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DOI: 10.1055/s-2003-40075
Myopathien - Was muss der Anästhesist wissen?
Myopathies - What Does the Anesthesist Need to Know?Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
24. Juni 2003 (online)
Einleitung
Trotz ihrer Seltenheit erfordern Muskelerkankungen wegen des oft erhöhten und schwer einschätzbaren Narkoserisikos eine besondere Aufmerksamkeit in der Anaesthesie. Einhergehend mit den Fortschritten in Molekulargenetik und Biochemie konnten in den letzten Jahren die pathogenetischen Mechanismen zahlreicher Myopathien aufgeklärt werden, wodurch das Spektrum dieser Krankheiten sehr umfangreich und unübersichtlich geworden ist. Die folgende Arbeit soll die wesentlichen klinischen Aspekte von Muskelerkrankungen beschreiben und eine aktuelle Übersicht über die Klassifikation nach ätiologischen und pathogenetischen Gesichtspunkten geben. Dabei soll neben den allgemeinen Narkoserisiken bei Myopathien vor allem auf die speziellen Probleme einzelner Krankheitsgruppen aufmerksam gemacht werden.
Klinik
Während die Ursachen und Entstehungsmechanismen von Myopathien sehr zahlreich sind, ist deren klinisches Bild sehr viel begrenzter. Dieses kann von Myalgien und schmerzhaften Crampi bestimmt werden oder von Paresen einzelner Muskeln oder meist Muskelgruppen. Die Paresen gehen in der Regel mit Atrophien der betroffenen Muskeln einher und in fortgeschrittenen Fällen wird der Muskel durch Fett- und Bindegewebe völlig ersetzt. Dies kann besonders an den Waden zum Bild einer Pseudohypertrophie führen, die bei manchen Muskeldystrophien auftritt.
Eine Relaxationsstörung der Muskulatur steht bei den Myotonien im Vordergrund. Diese lässt meistens bei wiederholten Bewegungen, wie z. B. raschem Öffnen und Schließen der Hände nach, was als „warming-up” Phänomen bezeichnet wird. Ein Beklopfen der Muskeln führt zu einer sichtbaren Kontraktion (Perkussionsmyotonie).
Bei dieser beschränkten Symptomatik sind diagnostische Rückschlüsse in erster Linie aus der Verteilung der Atrophien und Paresen sowie deren Verlauf zu ziehen. Es lassen sich Gliedergürtelmyopathien von distalen Myopathien abgrenzen. Bei manchen Erkrankungen sind ganz bestimmte Muskelgruppen sehr bevorzugt und frühzeitig betroffen, was zu typischen klinischen Bildern führen kann, wie z. B. bei der facio-scapulo-humeralen Muskeldystrophie. Muskelschmerzen und Crampi können in Ruhe oder belastungsabhängig auftreten. Bei Myopathien infolge einer Störung im Kohlenhydratstoffwechsel, wie den Glykogenosen, setzen die Schmerzen bereits unmittelbar nach Beginn der Muskelarbeit ein, lassen aber bei fortgesetzter leichter bis mittelgradiger Muskelbelastung wieder nach („second-wind” Phänomen), da dann die Energie aerob durch die ß-Oxidation von Fettsäuren in den Mitochondrien gewonnen wird. Bei mitochondrialen Myopathien hingegen, bei denen der aerobe Energiestoffwechsel gestört ist, treten Myalgien oft erst nach einer längeren, mittelgradigen Dauerbelastung auf.
Viele Myopathien sind Multisystemerkrankungen. Insbesondere eine Beteiligung der Herzmuskulatur bestimmt häufig Klinik und Prognose der Erkrankung. Einige, zumeist metabolische Myopathien weisen oft zusätzliche Affektionen des peripheren oder zentralen Nervensystems, der Netzhäute, der Leber und anderer Organe auf, die den Verlauf der Erkrankung wesentlich beeinflussen können.
