Suchttherapie 2003; 4(3): 113-114
DOI: 10.1055/s-2003-42229
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Editorial

EditorialIrmgard Vogt1 , Clemens Veltrup1
  • 1Institut für Suchtforschung, Fachhochschule Frankfurt am Main
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Publication Date:
22 September 2003 (online)

„Dass Menschen süchtig werden, ist kein Wunder. Exzesse mit Essen und Alkohol sind so alt wie die Geschichte der Menschheit. Tatsächlich fühlt sich süchtiges Verhalten gut an und wir sind so gebaut, dass wir solche Verhaltensweisen wiederholen. Warum wir nicht alle süchtig sind, ist vielmehr das Geheimnis.” So beginnt W. R. Miller seinen Artikel „Why do people change addictive behavior?” [1]. Und er fährt fort: „Warum hören Menschen mit voll ausgeprägten süchtigen Verhaltensweisen damit auf, manchmal sogar ganz abrupt? Wie können wir die Wandlungen verstehen, welche die Mehrzahl der Individuen, die früher einmal in Alkohol oder Drogen verstrickt waren, auf dem Weg zur Abstinenz oder zu moderatem Konsum durchlaufen?” [1, S. 163]. Das sind zentrale Frage der Suchtforschung und Suchtbehandlung, auf die wir endgültige Antworten noch nicht geben können.

Wir wissen allerdings heute sehr viel genauer, was wann wem hilft. Diesen Erkenntnisfortschritt verdanken wir nicht zuletzt Miller und Rollnick und einer Reihe ihrer Kollegen und Kolleginnen, die nunmehr seit gut 20 Jahren auf die Bedeutung der Änderungsmotivation für die Verhaltensmodifikation hingewiesen haben. Unter Berücksichtigung von Überlegungen von Prochaska und DiClemente [2] und dem klientenzentrierten Ansatz von Rogers [3] haben sie einen „neuen” therapeutischen Ansatz für Menschen mit substanzbezogenen Störungen entwickelt, das „Motivational Interviewing” (MI), das man als einen direktiv-klientenzentrierten Ansatz zur Reduzierung von Ambivalenz bezüglich einer Verhaltensänderung charakterisieren kann.

Auf den ersten Blick wirkt die Koppelung von direktiven Techniken mit denen des non-direktiven klientenzentrierten Ansatzes von Rogers wie ein Widerspruch, jedoch entschlüsselt sich die Verbindung bei näherem Hinsehen als theoretisch wie praktisch gelungen. Das liegt zunächst einmal daran, dass Miller und KollegInnen das Menschenbild von Rogers weitgehend übernehmen. Beide setzen auf die Selbsthilfekräfte derjenigen, die Probleme haben und die diese zu bewältigen suchen. Der Schlüssel zur Lösung der Probleme liegt in gewisser Weise bei den Betroffenen selbst, aber die Berater, Behandler und Betreuer können ihnen mit gezielten und in diesem Sinn direktiven Interventionen helfen, diesen zu finden und anzuwenden. So ist das MI ein Interviewing im wahrsten Sinne: Betroffene und Behandler betrachten die Problematik gemeinsam, der Prozess von Selbstreflexion wird bei der Klientel durch die Beratenden gefördert und Selbstmanagementressourcen werden unterstützt. Anders als bei Rogers geht es dabei nicht in erster Linie um die Bearbeitung emotionaler Blockierungen, sondern um gezielte Hilfen hinsichtlich der Problemwahrnehmung und - als Folge davon - der Entwicklung von Änderungsbereitschaft [4] [5].

MI ist also der kognitiven Psychologie verpflichtet, mit der sie sowohl die Betonung der Motivation als einem entscheidenden Moment von Verhaltensänderungen verbindet als auch die Bedeutung des Selbstbildes und der damit zusammenhängenden Selbstwirksamkeitserwartungen. Wer daran glaubt, dass Veränderungen möglich sind, und wer weiter glaubt, Fertigkeiten und Fähigkeiten zu haben oder erwerben zu können, die geeignet sind, eigenes Verhalten zu ändern, hat gute Chancen, das auch zu schaffen. Mit den Techniken von MI werden diese Prozesse gezielt angestoßen, unterstützt und vorangetrieben. Die Behandler arbeiten darauf hin, das Selbstbild der Klientinnen und Klienten zu verbessern und ihre Selbstwirksamkeitserwartungen zu fördern.

