Psychother Psychosom Med Psychol 2003; 53(7): 319-321
DOI: 10.1055/s-2003-40493
Mitteilung
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Vermittlung psychosozialer Kompetenzen mangelhaft

Ergebnisse einer Befragung ehemaliger Medizinstudierender an sieben deutschen UniversitätenPsychosocial Skills Training UnsatisfactoryResults from Interviews with Medical School Graduates from Seven German UniversitiesJohannes  Jungbauer1 , Dorothee  Alfermann1 , Christian  Kamenik1 , Elmar  Brähler1
  • 1Abteilung für medizinische Psychologie und medizinische Soziologie, Universität Leipzig
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Publikationsverlauf

Eingegangen: 20. März 2003

Angenommen: 20. April 2003

Publikationsdatum:
07. Juli 2003 (online)

Vor dem Hintergrund der strukturellen Probleme im Gesundheitswesen und der immer deutlicher werdenden Grenzen der Finanzierbarkeit der gesundheitlichen Versorgung wird seit Jahren auch eine Reform der Medizinerausbildung diskutiert [1] [2]. Neben einer patientennäheren Ausbildung sowie veränderten Lehrformen und -inhalten werden veränderte Prüfungsverfahren und eine Verkürzung des Medizinstudiums gefordert. Im Rahmen solcher Reformüberlegungen sind Beurteilungen junger Ärzte und Ärztinnen im Hinblick auf das absolvierte Studium eine wichtige Informationsquelle [3]. So zeigte sich in einer zwischen 1990 und 1993 durchgeführten Befragung ehemaliger Medizinstudierender ein massives Defizitempfinden gegenüber der von der Hochschule erbrachten Leistung. Bemängelt wurden von den Absolventen insbesondere der fehlende Praxisbezug des Studiums, ferner die fehlende Schulung in fachübergreifendem Denken sowie in kommunikativen und kooperativen Kompetenzen [4].

Nachdem diese Befragung bereits rund zehn Jahre zurückliegt, sind die Ergebnisse einer aktuellen Fragebogenstudie interessant, in der angehende Ärzte nach dem Abschluss ihres 3. Staatsexamens gebeten wurden, ihr Medizinstudium rückblickend zu bewerten und Auskunft über ihre beruflichen Ziele zu geben. Dabei wurden Studienteilnehmer an sieben deutschen Universitäten befragt: Während die Absolventen in Leipzig, Gießen, Lübeck, Würzburg und Dresden von den jeweils zuständigen Landesprüfungsämtern zur Teilnahme an der Befragung aufgefordert wurden, erfolgte die Rekrutierung in Köln und Jena direkt durch die dortigen Fakultäten. Insgesamt nahmen zwischen April 2002 und Dezember 2002 n = 671 ehemalige Medizinstudierende an der Studie teil (Rücklaufquote 53,6 %). Es handelte sich dabei um 315 Männer und 352 Frauen (4 keine Geschlechtsangabe), der Altersdurchschnitt betrug 27,4 Jahre (SD = 2,27). Die meisten Studienteilnehmer hatten zum Zeitpunkt der Befragung bereits eine AiP-Stelle angetreten (71,2 %) oder planten dies für die nahe Zukunft (17,1 %).

Im Hinblick auf ihre weiteren beruflichen Ziele gaben 91,9 % der Frauen und 93,3 % der Männer an, eine Facharztausbildung anzustreben. Dabei stehen die Innere Medizin (14,3 %) und die Allgemeinmedizin (10,6 %) ganz oben auf der Wunschliste der Befragten; auch Chirurgie (8,9 %) und Kinderheilkunde (8,0 %) sind begehrt, wobei letzterer Berufswunsch besonders von Frauen häufig genannt wurde. Im Vergleich dazu wurden psychiatrisch und psychotherapeutisch orientierte Facharztausbildungen recht selten als berufliches Ziel angegeben (Psychiatrie/Psychotherapie: 2,1 %; Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie: 1,6 %; psychotherapeutische Medizin: 0,3 %)