Auch die apparative Zusatzdiagnostik erbringt in aller Regel keine spezifischen Befunde, die eine genaue Zuordnung zu einer bestimmten Muskelerkrankung zulassen.
Die Elektromyographie ist hilfreich bei der Abgrenzung einer Myopathie gegen eine Neuropathie, die ebenfalls zu atrophen Paresen führen kann. Der Nachweis myotoner Entladungen ist sehr typisch für die Gruppe der myotonen Muskelerkrankungen und ist nur bei wenigen nicht zu dieser Gruppe gehörenden Myopathien zu finden. Ein normales Elektromyogramm schließt eine Muskelerkrankung keineswegs aus.
Laborchemisch kann eine erhöhte Aktivität der Serum-Creatinkinase (CK) auf eine Myopathie hinweisen. Allerdings ist auch dieser Befund unspezifisch und nicht beweisend für das Vorliegen einer Muskelerkrankung. Eine so genannte Makro-CK stellt eine harmlose hereditär bedingte Enzymvariante dar und sollte durch geeignete Laboruntersuchungen ausgeschlossen werden, bevor eine intensive Abklärung einer vermeintlichen Muskelerkrankung eingeleitet wird. Parallel zur CK-Erhöhung sind meist auch die Aldolase, Lakatadehydrogenase und Aspartat-Amino-Transferase erhöht. Allerdings sind die Bestimmungen dieser Enzyme in Sensitivität und Spezifität hinsichtlich einer Myopathie der CK-Bestimmung unterlegen und damit verzichtbar. Eine Erhöhung des Serum-Laktats findet sich auch unter Ruhebedingungen bei vielen mitochondrialen Myopathien. In einem Belastungstest unter aeroben Bedingungen zeigt sich bei diesen Myopathien häufig ein übernormal hoher und lang anhaltender Serum-Laktatanstieg. Bei Myopathien im Rahmen von Störungen der Glykolyse oder des Glykogenstoffwechsels kann in einigen Fällen ein Ausbleiben des physiologischen Laktatanstiegs unter Belastung ebenfalls in einem einfachen Test nachgewiesen werden.
Eine Myoglobinurie fällt dem Patienten durch eine bräunliche Verfärbung des Urins auf und kann laborchemisch einfach nachgewiesen werden. Sie tritt dann auf, wenn es zu einem Untergang vieler Muskelfasern kommt. Dies ist z. B. der Fall bei nekrotischen Myopathien infolge von Toxinen oder Medikamenten. Wenn der Muskelfaseruntergang besonders ausgedehnt ist, spricht man von einer Rhabdomyolyse, die zu Paresen und massivem Anstieg der Serum-CK auf Werte über 10 000 U/l führt. Die ebenfalls oft erhebliche Myoglobinurie ist die Ursache des dann komplizierend auftretenden akuten Nierenversagens. Einige Myopathien prädisponieren für Rhabdomyolysen, die dann schon durch an sich geringfügige Ereignisse, wie z. B. starke Muskelbelastung und Allgemeinerkrankungen, virale Infekte, Fieberanstiege anderer Ursache, Elektrolytverschiebungen oder posttraumatische oder -operative Stressfaktoren ausgelöst werden können.
In den meisten Fällen ist zur weiteren diagnostischen Zuordnung einer Myopathie eine Muskelbiopsie notwendig. Doch auch hier sind die meisten Befunde unspezifisch. Oft lässt sich aber wenigstens die Zuordnung zu einer entzündlichen Muskelerkrankung, einer metabolischen Myopathie oder Muskeldystrophie treffen. Mit enzymhistochemischen Methoden ist manchmal der Nachweis eines spezifischen Enzymdefektes möglich. Immunhistochemisch lässt sich für einige der hereditären Muskeldystrophien das Fehlen eines bestimmten Proteins belegen und so die genaue artdiagnostische Zuordnung der Erkrankung treffen.
