Dtsch Med Wochenschr 2003; 128(41): 2117
DOI: 10.1055/s-2003-42861
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Evidenz und Fortschritt in der Kardiologie

Evidence and advances in cardiologyH. A. Katus1 , J. Kreuzer1 , W. Schoels1
  • 1Abteilung Innere Medizin III (Direktor: Prof. Dr. H. A. Katus), Universitätklinikum Heidelberg
Further Information

Publication History

Publication Date:
09 October 2003 (online)

Vom 16.10.-18.10.03 findet in Münster die 27. Herbsttagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie statt. Für den Kongress wurde das Leitthema „Innovation und medizinische Standards in der Kardiologie” gewählt, da gerade die Fragen aufgegriffen werden sollen, die für eine moderne kardiovaskuläre Medizin in der täglichen Praxis von Bedeutung sind.

Regelmäßig werden Patienten mit Aortenaneurysmen mittels Endograft behandelt. Kann hier von einer optimalen Therapie gesprochen werden, obwohl große prospektive Langzeitstudien noch nicht vorliegen? Reicht es, Patienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko unabhängig vom Cholesterin einfach ein Statin zu geben, oder muss das LDL so niedrig wie möglich sein? Welche Bedeutung hat die Pulmonalvenenisolation bei Vorhofflimmern? Wird hier mit „Kanonen auf Spatzen geschossen” oder sehen wir uns einem Meilenstein in der interventionellen Rhythmustherapie gegenüber? Die Liste an Beispielen ließe sich noch beliebig fortsetzen, aber das Problem ist bereits offensichtlich. Für etliche der Maßnahmen, die wir teilweise mit großem Engagement verfolgen, liegen wenig evidenzbasierte Daten vor.

Aber was ist denn eigentlich Evidenz? Sackett spricht von interner und externer Evidenz [1]. Zur ersten Kategorie könnte man z. B. alles rechnen, was pathosphysiologisch sinnvoll erscheint. Im Zusammenhang mit dem Einsatz von Statinen würde dies z.B. bedeuten, dass wir vor allem an die pleiotropen Effekte der Statine glauben. Im Gegensatz dazu bezeichnet die externe Evidenz das, was durch prospektive Studien belegbar ist. Wenn wir wieder das Beispiel der Statine bemühen, bedeutet dies, dass wir in Zukunft nie wieder einen Gedanken an pleiotrope Effekte verschwenden, sondern uns ausschließlich mit der LDL-Senkung befassen. Betrachtet man darüber hinaus die strengen Selektionskriterien der großen randomisierten Studien, so gibt es eine echte Evidenz nur für wenige Patientenkategorien. Daher kann eine ausschließlich evidenzbasierte Medizin nicht Grundlage allen ärztlichen Handelns sein. Dennoch ist es unumgänglich, trotz der Flut an Neuerungen, die es gerade in der Kardiologie gibt, einen Überblick darüber zu behalten, ob eine Innovation wesentlich ist, oder ob bewährte Therapien gegebenenfalls durchaus ebenbürtig sind.

Ist eine Ventrikelreduktionsplastik im Langzeitverlauf der reinen medikamentösen Therapie überlegen? Sollten Statine bei niedrigem HDL mit Nicotinsäure kombiniert werden? Müssen alle Patienten nach Infarkt in Rehabilitationskliniken oder sind diese entbehrlich? Auf die meisten dieser und ähnlicher Fragen werden wir wahrscheinlich nie eine Antwort erhalten. Denn gerade hier liegt ein Problem der evidenzbasierten Medizin. Sie wird derzeit fast ausschließlich durch die pharmazeutische Industrie vorangetrieben. Verfahren und Therapien, bei denen keine kommerziellen Interessen im Spiel sind, werden mangels Ressourcen kaum je in großen Studien auf ihre Wirksamkeit überprüft. Niemand sollte hier der Industrie einen Vorwurf machen. Schlussendlich handelt es sich um profitorientierte Unternehmen und nicht um Wohlfahrtsorgansisationen. Es sollte nicht vergessen werden, dass die pharmazeutische Industrie bereits jetzt wesentlich zur Verbreitung von medizinischer Evidenz, etwa durch Unterstützung von Fortbildungsveranstaltungen, beiträgt. Es bleibt abzuwarten, welche Konsequenz die jüngst beschlossene zusätzliche Besteuerung der Pharmaunternehmen in Deutschland in diesem Kontext haben wird.

Der Kongress in Münster wird die vielschichtigen Probleme der evidenzbasierten Medizin nicht alle lösen können - Auswege aus dem oben geschilderten Dilemma werden wir noch lange suchen. Was die Herbsttagung aber leisten möchte, ist die Thematisierung kontroverser Bereiche der Kardiologie. Durch die Vielzahl der Beiträge mit gewollt provokativen Titeln soll eine rege Diskussion zu den unterschiedlichen Konzepten bei Therapie und Diagnostik zustande kommen. So wird am Ende, auch wenn unser Handeln eben nicht immer evidenzbasiert sein kann, zumindest die Sicherheit stehen, nach bestem Wissen und Gewissen vorzugehen.

Wir freuen uns, Sie in Münster begrüßen zu dürfen.

Literatur

  • 1 Sackett D L, Rosenberg W M, Gray J A, Haynes R B, Richardson W S. Evidence based medicine: what it is and what it isn’t.  BMJ. 1996;  312 71-72

Prof. Dr. H. A. Katus

Abteilung Innere Medizin III, Schwerpunkt Kardiologie, Angiologie, Pulmologie

Bergheimerstr. 58

69115 Heidelberg