PiD - Psychotherapie im Dialog 2003; 4(3): 300-301
DOI: 10.1055/s-2003-41848
Resümee
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zwang

Anregungen für die psychotherapeutische ArbeitMichael  Broda, Ulrich  Streeck
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Publication Date:
03 September 2003 (online)

Der Versuch, die Entstehung und Behandlung von Zwangserkrankungen in diesem Themenheft darzustellen, bringt im Ergebnis viele interessante Perspektiven, aber auch noch Widersprüche und Klärungsbedarf zum Vorschein.

Zunächst einmal kann eine hohe Übereinstimmung in der Bedeutsamkeit der therapeutischen Beziehungsgestaltung konstatiert werden. Nahezu alle Beiträge betonen die Wichtigkeit dieser Dimension und stellen nicht spezielle Techniken in den Vordergrund. Dies ist eine erfreuliche Feststellung, da viele Repräsentanten von Therapieschulen bislang glaubten, an der Frage der Beziehungsgestaltung und der Wichtigkeit der therapeutischen Beziehung im Behandlungsprozess die Hauptunterschiede zwischen den Therapieschulen festmachen zu können. Der Aufbau einer professionellen Arbeitsbeziehung, das Aushalten von negativen Emotionen, ein gleichbleibend freundliches Beziehungsangebot sind zentral notwendige Voraussetzungen, um Techniken Erfolg versprechend einsetzen zu können.

Ebenfalls große Übereinstimmung besteht in der Auffassung, dass Zwangsrituale in der Lage sind, negative Befindlichkeiten zu reduzieren. Ambühl und Meier stellen in ihrer Übersicht diese Funktion dar, Ecker spricht in seinem verhaltenstherapeutischen Beitrag von einer Aggressionskrankheit und zitiert Hand mit der „kathartischen Entblockung”. Reinecker, ebenfalls Verhaltenstherapeut, stellt in seinem Beitrag ein kognitives Modell mit einer Stimulus- und Reaktionskomponente vor, wobei die Stimuluskomponente zum Entstehen von Angst, Erregung und Unruhe führt. Lang benennt aus psychoanalytischer Sicht die massiven Schuldgefühle, die Zwängen zugrunde liegen; für Dümpelmann und Böhlke dämpfen Zwangssyndrome Affekte und Impulse. Nardone vertritt als Systemiker die Auffassung, dass sich der Zwangskranke vor etwas Furchtbarem, das geschehen ist oder geschehen wird, schützen muss. Kordon und Hohagen formulieren diesen Prozess in neurobiologischen Termini: Intrusionen sind das Ergebnis eines fehlerhaften Filterprozesses im Thalamus, der auf einem Fehler in der impliziten Informationsverarbeitung beruht. Die fehlenden Hemmungen ermöglichen ein Hochregulieren der kortiko-thalamischen Verbindung. Es scheinen danach allgemeine negative Befindenszustände zu sein und weniger spezifische Befürchtungen, die durch Zwangshandlungen oder -gedanken neutralisiert werden. Unsere Patientin spricht im Interview schlicht von dem unbeschreiblichen Gefühl, einen leeren Kopf zu haben.

Ist es sinnvoll, den Inhalten der Zwangsgedanken oder -handlungen eine Bedeutung zuzuschreiben? Wie zu erwarten setzen hier die unterschiedlichen Therapierichtungen unterschiedliche Akzente: Psychoanalytiker schreiben der Symbolik einen hohen Stellenwert zu (Lang) - dies wird nicht zuletzt an der Interpretation der Fallbeispiele deutlich. Aber auch für Reinecker stellen die Inhalte von Zwangsgedanken Themenkreise dar, die für unseren Kulturkreis eine besondere Bedeutung haben.

Neben der Funktionalität der Erkrankung unter dem Aspekt der Regulation negativer Emotionen (mit Ambühl und Meier sollte man nochmals betonen, dass es sich bei der häufig genannten Emotion Angst doch vielleicht eher um das Zeigen einer sozial akzeptierten Emotion im Gegensatz zu Schuldgefühlen, Depression oder Wut handeln könnte) steht noch die Funktion des Schutzes der Autonomie und Kohäsion und der Verhinderung von Fragmentierung (Dümpelmann u. Böhlke). Dies wird auch in dem Beitrag von Ciupka-Schön deutlich, der auf die fehlenden Selbststeuerungsmöglichkeiten der Zwangserkrankten hinweist.

Von Klitzing macht deutlich, dass Wiederholungen und Ritualisierungen in der Entwicklung des Individuums zum individuellen psychischen Funktionieren beitragen. Erst wenn Entwicklungsschädigungen vorliegen und die Ich-Funktionen defizitär sind, übernehmen Ritualisierungen und Wiederholungen eine die Autonomie stabilisierende Funktion.