In ergänzenden biochemischen Untersuchungen der Muskelprobe können weitere Enzymdefekte oder Defizite bestimmter Proteine festgestellt werden, die dann eine genaue Diagnose ermöglichen.
Für einen Teil der hereditären Myopathien ist bereits das verantwortliche Gen lokalisiert. Ergeben die klinischen und bioptischen Befunde den Verdacht auf eine dieser Erkrankungen, so kann mit molekulargenetischen Methoden in diesen Fällen die Mutation direkt nachgewiesen und beschrieben werden.
Klassifikation
Die Einteilung der Myopathien geschieht heutzutage so weit wie möglich nach pathogenetischen Gesichtspunkten. Eine Übersicht gibt Tab. [1].
Tab. 1 Übersicht über die wesentlichen Gruppen von Myopathien nach pathogenetischen Gesichtspunkten (HTLV: Humanes T-lymphotropes Virus, HIV: Humanes Immunschwäche Virus) 1. Muskeldystrophien Gliedergürteldystrophien (M. Duchenne, autosomal dominante und rezessive Gliedergürteldystrophien) distale Muskeldystrophien kongenitale Muskeldystrophien andere (z. B. Facio-scapulo-humerale Muskeldystrophie, Emery- Dreifuss-Muskeldystrophie etc.) 2. entzündliche Myopathien Dermatomyositis Polymyositis Einschlusskörperchen-Myositis Myositiden i. R. von overlap-Syndromen bei Kollagenosen und Immun- vaskulitiden (z. B. systemischer Lupus erythematodes, Sjögren-Syndrom etc.) erregerbedingte Myositiden (Borrelien, Trichinen, HTLV I, HIV) 3. metabolische Myopathien Glykogenosen Mitochondriale Myopathien Lipidspeichermyopathien 4. kongenitale Myopathien z. B. central core Myopathie, nemaline Myopathie etc. 5. myofibrilläre Myopathien z. B. Desminspeichermyopathien 6. endokrine Myopathien Myopathien bei Hyper- und Hypothyreose Steroidmyopathie bei Hyperkortisolismus 7. toxische Myopathien z. B. durch Lipidsenker, Virustatika „critical illness” Myopathie 8. myotone Myopathien und periodische Lähmungen dystrophe Myotonie Typ I (Curschmann-Steinert) und Typ II kongenitale Myotonie Typ Becker und Thomsen Paramyotonie hyper- und hypokaliämische periodische Lähmung 9. Störungen der neuromuskulären Überleitung Myasthenia gravis Lambert-Eaton Syndrom Botulismus kongenitale myasthene Syndrome 10. andere z. B. vakuoläre Myopathien, myopathische Syndrome ohne eindeutige Zuordnung etc. Muskeldystrophien Die Muskeldystrophien stellen wohl die größte Gruppe. Es handelt sich um hereditäre Erkrankungen, bei denen der Funktionsverlust jeweils eines bestimmten Proteins zu einer erhöhten Vulnerabilität von Muskelfasern führt. Diese degenerieren vorzeitig und werden nekrotisch. Die regenerierenden Prozesse, die vielfach ebenfalls geschwächt sind, können diesen Verlust von Muskelfasern im Verlauf nicht mehr kompensieren und es kommt zu Paresen und Muskelatrophien. Dieser Zeitpunkt der klinischen Manifestation kann sehr unterschiedlich sein. Bei den kongenitalen Dystrophien ist die Schwäche bereits bei Geburt auffällig, bei manchen distalen und Gliedergürteldystrophien treten erste Paresen erst im Erwachsenenalter auf. Die meisten Muskeldystrophien verlaufen als Gliedergürtelmuskeldystrophien („limb girdle muscular dystrophy”, LGMD). Sie beginnen in der Regel mit einer Schwäche der Beckengürtel- und proximalen Beinmuskulatur. Im weiteren Verlauf treten dann Paresen der Schulter- und Oberarmmuskulatur, des Rumpfes und der distalen Muskeln hinzu. Man unterscheidet x-chromosomale (Dystrophinopathien, Muskeldystrophie Duchenne und Becker), autosomal-dominante (LGMD I) und autosomal-rezessive (LGMD II) Formen 1. Ihnen liegen genetisch bedingte Funktionsstörungen ganz bestimmter sarkolemmaler oder anderer muskulärer Proteine zu Grunde (Abb. 1). Besonders Störungen einzelner Komponenten des Dystrophin-Glykoprotein-Komplexes führen zu oft schwer verlaufenden Muskeldystrophien mit Beginn der Symptomatik in der ersten Dekade und später hinzutretender Beteiligung der Atem- und Herzmuskulatur. Abb. 1 Der Dystrophin-Glykoprotein-Komplex (DGK) an der Membran der Muskelfaser (Sarkolemm) verbindet die extrazelluläre Matrix mit dem Zytoskelett und den Myofilamenten (Actin, Myosin). Ein Mangel einzelner Komponenten des DGK oder anderer aufgezeigter Proteine liegt vielen Formen der Muskeldystrophien zu Grunde. Mutationen in den Genen für Emerin und Lamin A/C, Proteine der Kernmembran, führen zur seltenen Emery-Dreifuss Muskeldystrophie. Betroffen sind hier vorwiegend die humeroperonaealen Muskeln, frühzeitig treten Kontrakturen an Armen, Beinen und der Wirbelsäule auf. Fast immer kommt es zu Reizleitungsstörungen des Herzens. Patienten mit kongenitalen Muskeldystrophien fallen bereits bei Geburt wegen ihrer muskulären Hypotonie („floppy infants”) auf, das klinische Bild ist dann oft progredient. Eine zusätzliche Affektion des zentralen Nervensystems (ZNS) verschlechtert die Prognose bei einigen Erkrankungen. Entzündliche Muskelerkrankungen Es lassen sich drei Formen der idiopathischen entzündlichen Muskelerkrankungen unterscheiden: die Dermatomyositis (DM), die Polymyositis (PM) und die sporadische Einschlusskörperchen-Myositis (sIBM) 2. Die DM ist eigentlich eine humoral vermittelte Vaskulitis kleiner Arterien und Kapillaren in Muskeln und Haut. Die Erkrankung beginnt meist akut oder subakut mit allgemeinem Krankheitsgefühl, Hauterscheinungen und proximalen Paresen oft mit Myalgien einhergehend. Im Erwachsenenalter ist ein Teil der Fälle mit einem Neoplasma assoziiert. Die PM ist eine durch zytotoxische T-Zellen vermittelte Autoimmunerkrankung der Muskeln. Die infiltrierenden Lymphozyten führen zur Nekrose von Muskelfasern, meist sind distale Muskelgruppen betroffen. Der Verlauf ist in der Regel weniger akut als bei der DM und kann sogar ausgesprochen schleichend und chronisch sein. Schmerzen stehen zumeist nicht im Vordergrund. Eine assoziierte Tumorerkrankung findet sich nur selten. In Fällen mit positiven Jo-1 Autoantikörpern im Serum besteht häufig eine zusätzliche interstitielle Lungenerkrankung. Wenn eine PM zusammen mit einer Kollagenose (z. B. Sjögren-Syndrom, rheumatoide Arthritis) auftritt, wird von einem overlap-Syndrom gesprochen. Die sIBM ist eine ausgesprochen chronisch verlaufende Erkrankung mit oft asymmetrischem Befall proximaler und distaler Muskeln. Ganz bevorzugt können der M. quadriceps und die Fingerbeuger betroffen sein. Neben dem Infiltrat aus zytotoxischen T-Zellen finden sich histologisch die für die Diagnose entscheidenden basophil gesäumten Vakuolen im Sarkoplasma und elektronenoptisch tubulofilamentäre Kerneinschlüsse. Während DM und PM immunsuppressiv (z. B. Corticosteroide, Azathioprin, Methotrexat) behandelbar sind, ist eine wirksame Therapie der sIBM noch nicht bekannt. Tab. 2 Risiken für die Anästhesie bei Myopathien 