Das Motivational Interviewing verlangt vom professionellen Helfer die Umsetzung zentraler therapeutischer Grundhaltungen, vor allem Empathie sowie die Überzeugung, dass Entwicklungsfortschritte bei der Klientel möglich sind, sowie das Akzeptieren der Entscheidungsautonomie der Betroffenen. So einfach die Umsetzung der Techniken (auf den ersten Blick) sein mag, erst vor dem Hintergrund der Philosophie und des Menschenbildes bekommt der Ansatz seine besondere Berechtigung. MI ist eben kein Verfahren zur „geschickten Manipulation” von Betroffenen, sondern fördert im Gegenteil die Freiheit der Entscheidung.

Wie man mittlerweile in einer Reihe von Effektivitäts- und Wirksamkeitsstudien nachgewiesen hat, können mittels MI sehr erfolgreich Menschen mit Alkohol- und anderen Suchtmittelproblemen erreicht und zu Verhaltensänderungen bewegt werden. Dazu kommt eine Vielzahl von weiteren Studien, die zeigen, dass man MI zur Gesundheitsförderung allgemein als auch ganz gezielt zur Stärkung bestimmter gesundheitsförderlicher Verhaltensweisen einsetzen kann (z. B. bei der Reduzierung von Gewichtsproblemen oder zur AIDS-Prophylaxe). Das Besondere an MI ist, dass es auch gut kompatibel ist mit bewährten medizinischen, pharmakotherapeutischen, psychotherapeutischen, sozialarbeiterischen und sozialtherapeutischen Unterstützungsmöglichkeiten und dass es in verschiedenen Settings eingesetzt werden kann. Motivational Interviewing kann sowohl in der Primärprävention, der Sekundärprävention, aber auch in der Rehabilitation und Nachsorge genutzt werden. Zusammenfassend ist es somit weniger eine spezifische Intervention (z. B. Kurzintervention) als vielmehr ein grundlegendes Betriebssystem zur Versorgung von Menschen mit gesundheitsbeeinträchtigenden Verhaltensweisen.

Vor diesem Hintergrund ist es angemessen, diesen Ansatz umfassender in diesem Schwerpunktheft vorzustellen. Zunächst war der Transfer von MI von den USA nach Europa und nach Deutschland eher schleppend. Einige wenige Forschergruppen haben schon in den 90er-Jahren mit MI experimentiert [6] [7], aber das Echo war insgesamt verhalten. Das hat sich in den letzten Jahren deutlich geändert. MI ist so gesehen in Deutschland angekommen, es hat seinen Platz in der Suchthilfe und darüber hinaus in der Gesundheitsförderung gefunden.

Clemens Veltrup und Joachim Körkel stellen die zentralen Grundlagen, die therapeutischen Grundhaltungen sowie die Strategien und Techniken des Motivational Interviewing vor, wie sie von Miller und Rollnick in der stark überarbeiteten zweiten Auflage ihres Buches „Motivational Interviewing” [5] präsentiert werden. Weiterhin geben sie grundlegende Hinweise für die Ausbildung in Motivational Interviewing.

Georg Kremer fasst in seinem Beitrag die Studienlage zu Kurzinterventionen mit MI bei alkoholbezogenen Störungen zusammen. Es ist erstaunlich, wie viele Effektivitäts- und Wirksamkeitsstudien mittlerweile zu Kurzinterventionen mit MI vorliegen und wie effektiv diese vor allem bei Menschen mit leichten bis mittelschweren alkoholbezogenen Störungen sind. Motivationale Kurzinterventionen eignen sich besonders für die ärztliche Praxis für Menschen mit Suchtmittelproblemen. Ein wichtiges Anwendungsfeld ergibt sich in der frühen Sekundärprävention von jungen Menschen, die erste Drogenerfahrungen machen, mit diesen Substanzen experimentieren und Gefahr laufen, einen chronischen Gebrauch zu entwickeln. Fort- und Weiterbidlungscurricula in MI sind entwickelt worden, die die suchtmedizinische und suchtpsychologische Grundversorgung verbessern sollen.

