die Ergebnisse der Supertechnik wenig Bedeutung für das Leben des Durchschnittsmenschen haben werden. Er betont, dass in den hochspezialisierten Krankenhäusern immer mehr Menschen sind, die nicht leben und nicht sterben können. Die Tatsache, dass wir trotz eines Rückgangs an Geburtenzahlen einen explodierenden Bedarf an psychischer Unterstützung für Kinder und Jugendliche ausmachen, muss ebenfalls zu denken geben.

Die Fragen, die sich Schaefer zur Entwicklung des Menschen stellte, um die Integration des tierischen Anteils und der Kulturpersönlichkeit zu formulieren, führten in ein stark ideologisiertes Feld. Auf der einen Seite wurden jene, die die Notwendigkeit einer Schaffung stabiler frühkindlicher Beziehungen in Familien betonten, in die Ecke derer gestellt, die den Frauen eine gesellschaftliche Lebensverwirklichung verwehrten, und auf der anderen Seite gibt es bis heute Forscher, die den Anteil kindlicher Beziehungs- und Erziehungskultur vollkommen vernachlässigungswürdig finden, weil sie davon ausgehen, dass das menschliche Wesen vorwiegend genetisch determiniert sei. Das Spannungsfeld hat sich bis heute erhalten, wenn auch heutige Erklärungsansätze in der Definition des so genannten nature/nurture-Problems ein komplexes Wechselwirkungsmodell zwischen angeborenen Anlagen und kindlichen Entwicklungsbedingungen fordern. Als 1973 in Neuwied ein besonders brutaler Mord passierte - vier Jugendliche brachten mit 26 Messerstichen einen ihnen vollkommen unbekannten Jugendlichen um - kamen gesellschaftliche Dinge ins Rollen. Dem Mord fehlte vollkommen das Motiv. Im Rahmen der Gerichtsverhandlungen wurde deutlich, dass alle Täter eine trostlose Kindheit in schlechten Elternhäusern und in Heimen hinter sich hatten. Der Anthropologe Dr. Klaus Conrad erkannte den offensichtlichen Zusammenhang zwischen fehlender Geborgenheit und Liebe in der Kindheit und späterer Kriminalität. Als Mitglied des Lions Service Club Neuwied setzte er sich dafür ein, dass eine Initiative Kind-Familie-Gesellschaft ins Leben gerufen werden konnte. Vier Jahre später wurde die Deutsche Liga für das Kind in Familie und Gesellschaft gegründet. Es war eine Vereinigung von Lions und Rotary mit zehn weiteren Verbänden und Körperschaften. Zweck des Vereins sollte es sein, die Ursachen und Entstehung frühkindlicher Deprivation in jeder Form zu verhindern. Bereits bis Ende des Jahres 1977 sind alle bedeutenden wissenschaftlichen Gesellschaften für die Erforschung der frühen Kindheit sowie alle Vereinigungen, die sich der praktischen Betreuung des Kindes widmen, als Mitglieder unter dem Dach der Liga vereinigt. Hans Schaefer ist Gründungspräsident der Liga für das Kind. Der junge Verein präsentiert sich in Bonn in der Beethoven-Halle mit einem Symposium der Öffentlichkeit. Das Thema lautet damals und hat an Aktualität nichts eingebüßt: Gesellschaft in Gefahr - durch Störung der Persönlichkeitsentwicklung des Kleinkindes. Im Dezember 2002 haben wir im Rahmen einer Jubiläumsveranstaltung die ersten 25 Jahre gefeiert. Die Liga für das Kind war für Hans Schaefer ein besonderes Herzensanliegen. Im Januar 1980 zeichnete Bundespräsident Carl Carstens die Deutsche Liga für das Kind mit elf anderen Initiativen als Beispiel gebende Organisation aus. In der Folge wird politische Lobbyarbeit gemacht, die Liga überreicht allen Abgeordneten von Bund und Ländern eine von ihr verfasste Broschüre zum Thema „Der Lebensanfang als Lebensentscheidung” und „Eine Gesellschaft verdirbt ihre Kinder”. Seit 1984 bis zu seinem Tod ist Hans Schaefer Ehrenpräsident der Liga für das Kind. Immer wieder werden Forderungen der Liga gegenüber Politik und Gesellschaft zur Wirklichkeit: So wird 1984 vom Bundesverfassungsgericht die faktische Elternschaft (Pflegeelternschaft) als eigenständiges Rechtsgut anerkannt. Das von der Liga seit 1978 geforderte Bundeserziehungsgeldgesetz tritt 1986 in Kraft. Eltern erhalten die Möglichkeit des Erziehungsurlaubs während der ersten Jahre des Kindes. Schließlich findet sich im November 2000 die auch von der Liga immer wieder geforderte Neufassung des Rechts auf eine gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen werden als unzulässig beschrieben. Im Rahmen der 25-Jahr-Feier im Berliner Palais am Festungsgraben beschäftigte sich die Liga mit der Frage: „Zukunft ohne Kinder?”