1. Postoperative Ateminsuffizienz Paresen der Atemmuskulatur Anästhetika-Überempfindlichkeit Relaxantien-Überempfindlichkeit 2. Aspiration Paresen der Schlundmuskulatur 3. Rhabdomyolyse z. B. durch Nahrungskarenz bei metabolischen Myoapthien 4. Beteiligung anderer Organe Herzrhythmusstörungen Herzinsuffizienz Leberfunktionsstörungen z. B.schwere Hypoglykämien nach Nahrungskarenz bei Glykogenosen z. B. Laktatazidose bei Mitochondropathien Nierenfunktionsstörungen z. B. bei Mitochondropathien veränderte Pharmakokinetik z. B. Propofol bei dystropher Myotonie 5. fraglich erhöhte Anfälligkeit für maligne Hyperthermie z. B. Central Core Myopathie Metabolische Myopathien Metabolischen Myopathien liegen hereditäre Störungen des intermediären bzw. Energiestoffwechsels zugrunde. Störungen der Glykolyse oder des Glykogenauf- oder -abbaus führen zu muskulären Glykogenosen 3, Störungen des Lipidstoffwechsels zu Lipidspeichermyopathien und Störungen der Atmungskette finden sich bei den mitochondrialen Myopathien 4. Sie manifestieren sich entweder als Belastungsintoleranz mit Myalgien und Crampi in der anaeroben oder aeroben Phase der Muskelbelastung (s. o.) oder aber als progrediente atrophe Paresen. Zusätzlich bestehen bei vielen Formen eine Beteiligung der Herzmuskulatur und Leberfunktionsstörungen. Die häufigste muskuläre Glykogenose ist der Phosphorylase-Mangel (McArdle Krankheit) und die häufigste muskuläre Störung des Lipidstoffwechsel der Carnitin-Palmitoyl-Transferase (CPT) Mangel Typ II. Die Diagnosestellung erfolgt durch Bestimmung der Enzymaktivitäten im Muskel. Leitsymptome sind in beiden Fällen belastungsabhängige Myalgien und eine Neigung zu Rhabdomyolysen. Extramuskuläre Symptome treten bei beiden Erkrankungen nur selten auf. Mitochondropathien sind hingegen meistens Multisystemerkrankungen und die Myopathie ist nur Teil eines komplexen Syndroms. Oft ist das ZNS beteiligt (mitochondriale Enzephalomyopathie) und es treten z. B. epileptische Anfälle, demenzielle Prozesse, Leukodystrophien, extrapyramidale Störungen oder Hirninfarkte auf. Daneben können aber auch das periphere Nervensystem, Pankreas, Nieren, Magen-Darm-Trakt, Herz, Knochenmark und endokrines System betroffen sein. Liegt der genetische Defekt in der mitochondrialen DNA (mtDNA), so ist der Erbgang maternal. Da aber ein großer Teil der mitochondrialen Proteine in der nukleären DNA kodiert ist, kommen auch autosomal-dominante und -rezessive Erbgänge vor. Da sich in jeder Zelle neben vielen Mitochondrien mit mutierter DNA auch zahlreiche mit normaler DNA befinden (Heteroplasmie), können die Ausprägung und das Muster der Symptome bei gleichem Defekt der mtDNA sehr variabel sein. Kongenitale Myopathien Als kongenitale Myopathie werden hereditäre Erkrankungen bezeichnet, die meist bereits bei Geburt symptomatisch sind („floppy infants”), dann aber oft einen Verlauf nehmen ohne wesentliche Progredienz der muskulären Störungen. Es wurden bislang über 40 verschiedene Formen beschrieben. Die meisten von ihnen sind sehr selten und nur fraglich handelt es sich jeweils um eigene nosologische Einheiten. Noch am häufigsten und wegen der typischen histologischen und z. T. auch klinischen Befunde gut abgrenzbar sind die central core Myopathie (CCM) und die nemaline (rod body) Myopathie (NM). Die CCM ist mit einer erhöhten