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DOI: 10.1055/s-2003-42987
Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG
Interview mit Dr. med. Georg von Keller
Erinnerungen an Dr. med. Georg von KellerPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
20. Oktober 2003 (online)
Anlässlich seines 80. Geburtstages am 30. 04. 1999 führten wir ein Interview, das hier in Auszügen wiedergegeben wird. Es handelt sich um eine bearbeitete Fassung, die nicht ausdrücklich von Herrn Dr. von Keller autorisiert wurde. Die Fragen stellten Andreas Grimm und Andreas Wegener.
Wie sind sie zur Homöopathie gekommen und wie war Ihr Werdegang?
Schon kurz vor dem Examen habe ich von Homöopathie gehört. Ich weiß den Namen nicht mehr, wer mir schon damals - ich habe 1943 Examen gemacht - gesagt hat, dass es Homöopathie überhaupt gibt und mir geraten hat - damals gab es keine Bücher - dass ich den Nash kaufen soll. Das habe ich auch getan, gelesen und bin dann „voll eingestiegen”. Wir waren damals schon, auch die Nicht-Homöopathen - mit der Therapie absolut unzufrieden. Wir hatten eine Karikatur, auf der die Therapie als ganz kleine mickrige Pflanze dargestellt wurde und die Diagnostik als blühende. Dann kaufte ich mir die damals zugänglichen Werke, auf Anregung von einem damaligen Homöopathen, es kann Schmeer gewesen sein, aber das weiß ich nicht genau.
Das waren der Nash „Leitsymptome” und der Royal, das ist eine kleine Arzneimittellehre, und der Trinks. Der Trinks besteht aus zwei Bänden: Arzneimittellehre und einem Repertorium. Der war gar nicht einmal so schlecht. Und die habe ich dann später studiert. Danach musste ich zunächst schulmedizinisch arbeiten, aber sehr bald machte ich eine U-Boot-Feindfahrt mit. Dadurch hatte ich viel Zeit, mich mit diesen Dingen zu beschäftigen, und hatte, kombiniert aus den Symptomen dieser drei Werke, mir selber eine Arzneimittellehre und ein Repertorium zusammengestellt. Das Organon habe ich natürlich auch gelesen. Ich studierte alles, das ist selbstverständlich. Diese drei Bücher habe ich intensiv bearbeitet. Mir wurde klar, dass man sich das nicht alles ohne Zusammenhang merken kann, so dass man selbst eine Einteilung vornehmen und sehen muss, dass man daraus quasi eine eigene Arzneimittellehre und auch ein eigenes Repertorium erstellt.
Wann war das Studium so weit fortgeschritten, dass Sie anfangen konnten, Patienten zu behandeln?
Man kann ja Homöopathie nur studieren, wenn man Patienten behandelt oder wenn man sie zumindestens beobachtet. Sie fangen meist damit an, bei ihren Verwandten entsprechende Patienten auszusuchen, bei denen sie ein Mittel erkennen können. Also den Calcium-carbonicum-Patienten, den kann man in jeder Familie beobachten, nicht? Und demjenigen Calcium carbonicum geben und auch feststellen, dass das schon wirkt. Wenn man den Nash liest, juckt es einem geradezu in den Finger, gleich irgendwelche Patienten, die man kennt, zu behandeln. Ist es Ihnen nicht auch so gegangen?
Doch, auch so.
Also. Natürlich hatte ich keine Kontakte zu anderen Homöopathen, weil es ja keine gab. Homöopathie kann man sich nur selber beibringen. Irgendwelche Lehrer können einen nicht zum Homöopathen machen. Mein Werdegang war also folgender: nach dem Examen wurde ich zuerst als Chefarzt usw. von Marinelazaretten eingesetzt, weil es keine Leute gab, denn sie waren alle an der Front. Danach habe ich eine U-Boot-Feindfahrt unternommen und dabei viel Zeit gehabt, mich mit der Homöopathie zu beschäftigen, auch theoretisch. Ich kam 1949 zurück und geriet in England nochmals in Gefangenschaft. Zwar wurde ich nicht richtig „eingesperrt”, ich kam aber dorthin und hatte auch viel Zeit zu arbeiten, die Mitgefangenen und auch Engländer homöopathisch zu behandeln. Mir wurde unter anderem in Plymouth angeboten, dort zu bleiben, weil sie keinen Homöopathen hatten. Darauf habe ich aber verzichtet. Als ich wieder nach Hause kam, gab es überhaupt keine Möglichkeit, ärztlich zu arbeiten, weil alles voller Spätheimkehrer usw. war, die allen anderen vorgezogen wurden. Deswegen habe ich schnell zugegriffen, als uns angeboten wurde, nach Persien zu gehen, damals noch unter Schah Reza Pahlevi, um dort die Landbevölkerung zu behandeln. Das habe ich also vier Jahre lang getan. Ich habe dorthin schon homöopathische Medikamente mitgenommen und die Perser behandelt wie damals zu Hahnemanns Zeiten die Deutschen behandelt wurden. In Persien habe ich Krankheiten behandelt, wie man sie heute in ganz Europa nicht mehr sieht. Dort hat jeder die Pocken gehabt, das war eine normale Kinderkrankheit und auch gar nicht schlimm. Sie wissen, dass fast alle Perser pockennarbig sind. Ganze Dörfer sind an Typhus ausgestorben, weil sie keine Behandlungsmöglichkeiten hatten, auch geburtshilflich war es sehr schlecht. Ich habe mich schon „rumschlagen” müssen mit den rein medizinischen Verhältnissen dort. Das war aber sehr lehrreich für mich, weil ich jetzt nachvollziehen kann, wie Hahnemann damals gearbeitet hat. Ich hatte drei Gebirgstäler zu versorgen. Und wenn ich einen Krankenbesuch machen sollte, musste der zu Besuchende mir ein Reittier liefern, also entweder einen Maulesel, was in den Bergen gar nicht so schlecht war, oder ein Pferd.
