Der Klinikarzt 2003; 32(9): 299
DOI: 10.1055/s-2003-42382
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Jedes fünfte Krankenhausbett ist ein „Suchtbett”

Karl Mann1
  • 1Mannheim
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Publikationsdatum:
19. September 2003 (online)

Frau M. Caspers-Merk, die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, bringt mit diesem Statement die Behandlungsprävalenz von Alkoholpatienten in unseren Krankenhäusern auf den Punkt. Diese Aussage findet sich in den Berliner Eckpunkten zur Verbesserung der Therapie bei Alkoholpatienten, die hier auszugsweise abgedruckt sind:

Alkohol und Nikotin verursachen 25 % aller Behinderungen und Todesfälle. Früherkennung und Frühintervention sind neue niedrigschwellige Ansätze in der Frühphase einer Abhängigkeitsentwicklung. Sie erfordern eine Zusatzqualifikation bei Ärzten, Psychologen und Suchtberatern. Der „qualifizierte Entzug” ist eine medizinische Sofortintervention, die über somatische und psychologische Zugänge Veränderungsbereitschaft und Abstinenzmotivation induziert. Als Sofortintervention ist der qualifizierte Entzug eine Kassenleistung, dessen Art und Umfang ärztlich begründet ist. „Anticraving-Medikamente” verdoppeln die Abstinenzrate und erhöhen die Haltequote in der ambulanten Betreuung von Alkoholabhängigen.

Alle zehn Eckpunkte sind dem Buch „Neue Therapieansätze bei Alkoholproblemen” (Mann K, Lengerich: Pabst Verlag 2002) zu entnehmen oder können beim Verlag des klinikarzt angefordert werden.

Tatsächlich sind zwischen 10 und 30 % der Betten in chirurgischen, internistischen oder auch HNO-Abteilungen von Patienten mit behandlungsbedürftigen Alkoholproblemen belegt, wie epidemiologische Studien dokumentieren.

Es gibt wohl keine so große Gruppe von Patienten, für die wir als Klinikärzte so wenig ausgebildet sind und für die wir uns so inkompetent fühlen. Damit tragen wir ungewollt dazu bei, dass zwischen dem Beginn einer Abhängigkeit und der ersten Entwöhnungsbehandlung im Schnitt zehn Jahre vergehen. Die Situation auf vielen Stationen lässt sich mit der Aussage einer Krankenschwester am besten beschreiben: „Bei Ärzten und Pflegepersonal herrschen die Vorurteile, dass Suchtpatienten vorsätzlich und völlig freiwillig ihr Leben zerstören und es somit eigentlich nicht mehr verdient haben, im Krankenhaus versorgt zu werden. Schließlich müssten sie ,ja nur aufhören', ihre Suchtmittel einzunehmen.”

Dabei hat die neuere Forschung überzeugende Belege geliefert, wonach die Minderung der Kontrolle über Beginn, Höhe und Beendigung des Alkoholkonsums wesentlich für das Syndrom der Abhängigkeit sind. Sie können damit in der Therapie nicht vorausgesetzt werden, sondern müssen zum Gegenstand der Behandlung werden. Mit anderen Worten: „Sucht hat wenig mit Willen und nichts mit Charakter zu tun” (Mann K. Dtsch Ärzteblatt 2002; 10: 632-644).

Die vorliegende Ausgabe des klinikarzt widmet sich dem skizzierten Defizit. In den letzten Jahren wurden eine Reihe neuer Ansätze sowohl für Früherkennung und Frühintervention als auch für eine optimierte Gesprächsführung sowie eine völlig neuartige pharmakotherapeutische Behandlung von Alkoholabhängigen entwickelt. So gibt es beispielsweise neue Daten, wonach die Weiterentwicklung der traditionellen körperlichen Entgiftung zur so genannten qualifizierten Entzugsbehandlung deutlich mehr Patienten schon primär zu einer längerfristigen Abstinenz verhilft und einer zusätzlichen größeren Anzahl von Patienten den Weg in die weiterführenden Entwöhnungsbehandlungen in spezialisierten Fachkliniken ebnet.

Den potenziell größten Fortschritt im Sinne der Erreichbarkeit großer Gruppen von Patienten dürfen wir von der Einführung neuer so genannter Anticraving-Substanzen erwarten (Smolka et al. MMW. Im Druck). International wurden die Substanzen Acamprosat und Naltrexon in einer Vielzahl doppelblinder, randomisierter und plazebokontrollierter Studien geprüft. Für Acamprosat liegen inzwischen 20 kontrollierte Studien vor, von denen 16 eine Überlegenheit über Plazebo belegen. Demnach verdoppelt eine Behandlung mit Acamprosat im Vergleich zu Plazebo die Chance zur Abstinenz. Dies ist auch für den Klinikarzt von Bedeutung, will er die körperliche Entgiftung seiner Patienten nach der Entlassung in eine stabilere Abstinenzphase überführen.

Jedoch sollten regelmäßige Kontakte mit Suchtberatungsstellen und Selbsthilfegruppen diese Maßnahmen grundsätzlich flankieren. Eine zunehmend größere Zahl niedergelassener Kollegen hat in den letzten Jahren die Zusatzqualifikation „suchtmedizinische Grundversorgung” erworben und steht somit als kompetenter Partner für die ambulante Weiterbetreuung zur Verfügung.

Prof. Dr. Karl Mann(Gasteditor)

Mannheim