Anfälligkeit für eine maligne Hyperthermie (MH) verbunden, da beiden Störungen eine Mutation im Gen des Ryanodin-Rezeptors zu Grunde liegt. Die NM ist eine genetisch heterogene Gruppe von Erkrankungen mit Mutationen in Genen unterschiedlicher muskulärer Proteine. Komplizierend können eine Schwäche der Atemmuskulatur und eine Herzbeteiligung 5 sein. Myofibrilläre Myopathien Die myofibrillären Myopathien (MFM) wurden erst jüngst als eigene Form definiert 6. Diese ebenfalls hereditären Myopathien sind histologisch durch eine Ansammlung und sarkoplasmatische Speicherung zahlreicher verschiedener Proteine und eine Auflockerung der myofibrillären Struktur der Fasern gekennzeichnet. Da meist die Speicherung des Intermediärfilamentes Desmin besonders deutlich ist, wird vielfach auch von Desminspeichermyopathien gesprochen. Klinisch imponieren langsam progrediente atrophe Paresen oft mit besonders deutlicher Betonung distaler Muskelgruppen. Auch bei den MFM tritt häufig eine kardiale Mitbeteiligung auf. Endokrine Myopathien Vor jeder invasiven Abklärung einer Myopathie sollte die Schilddrüsenfunktion überprüft werden. Sowohl Hypo- als auch Hyperthyreosen können Myopathien mit Beckengürtel- und proximalen Beinparesen verursachen. Dabei können die übrigen Symptome der Schilddrüsenfunktionsstörung so weit in den Hintergrund treten, dass sie leicht zu übersehen sind. Mit Normalisierung der Schilddrüsenfunktion bilden sich die myopathischen Symptome komplett zurück. Liegt hingegen eine Steroidmyopathie bei Hyperkortisolismus vor, egal ob iatrogen oder endogen, fehlen selten weitere deutliche Zeichen eines Cushing-Syndroms. Toxische Myopathien Zahlreiche Medikamente sind myotoxisch, insbesondere die Lipidsenker, allen voran die Statine. Sie können eine nekrotisierende Myopathie bis hin zu schwer verlaufenden Rhabdomyolysen auslösen, deren Pathomechanismus noch ungeklärt ist. Patienten mit einer vorbestehenden Myopathie sollten möglichst nur Lipidsenker vom Typ des Colestyramin erhalten. Myotone Myopathien und periodische Lähmungen Die typische Relaxationsstörung der Muskeln und die typischen myotonen Entladungen im Elektromyogramm sind charakteristische Merkmale der myotonen Muskelerkrankungen 7. Diese werden mit der periodischen hypo- und hyperkaliämischen Lähmung zu den Ionenkanalkrankheiten der Muskulatur zusammengefasst. Sie werden durch Mutationen der Gene muskulärer Natrium-, Kalzium- und Chloridkanäle verursacht. Eine Muskelschwäche oder Störung anderer Organe treten bei den Myotonien in klinisch relevanter Form nicht auf. Die oft hochgradigen, bis zur Gehunfähigkeit führenden transienten Tetraparesen der periodischen Lähmungen bilden sich stets komplett zurück und dauern selten länger als 24 Stunden. Typischer Auslösemechanismus bei der hyperkaliämischen Form ist das Auslassen von Mahlzeiten, bei der hypokaliämischen Form eine an Kohlenhydraten reiche Mahlzeit und bei beiden Formen die Ruhe nach größerer muskulärer Belastung. Bei den myotonen Dystrophien handelt es sich um hereditäre Erkrankungen, bei denen neben der Skelettmuskulatur mehrere andere Organe betroffen sind. Reizleitungsstörungen des Herzens, Hodenatrophie, Hyper- und Hypoinsulinismus, Katarakt und Störungen der kognitiven Funktionen und des Affektes sind häufig. An den Muskeln kommt es zusätzlich zur Myotonie