Bei der Evaluation des Medizinstudiums wurden die Studienteilnehmer gebeten, die einzelnen Fächer hinsichtlich ihrer Bedeutung für die ärztliche Berufsausübung auf einer Skala von 1 (unwichtig) bis 5 (wichtig) einzuschätzen. Dabei zeigt sich, dass den meisten Fächern des klinischen Studienabschnitts eine deutlich höhere Praxisrelevanz zuerkannt wird als den Fächern des vorklinischen Studienabschnitts. Bei den vorklinischen Fächern erreichen Anatomie (4,6) und Physiologie (4,4) mit Abstand die höchsten Bewertungen, während im klinischen Studienabschnitt Innere Medizin (4,8), Untersuchungskurs (4,6), Pharmakologie (4,6) und Chirurgie (4,4) als wichtigste Fächer beurteilt werden. Als vergleichsweise unerheblich für die Berufsausübung werden hingegen die vorklinischen Grundlagenfächer Chemie und Physik (2,4 bzw. 2,2) sowie die klinischen Fächer Arbeitsmedizin (2,3), Umweltmedizin (2,2) und Biomathematik (2,0) erachtet. In Relation dazu belegen die psychosozialen Fächer mit Durchschnittsbewertungen von 2,6 bis 3,9 Plätze im „Mittelfeld”. Dabei wird die Allgemeinmedizin (3,9) als wichtigstes psychosoziales Fach bewertet; Psychiatrie (3,5) sowie psychosomatische Medizin und medizinische Psychologie (jeweils 3,4) erreichen mittlere Werte. Medizinische Soziologie (2,6) und Sozialmedizin (2,4) werden hingegen als weniger relevant erachtet. Eine nach dem Geschlecht differenzierende Auswertung ergab ferner, dass Frauen die psychosozialen Fächer generell als wichtiger für die ärztliche Berufsausübung einschätzten als Männer. Interessant ist auch der Vergleich zwischen den Studienteilnehmern der sieben beteiligten Universitäten: Hier zeigt sich, dass die Absolventen der ostdeutschen Universitäten Leipzig, Dresden und Jena die psychosozialen Fächer im Schnitt als wichtiger erachten als die Absolventen der westdeutschen Universitäten (vgl. Tab. [1]).

Tab. 1 Bewertung der psychosozialen Fächer im Medizinstudium (5 = wichtig, 1 = unwichtig) ges. m w Leipzig Jena Gießen Köln Würzburg Lübeck Dresden zum Vergleich Anatomie 4,6 4,6 4,7 4,6 4,7 4,7 4,6 4,6 4,6 4,8 Innere Medizin 4,8 4,7 4,8 4,8 4,7 4,8 4,8 4,7 4,8 4,8 psychosoziale Fächer medizinische Psychologie 3,4 3,2 3,5 3,5 3,4 3,4 3,6 3,2 2,9 3,6 medizinische Soziologie 2,6 2,6 2,7 3,0 2,7 2,4 2,5 2,6 2,3 2,4 Psychiatrie 3,5 3,3 3,6 3,5 3,5 3,3 3,6 3,3 3,6 3,7 psychosomatische Medizin 3,4 3,1 3,6 3,6 3,5 3,2 3,4 3,1 3,1 2,6 Sozialmedizin 2,4 2,3 2,5 2,6 2,5 2,5 2,4 2,3 2,1 4,4 Allgemeinmedizin 3,9 3,7 4,1 4,0 4,2 3,8 4,0 3,3 3,8 4,8 zum Vergleich Physik 2,2 2,4 2,0 2,3 2,5 2,0 1,8 2,1 1,9 2,2 Biomathematik 2,0 2,0 1,9 2,3 2,1 1,9 1,9 1,8 1,7 2,0

Als elementare Voraussetzungen für ihre spätere Berufsausübung nannten die Befragten neben der allgemeinen ärztlichen Kompetenz (medizinisches Wissen, praktische Fähigkeiten, interdisziplinäre Denkweise) insbesondere soziale Kompetenzen (Kommunikation mit Patienten, Arzt-Patient-Beziehung) sowie Kompetenzen der Arbeitsorganisation (Teamfähigkeit, Organisationsvermögen). Bemerkenswert ist dabei, dass die soziale Kompetenz im Umgang mit dem Patienten von 85 % der Studienteilnehmer als grundlegende Voraussetzung für die Berufsausübung genannt wurde und damit noch vor den ärztlichen „Kernkompetenzen” der praktischen ärztlichen Fähigkeiten (84 %) und eines breiten medizinischen Grundlagenwissens (79 %) rangiert. Gleichzeitig werden in diesen als zentral erachteten Bereichen die eklatantesten Ausbildungsdefizite gesehen. Hierzu wurde die Differenz d zwischen dem eingeschätzten Stellenwert für den Beruf (5 = wichtig, 1 = unwichtig) und der darauf bezogenen Vorbereitung durch das Medizinstudium (5 sehr gut, 1 sehr schlecht) gebildet. Tab. [2] zeigt, dass insbesondere die Vermittlung praktischer ärztlicher Fähigkeiten als äußerst unbefriedigend beurteilt wird; daneben vermissten die Befragten eine hinreichende Vorbereitung auf den Umgang mit dem Patienten sowie geeignete Lehrveranstaltungen zur Verbesserung der psychosozialen Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit (Tab. [2]).

