Rofo 2003; 175(8): 1029-1031
DOI: 10.1055/s-2003-40919
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Plädoyer für einen Antibarbarus der radiologischen Fachsprache

In Support of an Antibarbarus, a Scholarly Apparatus of Bad Radiologic IdiomsW.  Golder1
  • 1Abteilung Radiologie und Nuklearmedizin, Klinikum Benjamin Franklin, Freie Universität Berlin
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
29. Juli 2003 (online)

Hinweise auf Sprachverstöße und Stilsünden werden von Naturwissenschaftlern und Medizinern gewöhnlich vehement zurückgewiesen. Wer derartige Kritik vorträgt, verlässt die akademische Hauptstromrichtung und läuft Gefahr, belächelt zu werden - unabhängig davon, ob er aus der gleichen oder einer anderen Disziplin kommt als der so Getadelte. Auf die wissenschaftliche Nachricht an sich und deren Neuigkeitswert komme es an und weniger darauf, wie sie sprachlich transportiert werde, lautet die Erwiderung. Damit wird freilich unausgesprochen eingeräumt, dass die Sprache der exakten Wissenschaften und der Medizin tatsächlich Mängel aufweist, sowohl generelle als auch solche fachspezifischer Art. Diese Defizite lasten auf wissenschaftlichen Veröffentlichungen ebenso wie auf der Sprache des Alltags. In der Radiologie ist ihre potenzielle Bedeutung beträchtlich, weil der ausformulierte schriftliche Bericht ein, wenn nicht das wesentliche Kriterium der Leistungsfähigkeit des in dieser Disziplin tätigen Arztes ist.

Guter Schreibstil ist nicht nur Vignette, sondern Zeichen von Kompetenz und Glaubwürdigkeit. Die treffende Formulierung verleiht dem diagnostischen Urteil den erstrebten meinungsbildenden Effekt. Umgekehrt dürfen Schwächen der sprachlichen Darstellung mit einigem Recht als Zeichen der Unsicherheit oder sogar des Rückzugs gedeutet werden. Damit entwerten sie das in dieser Sprache verfasste Wissen [1]. Gemeint sind damit allerdings nicht vergleichsweise banale Verstöße gegen den guten Stil wie Kolloquialismen oder Schnörkel und Schwulst, sondern der Gebrauch von Wörtern und Begriffen, die mehr verschleiern als enthüllen, die Nebel verbreiten, wo Klarheit gefordert ist, und die gerade deshalb so häufig verwendet werden, weil sie präzise Formulierungen scheinbar ersetzen können. Diese Vokabeln werden so oft ausgesprochen und niedergeschrieben, dass ihre Kraftlosigkeit vielfach nicht mehr registriert und die mit ihrem Gebrauch verbundene Desinformation nicht als beklemmend empfunden wird. Die Befundtexte, in denen man sie finden kann, sind Legion.

Zu diesen Termini gehören so unscheinbare Wörter wie „Erscheinungen”, „Störungen” und „Veränderungen”, aber auch der überaus beliebte Begriff der „Raumforderung”. Die drei Plurales sind selbst für die Umgangssprache reichlich unpräzise. Um so mehr gilt dieser Vorbehalt für ihren Gebrauch in medizinischen Texten, insbesondere dann, wenn sie mit ähnlich strapazierten Adjektiven kombiniert werden (z. B. in „entzündliche Erscheinungen”, „ischämische Störungen” oder „degenerative Veränderungen”). In wissenschaftlichen Arbeiten sind derartige verbale Ausfluchtsformeln auf jeden Fall deplatziert. Aber auch für klinische Routinebefunde sind sie keine Zierde. Diese Missbilligung gilt auch und gerade für den liberalen Umgang, den die diagnostische Radiologie mit dem Begriff der Raumforderung pflegt. Mag sein, dass viele Anwender damit die Alternative „Tumor” oder „Geschwulst” zu vermeiden suchen, mag auch sein, dass anderen die korrekte Variante „raumfordernde Läsion” zu lang ist. Als Entschuldigung können diese Argumente nicht anerkannt werden. Tatsächlich ist „Raumforderung” nämlich ein Un-Wort im eigentlichen Sinne. Der Duden kennt es nicht. Man findet es auch in keinem anderen allgemeinen Wörterbuch der deutschen Sprache. Selbst die Medizinlexika wahren Distanz. Mit dieser Wortschöpfung hat sich die Radiologie sprachlich isoliert.

Nicht einmal Puristen werden verlangen, den Gebrauch dieser und anderer Neologismen und fehlerhaft gebildeter bzw. gebrauchter Wörter zu untersagen. Dafür sind die Sprachgepflogenheiten zu langlebig und widerstandsfähig und eine funktionierende Kommunikation zu wichtig. Es hat indes durchaus Versuche gegeben, gezielte Änderungen am Status quo der radiologischen Fachsprache herbeizuführen. Bedeutende Anstöße haben die Fortschritte auf dem Gebiet der Röntgenstrahlen und der bildgebenden Verfahren mit der Kolumne „RöFo-Lexikon und Glossar” [2] [3] [4] [5] [6] und das American Journal of Roentgenology mit einer vieldiskutierten Artikelserie [7] [8] [9] [10] [11] [12] [13] [14] gegeben. Was fehlt, ist die möglichst umfassende Sammlung und Sichtung der verbesserungs- bzw. änderungsbedürftigen Termini und der Vorschläge für Korrekturen, Modifikationen und Alternativen. Ein derartiges Projekt hat es verdient, in Anlehnung an Bücher, die gegen Sprachverstöße in Nationalsprachen kämpfen und den guten und korrekten Stil fördern, als Antibarbarus der radiologischen Fachsprache bezeichnet zu werden.

Literatur

Prof. Dr. med. W. Golder

Abteilung Radiologie und Nuklearmedizin, Klinikum Benjamin Franklin, Freie Universität Berlin

Hindenburgdamm 30

12200 Berlin