Nach Ambühl und Meier scheint die Behandlung von Zwangserkrankten an einer störungsspezifischen Therapie nicht vorbei zu kommen. Dabei ist interessant, dass auch Psychoanalytiker die Technik der Expositionsbehandlung offensichtlich als zielführend ansehen. So vergleicht Lang das analytische Therapiesetting mit einer verhaltenstherapeutischen Exposition. Es scheint also einen Konsens zu geben, dass die Exposition einen zentralen Bestandteil des Behandlungskonzepts darstellt. Sicherlich sind die Behandlungsansätze der Exposition am weitesten in der Verhaltenstherapie entwickelt (Ecker); dort werden auch Ansätze zur Expositionsbehandlung bei Gedankenzwängen beschrieben.

Worüber jedoch auch Konsens herrscht, ist die Wichtigkeit der Bearbeitung von Hintergrundproblemen. Die Beachtung der Rolle von Familiensystemen, von frühen Traumatisierungen oder Entwicklungsdefiziten bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Zwangserkrankung wird von den meisten AutorInnen betont.

Die Kombination von Psychotherapie mit Selbsthilfeansätzen beschreibt Ciupka-Schön, wobei er dies ausdrücklich als Ergänzung und nicht als Alternative konzipiert. Ebenfalls als Ergänzung und nicht alternativ stellen Degner, Bandelow und Bleich die psychopharmakologische Behandlung vor und empfehlen, diese in Kombination mit Psychotherapie einzusetzen.

Was sagen uns die beiden „elder statesmen” Hoffmann und Thomä in den Interviews? Sie mahnen vor allem Kurskorrekturen in ihrer jeweilig eigenen Therapieschule an. Hoffmann betont das individuelle Verstehen der Symptomatik in einem Kontext, der in der Verhaltenstherapie von einer Diskussion um standardisierte Behandlungsprogramme geprägt ist. Er mahnt an, dass das Berechnen von Auftretenswahrscheinlichkeiten für Zwangsinhalte wohl an dem Anliegen des Patienten vorbei geht und führt den Begriff des Willens und der Selbststeuerung wieder in die verhaltenstherapeutische Diskussion ein. Thomä beklagt eine Tendenz in der Psychoanalyse, den Beitrag des Psychoanalytikers zur therapeutischen Beziehung zu unterschlagen und sich einer dichten emotionalen Beziehung mit dem Patienten zu entziehen.

Etwas widersprüchlich bleibt die Frage des Zusammenhangs von Zwangserkrankung und Psychose - hier kommen Thomä (kaum ein Zusammenhang) einerseits und Dümpelmann und Böhlke, die mit psychosekranken Patienten arbeiten (hohe Komorbidität) andererseits, zu divergierenden Aussagen. Auch hinsichtlich des Zusammenhangs von Zwangsstörung und zwanghafter Persönlichkeitsstörung widersprechen sich die Aussagen: auf der einen Seite die Beobachtung, dass beide nur selten gemeinsam auftreten (Ambühl und Meier), auf der anderen Seite eine Komorbidität von immerhin 15 % (Ciupka-Schön).

Beim systemischen Beitrag von Nardone besticht der große Erfahrungshintergrund, auf dem die Überlegungen beruhen. Bei vielen TherapeutInnen anderer Schulen wird sich sicherlich Neugier, aber auch Skepsis einstellen, ob wirklich alle ZwangspatientInnen mit diesem Ansatz erfolgreich behandelt werden können. Offen bleibt auch, wie viele ZwangspatientInnen sich durch die paradoxe Verschreibung, wie er sie skizziert, nicht ernst genommen fühlen könnten.

Reinecker regt an, über die Misserfolge und das Scheitern in Therapien nachzudenken.

Vielleicht kann das die Essenz aus allen Beiträgen sein: Kein Ansatz, kein Verfahren und keine Ideologie hat einen Alleinvertretungsanspruch. Ein an der sich stetig verbessernden Behandlung von ZwangspatientInnen orientiertes Vorgehen muss alle uns zugänglichen Wissens- und Erfahrungsbereiche berücksichtigen, um den PatientInnen eine bestmögliche Hilfestellung anzubieten. Auch wenn in dieser Beziehung in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt werden konnten und die Psychotherapie vielen PatientInnen neue Lebensperspektiven eröffnen konnte, ist es angebracht, in vielen Fällen auch die Begrenzung unserer therapeutischen Möglichkeiten zu akzeptieren. Wir können zur Zeit nicht jedem Zwangspatienten helfen. Dass wir unser Wissen jedoch zusammentragen und kompilieren ist eine Rationale dieses Themenheftes. Es liegt an Ihnen, liebe PiD-LeserInnen, aus diesem vielleicht neuen Wissen, Befruchtungen für Ihre therapeutische Arbeit zu ziehen.