Immer wieder beschäftigte sich Schaefer mit der frühen Persönlichkeitsentwicklung des Kindes, wohlwissend, dass Verwahrlosung und Ich-Schwäche und die Entzügelung emotionaler Bedingtheiten des Menschen eine kulturelle Gefahr darstellen. Während die moderne Philosophie, beispielsweise Foucault, sich damit auseinander setzt, dass es nicht mehr um den Aufbau und die Ausbildung einer stabilen Ich-Identität gehe, sondern im Rahmen der Postmoderne ein Konzept der ständigen Selbstüberschreitung und Selbstveränderung den gesellschaftlichen Zwängen entgegengesetzt werden müsse, geht eine soziopsychologische Theorie der Persönlichkeit in eine andere Richtung. Wenn beispielsweise Adorno die Vervollkommnung der Identität infrage stellt und die geforderte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit ebenso wie Foucault auf ein chamäleonartiges Wechseln zwischen verschiedenen Identitäten bezieht, muss dies den Arzt besorgt machen. Wer den Menschen auch in seinem biologischen Bezugssystem fassbar macht und den emotionalen Selbstkern erkennt, weiß, dass das Selbst des Menschen eine neuronale Grundlage hat und nicht nur ein idealistischer Entwurf ist. Denn wer das verwechselt, findet die Verabsolutierung der Flexibilität in einer bedrohlichen Ich-Schwäche. Aber gerade die kohärente emotionale Voraussetzung schafft doch die Flexibilisierung des Selbst. Wer emotional eingeengt oder zerrissen ist, kann sich nicht selbst gestalten. Nur der emotional gesicherte und stabile Mensch kann sein Selbst bis in die kleinsten Verästelungen hinein ausdifferenzieren. Ein permanent von Selbstverlust bedrohter Mensch mit Ich-Schwäche kann sich nicht in Facetten ausdifferenzieren. Im Gegenteil, die psychologische Forschung zeigt es heute: Der Bedrohte bleibt eindimensional. Er wechselt die Rollen und Identitäten wie Kleider, aber er findet in keine hinein. Fundamentalismen aller Art können ihn verführen. Denn der Fundamentalismus ist der Versuch, der Komplexität der Welt durch Einfalt gerecht zu werden. Vor solchem Hintergrund fordert Schaefer optimale emotionale Entwicklungsbedingungen für das Kind, um den postmodernen Aufgaben gerecht werden zu können. Aus persönlichen Gesprächen mit Schaefer weiß ich, dass er die besondere Herausforderung für die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft in der Gefahr einer emotionalen Entdifferenzierung sieht, die durch noch so große kognitive Bildung und Ausbildung nicht kompensiert werden kann. Es geht um die Ausdifferenzierung der Gefühlswelt, oder wie Schaefer es ausdrückte: „um Herzensbildung”. Inmitten weltweiter Konflikte und waffenstarrender Selbstbehauptung unterschiedlichster Völker und Kulturen haben wir schmerzlich lernen müssen, dass die Verwissenschaftlichung des Alltagsverstandes die emotionalen Abgründe des Menschen nicht zu überbrücken vermag. Die emotionale Bewertung lässt uns handeln. Und daher werden wir nicht durch unser Wissen zugrunde gehen oder überleben, sondern unsere Werte und Haltungen werden darüber entscheiden. Emotionale Kultivierung, Differenzierung und Erziehung sind die wesentlichen Herausforderungen unserer Zeit. Wir werden uns mit den Emotionen des Menschen beschäftigen müssen, mit seinen Wünschen, Hoffnungen, untergründigen Motiven und Passionen, seinen Empfindlichkeiten und mit den Grenzen seiner Gefühlswelt, in denen jegliches Handeln sich vollzieht.

Lieber Hans Schaefer, Sie haben sich in aller Wissenschaftlichkeit den Blick über die Dinge hinaus nicht zerstören lassen. Ihr Himmel war und ist nicht leer. Ihre Welt war immer eine Welt gefühlshafter und geistiger Wesen. Und in dieser Welt des Geistes sind Sie auch in gewisser Weise unsterblich. Hier in den Räumen unseres universitären Alltags bleiben Sie zumindest unvergesslich.

Prof. Dr. Franz Resch

Abt. für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Universitätsklinikum Heidelberg

Blumenstraße 8

69115 Heidelberg