Irmgard Vogt, Martin Schmid und Martina Schu geben einen Überblick über die Studien, in denen MI in der Arbeit mit Drogenabhängigen eingesetzt worden ist, und diskutieren die Reichweite der Methode und ihre Effektivität. Bewährt hat sich MI dann, wenn es zur Förderung der Behandlungs- und Veränderungsmotivation von Personen, die illegale psychoaktive Substanzen konsumieren oder von diesen abhängig sind, jedoch noch über ein gewisses soziales Netz verfügen, eingesetzt wird und wenn daran eine weitergehende Behandlung mit kognitiver Verhaltenstherapie oder anderen Verfahren anschließt. Nur sehr wenige Studien haben MI als „Stand-alone”-Verfahren getestet, aber auch in diesen Fällen sind die Ergebnisse gut. In Deutschland wird MI im Rahmen des bundesdeutschen Modellprojekts zur heroingestützten Behandlung von Opiatabhängigen in Kombination mit Case Management auf seine Wirksamkeit hin untersucht, in diesem Fall mit einer Klientel mit chronisch drogenabhängigen Personen. Bislang sind die Erfahrungen aus der Praxis insgesamt positiv; es spricht also vieles dafür, dass MI auch diese Bewährungsprobe erfolgreich bestehen wird.

Jürgen Hoyer untersucht in seinem Beitrag den Stand der Forschung zum Konzept der „Stadien der Veränderung” [2]. Dabei zeigen sich erhebliche theoretische und empirische Probleme. Bislang konnte die Existenz von fünf distinkten Stadien empirisch nicht nachgewiesen werden, sondern - je nach Untersuchung und untersuchter Stichprobe - entweder mehr oder weniger „Stadien”. Er plädiert jedoch dafür, das Stadienmodell der Veränderung schon aus heuristischen Gründen beizubehalten, es jedoch weiter auszudifferenzieren. Alle Stadien sollten danach sowohl durch die für sie typischen Einstellungen und Verhaltensweisen, gegebenenfalls auch durch die bei den jeweiligen Klientinnen und Klienten vorliegenden Kompetenzen beschrieben werden. Im Hinblick auf den Rückfall, mit dem in der Arbeit mit einer süchtigen Klientel immer zu rechnen ist, sollte das Modell zudem um einige Stadien erweitert werden. Hoyer schlägt vor, zwischen Rückfallgefahr, Rückfall und Resignation zu unterscheiden.

Wie die hier versammelten Beiträge belegen, wird MI mittlerweile in vielen Praxisfeldern mit Erfolg angewendet. KlientInnen, PatientInnen, HelferInnen und ForscherInnen fühlen sich gleichermaßen von diesem Verfahren angesprochen und motiviert. Gleiches wünschen wir den LeserInnen dieser Ausgabe.

Literatur

  • 1 Miller W R. Why do people change addictive behavior? The 1996 H. David Archibald Lecture.  Addiction. 1998;  93 163-172
  • 2 Prochaska J O, DiClemente C C. Transtheoretical therapy: Toward a more integrative model of change.  Psychotherapy: Theory, Research and Practice. 1982;  19 276-288
  • 3 Rogers C R. Die nicht-direktive Beratung. München; Kindler 1972
  • 4 Miller W R, Rollnick S. Motivational interviewing. Preparing people to change addictive behavior New York; Guilford Press 1991
  • 5 Miller W R, Rollnick S. Motivational interviewing: Preparing people for change. 2. Auflage New York; Guilford Press 2002
  • 6 John U, Hapke U, Rumpf H J. et al .Prävalenz und Sekundärprävention von Alkoholmißbrauch und -abhängigkeit in der medizinischen Versorgung. Baden-Baden; Nomos 1996
  • 7 John U, Veltrup C, Driessen M. et al .Motivationsarbeit mit Abhängigen. Freiburg; Lambertus 2000

Irmgard Vogt

Fachhochschule Frankfurt am Main - University of Applied Sciences

Fachbereich 4, Institut für Suchtforschung (ISFF)

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60318 Frankfurt am Main

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