zu langsam progredienten Atrophien und Paresen. Bei der myotonen Dystrophie Curschmann-Steinert (DM I), die mit einer Prävalenz von 5 : 100 000 die häufigste hereditäre Muskelerkrankung darstellt, sind hauptsächlich die distalen Muskeln der Extremitäten, die mimische und Kaumuskulatur, die Kopfbeuger und Schlundmuskeln betroffen. Es resultieren eine Dysarthrie sowie Schluckstörungen und sehr häufig tritt bereits früh eine Ptosis auf. Genetisch liegt die Expansion eines Nukleotid-Triplet repeats auf dem Chromosom 19 vor. Jüngst wurde die zweite Form einer myotonen Dystrophie (DM II, proximale myotone Myopathie, PROMM) abgegrenzt mit einem meist milderen Verlauf, vornehmlich proximal auftretenden Paresen und der Expansion eines Nukleotid-Quadruplet repeats auf dem Chromosom 3. Störungen der neuromuskulären Überleitung Die klinisch wichtigste Erkrankung der Synapse zwischen Nerv und Muskelfaser ist die Myasthenia gravis. Es handelt sich um eine erworbene Erkrankung der motorischen Endplatte hervorgerufen durch Autoantikörper gegen Acetylcholin-Rezeptoren. Es kommt zu einer Abnahme der Rezeptorendichte an der postsynaptischen Membran. Diese wird durch die anhaltende Attacke des Immunsystems verformt und verliert ihre physiologische Fältelung, wodurch die Oberfläche der Membran geringer wird. Es resultiert eine typische myasthene Erschöpfbarkeit der neuromuskulären Überleitung, die sich elektroneurographisch durch eine Abnahme der Amplitude des Muskelaktionspotentiales bei Serienreizung darstellen lässt (Abb. 2). Klinisch kommt es hierdurch zu Paresen, die belastungsabhängig stark fluktuieren können und typischerweise nach Ruhe deutlich geringer sind und sich bei fortgesetzter Belastung der betroffenen Muskeln mehr und mehr akzentuieren. Prinzipiell kann zwar die gesamte Skelettmuskulatur betroffen sein, besonders häufig sind aber die äußeren Augenmuskeln, die bulbären Muskeln und die proximalen Armmuskeln erkrankt. Durch eine konsequente, angepasste immunsuppressive Therapie mit Corticosteroiden, Azathioprin und anderen Medikamenten sowie eventuell einer zusätzlichen Thymektomie lässt sich bei fast allen Patienten eine nahezu komplette Rückbildung der Symptome erreichen auch nach Einstellen der symptomatischen Behandlung mit Acetycholinesterase-Hemmern wie Pyridostigmin. Abb. 2 Belastungstest der neuromuskulären Überleitung. Reizung des N. accessorius und Ableitung vom M. trapezius. Serienreizung mit acht Einzelreizen. (a) Normalbefund, die Amplitude des Potentiales nach dem vierten Reiz ist nur unwesentlich geringer als nach dem ersten Reiz. (b) Deutliches Amplituden-Dekrement des viertem zum ersten Reiz von 19 % (pathologisch > 10 %) bei einer Patientin mit generalisierter Myasthenia gravis Trotz ausführlicher und sorgfältiger Untersuchung bleiben sehr viele Fälle von Myopathien unklassifiziert. Dies ist meist eine insbesondere für den Patienten sehr unbefriedigende Situation, da Aussagen über spezielle Risiken und die Prognose der Erkrankung nicht möglich sind, eine Therapie nicht angeboten werden kann und vor allem in sporadischen Fällen auch die genetische Beratung nur sehr vage bleibt.Literatur
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Abteilung für Neurologie, Allgemeines Krankenhaus St. Georg
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