Als ich von dort zurückkam, waren die Verhältnisse, sich niederzulassen, nicht viel besser. Nachdem ich die Fachausbildung in der Inneren beendet hatte, habe ich mich laufend beworben und zwar 63 Mal mit allem, was dazu gehört, also Widerspruch und Beschwerdeausschuss usw., ohne Erfolg. 1959 bekam ich dann endlich eine Stelle. Das wurde ein bisschen „manipuliert”, weil ich der KV allmählich lästig fiel mit den dauernden Bewerbungen. Seit 1959 bin ich hier in meiner, immer noch derselben, Praxis tätig. Ich habe nur Kassenpraxis ausgeübt, bis mir dies verboten wurde. Das war eine Folge der damals von Seehofer durchgeführten Gesundheitsreform. Ich bin jetzt nur noch privatärztlich tätig.
Wie lässt sich die Homöopathie in der Kassenpraxis integrieren?
Tadellos! Das Schwierige ist immer das mit den Abrechnungsziffern. Wenn Sie viele Patienten im Wartezimmer haben und Kassenpraxis ausüben, können Sie trotzdem homöopathisch behandeln, sobald Ihnen irgend etwas einfällt zu den Patienten. Sie haben meistens schon Vorkenntnisse durch Ihren Lehrer oder irgend jemanden. Sie hören von Patienten etwas, was sich wahrscheinlich leicht repertorisieren lässt. Warum wollen Sie das nicht in der Kassenpraxis machen? Homöopathie ist Symptomatik, nichts anderes, nur auf die Symptome kommt es an. Was Sie als Symptome kennen, das wiederum liegt an Ihnen. Was Sie für theoretische Vorstellungen haben, darauf kommt es wirklich nicht an, also nur auf die Symptome des Patienten.
Wie kamen Sie dazu, die alten Homöopathie-Zeitschriften auszuwerten?
Ich bin nach Amerika gegangen, um mir die Quellen und die Originalquellen zusammenzustellen und zu kopieren, so habe ich jetzt für meine Artikel die Möglichkeit, jedes Mal die genaue Quelle anzugeben. Ich habe die alten Quellen auch deshalb gebraucht, weil damals die Artikel hauptsächlich Kampfschriften waren gegen die „Spinner” in der Homöopathie, die unter Homöopathie ganz was anderes verstanden, als Hahnemann das verstanden hat.
Wer waren die größten „Spinner” in der Homöopathie?
Das waren meiner Ansicht nach diejenigen, die der Meinung waren, dass die Schulmedizin uns akzeptieren würde, wenn wir uns „schmackhaft” machen würden, wenn wir alle Regeln befolgen würden, die sie befolgen, z.B. dass wir ja nicht homöopathisch behandeln, wenn es sich um tödliche Krankheiten handelt usw.
Welche Überlegung brachte Sie zur Arbeit an den 14 Monographien?
Ich stellte immer wieder fest, dass ich mir nicht merken konnte, was in einem Mittel alles drin ist. Dann habe ich das mal schriftlich festgelegt.
Wie kam es zur Übersetzung des Kentschen Repertoriums?
Dazu hat mich der alte Haug überredet. Nach ein bisschen Widerstand und Zwischenwiderstand, weil mir dann einige andere Koryphäen Knüppel zwischen die Beine geworfen haben, ich will jetzt keinen Namen nennen, oder soll ich sagen, Pierre Schmidt?
Der hat es nicht gewollt?
Der hat mich gängeln wollen, der hat sagen wollen, was ich bringen darf, was nicht und wie ich das machen muss.
Das ist interessant und neu. Was hat er dann abgelehnt?
Bei der Übersetzung habe ich den ganzen Kent anders anordnen wollen, um ihn übersichtlicher zu machen. Das aber hat Pierre Schmidt verhindert, indem er zu Haug sagte, dass es so nicht ginge und dass ich den Kent genau wörtlich übersetzen müsse. Deswegen entstand der große Unterschied zwischen dem ersten Band und den beiden letzten Bänden in der Kent-Übersetzung. Bei der Übersetzung kam es dadurch zur Teilnahme von Künzli, dass ich noch keinen Namen hatte und der Haug Verlag meinte, es müsste ein bekannter Name dazu. In Wirklichkeit wurde die Übersetzung zum größten Teil von mir vorgenommen.