Tab. 2 Die größten Ausbildungsdefizite im Medizinstudium aus Sicht der Absolventen d 1. praktische Fähigkeiten 3,0 2. Umgang mit Patienten 2,5 3. psychosziale Kompetenz 2,5 4. Kommunikationsfähigkeit 2,4 5. Teamwork 2,2 6. interdisziplinäre Denkweise 2,0 7. Organisationsfähigkeit 2,0 8. Wirtschaftskenntnisse 1,8 9. EDV-Kenntnisse 1,8 10. Führungsqualität 1,8

Vor diesem Hintergrund fühlen sich nur 5,5 % der Befragten durch das Medizinstudium sehr gut und 32,4 % gut auf ihre spätere Berufstätigkeit vorbereitet. „Mittelprächtig” fühlen sich 38,5 % vorbereitet, schlecht oder sogar sehr schlecht 19,6 bzw. 4,1 %.

Als Fazit lässt sich festhalten:

Nur ein gutes Drittel der angehenden Ärzte fühlt sich nach dem Abschluss des 3. Staatsexamens gut oder sogar sehr gut auf den klinischen Alltag vorbereitet. Die Befragten kritisieren vor allem die mangelhafte Praxisorientierung des Medizinstudiums. Eklatante Defizite werden vor allem in der Vermittlung praktischer ärztlicher Fähigkeiten und psychosozialer Kompetenzen im Umgang mit dem Patienten gesehen. Die psychosozialen Fächer im Medizinstudium werden hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit für die ärztliche Berufsausübung zwar nicht als zentral, aber doch als vergleichsweise wichtig erachtet. An ostdeutschen Universitäten ist die Wertschätzung der psychosozialen Fächer deutlicher ausgeprägt als an westdeutschen Universitäten. Bei den beruflichen Zielen dominiert der Wunsch nach einer Facharzttätigkeit, wobei Innere Medizin und Allgemeinmedizin ganz oben auf der Wunschliste stehen. Nur sehr wenige unter den angehenden Ärzte und Ärztinnen wollen hingegen psychiatrisch oder psychotherapeutisch tätig werden.

Die Befragungsergebnisse unterstreichen einmal mehr die Forderung nach einer praxisnäheren Medizinerausbildung, die auch die psychosozialen Anforderungen des Arztberufs hinreichend berücksichtigt. Diese Forderung ist umso aktueller, als die neue Approbationsordnung viele Möglichkeiten zu einer Neugestaltung des medizinischen Curriculums und einer verbesserten Integration von psychosozialen Aspekten in die klinischen Fächer bietet [5] [6]. Die Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung, das Zuhörenkönnen und das Eingehen auf seelische Bedürfnisse des Patienten sind elementare Aufgaben des Arztes, die bereits im Studium eingeübt und anhand von Praxiserfahrungen (z. B. in Famulatur und Praktischem Jahr) reflektiert werden sollten. Im Übrigen führen die bemängelten Defizite der Medizinerausbildung nicht nur zur Unzufriedenheit und Verunsicherung der Absolventen, sondern vermutlich auch zu einer Beeinträchtigung der medizinischen Versorgungsqualität. Möglicherweise tragen die erlebten Ausbildungsdefizite bei psychosozialen Kompetenzen auch dazu bei, dass nur wenige Absolventen im psychiatrischen oder psychotherapeutischen Bereich tätig werden wollen, denn es ist anzunehmen, dass sie sich speziell im Hinblick auf diese Facharzttätigkeit weder besonders motiviert noch gut vorbereitet fühlen.

Literatur

  • 1 Pabst R. Aktuelle Herausforderungen in der Hochschulmedizin. Die Hochschulmedizin im Portrait.  Forschung & Lehre. 2001;  6 309-312
  • 2 Grönemeyer D. Med. in Deutschland. Standort mit Zukunft. Berlin; ABW Wissenschaftsverlag 2001
  • 3 Pabst R, Nave H, Rothkötter H-J, Tschernig T. Lehrevaluation in der Medizin. Befragungen zur Qualität der Lehre in den Hochschulen.  Dt Ärztebl. 2001;  98 A 747-749
  • 4 Minks K H, Bathke G W. Absolventenreport Medizin. Ergebnisse einer Längsschnittuntersuchung zum Berufsübergang von Absolventinnen und Absolventen der Humanmedizin. Bonn; Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft 1994
  • 5 Strauß B, Köllner V. Die neue Approbationsordnung: Eine Chance für die psychosozialen Fächer.  Psychother Psych Med. 2003;  2 43-46
  • 6 Jünger J, Köllner V. Integration eines Kommunikationstrainings in die klinische Lehre.  Psychother Psych Med. 2003;  2 56-64

Dr. Johannes Jungbauer

Universität Leipzig · Abteilung für medizinische Psychologie und medizinische Soziologie

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