Warum arbeiten Sie ausschließlich mit Q-Potenzen?
Das ist ganz einfach: Weil die Q-Potenzen die am bequemsten anwendbaren Potenzen sind. Sie können nämlich täglich gegeben werden, während Sie die C-Potenzen nur alle drei Wochen geben dürfen. Es ist vielleicht nicht allgemein bekannt. Aber es ist so. Ich habe mich damals mit meinem Apotheker Zinsser hier zusammengesetzt. Wir haben die Herstellungsvorschrift nach der Originalvorschrift des ORG VI ausgearbeitet.
Warum fangen Sie immer mit der Q6 an?
Die Q1 ist mir gefühlsmäßig nicht so sehr „q-mäßig”. Sie ist mir einfach zu tief. Q6 ist viel besser geeignet, um damit anzufangen und von da aus weiterzumachen. Also noch einmal: Q-Potenzen sind deswegen günstiger, weil Sie sie täglich einnehmen lassen, während C-Potenzen nur einmal innerhalb von drei Wochen gegeben werden sollen.
Kann man mit Homöopathie „unterdrücken” oder schaden?
Mit Homöopathie können Sie grundsätzlich nichts unterdrücken oder schaden. Ein falsches Mittel, ein Mittel, was nicht angezeigt ist, kann überhaupt nicht wirken. Man kann keine falsche Homöopathie machen. Wenn ein Mittel keine Beziehung zu den Symptomen hat, dann hat es überhaupt keine Wirkung bei dem betreffenden Patienten. Es kann nur anhand der Übereinstimmung der Symptome wirken.
Auf welche Symptome kommt es bei der Mittelwahl an?
Auf alle Symptome! Auf alle Symptome, die Sie bekommen können. Sie kriegen ja nicht bei jedem Patienten eine Unzahl von Symptomen, sondern Sie haben eigentlich immer nur zwei oder drei, die wirklich ausschlaggebend sind für die Mittelwahl.
Wie oft benötigt der Patient nach Ihrer Erfahrung nur ein einziges Mittel zur Heilung?
Sie können ja keinen Patienten heilen. Eine Heilung bedeutet ja, dass er überhaupt nicht mehr krank wird. Oder was verstehen Sie unter Heilung?
Ich heile natürlich einen Patienten von seinen Beschwerden, die er im Augenblick hat. Vielleicht innerhalb von drei Monaten, vielleicht dauert es sogar zwei Jahre, bis er wieder zu mir kommt mit anderen Beschwerden. Dann braucht er auch ein anderes Mittel.
Gelingt Ihnen oft die Heilung einer schweren chronischen Krankheit mit einem einzigen Mittel?
Natürlich, die gegenwärtige chronische Krankheit, die verschwindet, der Patient wird beschwerdefrei, das heißt aber nicht, dass er für alle Ewigkeit geheilt ist.
Womit beschäftigen Sie sich zur Zeit in der Homöopathie?
Wir haben ein paar Jahre lang Verifikationen herausgegeben. Symptome, die durch Heilungen oder durch positive Behandlung verifiziert wurden. Das mache ich ein bisschen weiter. Ich suche jetzt auch aus der Literatur solche Fälle heraus, die geheilt wurden und stelle diese alphabetisch zusammen, so dass ich jederzeit nachsehen kann, um welche Fälle es sich bei dem jeweiligen Mittel gehandelt hat. Dabei ergeben sich meistens auch noch Hinweise auf einen gegenwärtigen Fall. Verifikationen sind deswegen wichtig, weil man damit nachweisen kann, aufgrund welcher Symptome das Mittel verordnet wurde und was das Mittel beim Patienten bewirkt hat. Es ist natürlich sehr gut, wenn man das noch etwas erweitert und auch Fälle aus der Literatur dazu einarbeitet. Damit beschäftige ich mich zur Zeit.
Welche Rolle spielen die Gemütssymptome?
Genau so eine Rolle wie alle anderen Symptome. Wenn Sie Gemütssymptome bekommen, verwerten Sie diese und suchen dadurch das Mittel aus. Sie haben aber keine besondere Rolle.
Welche Rolle spielen die Miasmen in Ihrer Praxis?
Die sogenannten Miasmen sind für mich nicht wichtig. Das sind alles nur erdachte Formulierungen und keine wirklichen wahlanzeigenden Symptome.
Auf welche Symptome kommt es bei der Mittelwahl an? Gibt es Symptome, die Sie bei der Wahl eines Mittels unbedingt beim Patienten erwarten? Gibt es Kontraindikationen in der Homöopathie?
Nein, es gibt keine Kontraindikationen. Auch Pulsatilla kann Durst haben und heftig sein. Für mich ist Homöopathie reine Praxis. Bei der Homöopathie handelt es sich immer nur um die persönlichen Arzneimittelkenntnisse. Sie können nicht etwas zusammenstellen, was dann allgemeine Gültigkeit hat. Das gibt es gar nicht. Nur das, was Sie wissen, was Sie mal gehört haben, kommt überhaupt in Frage und nur das können Sie überhaupt beim Patienten wahrnehmen.
Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.