Laryngorhinootologie 2003; 82(11): 769-771
DOI: 10.1055/s-2003-44539
Hauptvortrag
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Facharztstandard unter veränderten personellen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Hauptvortrag 4

74. Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie. Dresden 2003Specialist Standard Under Altered Personal and Economic CircumstancesA.  Wienke
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Publication Date:
21 November 2003 (online)

Im Gesundheitswesen hat sich mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass die personellen und sachlichen Ressourcen nicht beliebig verfügbar sind und nicht alles, was medizinisch machbar ist, auch finanzierbar ist. Die Gründe für die zunehmende Verknappung der Ressourcen sind vielfältiger Natur, einer der wichtigsten ist allerdings unbestrittenermaßen die Leistungsdynamik des medizinischen Fortschritts selbst. Diese Entwicklung stellt die öffentliche Hand vor erhebliche Finanzierungsprobleme. Damit hat sie auch Auswirkungen auf die Qualität der medizinischen Versorgung, denn diese hängt gleichsam von den zur Verfügung stehenden finanziellen, personellen und sachlichen Möglichkeiten ab.

Bei der Haftung von Arzt und Krankenhausträger spielten wirtschaftliche Überlegungen in der Rechtsprechung bisher keine maßgebliche Rolle. Dies hängt in erster Linie damit zusammen, dass der vom Bundesgerichtshof im Rahmen seiner Rechtsprechung entwickelte so genannte „Facharztstandard” von finanziellen, personellen und strukturellen Rahmenbedingungen weitest gehend unbeeinflusst bleibt. Der Arzt schuldet die zur Zeit der Behandlung berufsfachlich gebotene Sorgfalt. Der Maßstab für diese erforderliche Sorgfalt richtet sich nach objektiv-typisierenden, nicht nach subjektiv-individuellen Merkmalen. Maßgebend sind die im jeweiligen Facharztgebiet vorausgesetzten Fähigkeiten, die dort zu erwartenden Kenntnisse und Fertigkeiten, während die dahinter zurückbleibenden persönlichen Möglichkeiten des einzelnen Berufsangehörigen außer Betracht bleiben. Gerade im Krankenhaus hat der Patient Anspruch auf eine ärztliche Behandlung, die dem Standard eines erfahrenen Facharztes entspricht.

Die Rechtsprechung hat aber bereits bei der Bewertung des jeweils im Einzelfall maßgeblichen Facharztstandards Differenzierungen vorgenommen. So schuldet der Arzt für Allgemeinmedizin ein geringeres Maß an Sorgfalt und Können als der Facharzt eines medizinischen Spezialgebietes. Auch von einem Kreiskrankenhaus sind nicht dieselben Anforderungen zu erwarten wie von einer Universitätsklinik. Insoweit sind medizinisch wie rechtlich situationsorientiert unterschiedliche Standards hinzunehmen.

Auch und gerade in Sondersituationen fordert die Rechtsprechung stets die Beibehaltung des zu erwartenden Standards. So gilt der Facharztstandard grundsätzlich „rund um die Uhr”. In Universitätsklinika als klinische Einrichtungen der Maximalversorgung wird zudem in der Regel der ärztliche Bereitschaftsdienst unter Wahrung des Facharztstandards in Fachgebieten der operativen Medizin nur durch die Anwesenheit von Fachärzten vor Ort in der Klinik auszuführen sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn eingedenk der aktuellen stationären Behandlungsfälle damit zu rechnen ist, dass während des ärztlichen Bereitschaftsdienstes Situationen auftreten können, die durch einen so hohen medizinischen Komplikations- und Schwierigkeitsgrad gekennzeichnet sind, dass sie durch die Anwesenheit des noch nicht abschließend ausgebildeten Arztes nicht beherrscht werden. In allen übrigen Fällen ist die Anwesenheit eines Assistenzarztes mit einem im Hintergrunddienst tätigen und erreichbaren Oberarzt ausreichend.

Die Diskussion um die fachärztlichen Standards hat maßgeblich durch die Ärzteschaft selbst in den vergangenen 10 Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen-Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) hat seit ca. 10 Jahren die einzelnen medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften zur Erstellung von Leitlinien angehalten. Hierdurch ist es zu einer wahren Flut von Leitlinien in Deutschland gekommen, die teilweise keinen besonderen Qualitätsanforderungen unterliegen und zudem auch widersprüchliche Inhalte aufweisen. In einem bemerkenswerten Urteil vom 19. 12. 2001 hat denn auch das Oberlandesgericht Naumburg hervorgehoben, dass diese ärztlichen Leitlinien der AWMF unbeschadet ihrer wissenschaftlichen Fundierung lediglich Informationscharakter für Ärzte selbst haben. Mangels einer ausreichenden Legitimität und wegen unterschiedlicher Qualität und Aktualität haben die Leitlinien der AWMF nicht die Bedeutung verbindlicher Handlungsanleitungen für Ärzte. Deshalb können solche Leitlinien individuelle Sachverständigengutachten im Prozess nicht ersetzen. Ungeachtet dessen ist jedoch vermehrt die Bezugnahme von Patienten auf solche Leitlinien im Prozess festzustellen. So verwundert es auch nicht, dass das Oberlandesgericht Stuttgart in einer Entscheidung vom 22. 2. 2001 hervorgehoben hat, dass das Nichtbeachten von Leitlinien regelmäßig als Standardunterschreitung und damit als Behandlungsfehler zu werten sei, wenn nicht der jeweilige Arzt im Einzelfall das Abweichen bzw. Nichtbeachten der maßgeblichen Leitlinie nachvollziehbar darlege und begründe.

Auch der Gesetzgeber hat sich in die Leitliniendiskussion eingeschaltet und bereits im Rahmen seiner Gesundheitsgesetzgebung zum 1. 1. 2000 in § 137 e SGB V einen so genannten „Koordinierungsausschuss” geschaffen. Dieser soll auf der Grundlage Evidenz basierter Leitlinien die Kriterien für eine im Hinblick auf das diagnostische und therapeutische Ziel ausgerichtete zweckmäßige und wirtschaftliche Leistungserbringung für mindestens 10 Krankheiten je Jahr beschließen. Auch im Entwurf des Gesundheitssystemmodernisierungsgesetzes (GMG-E) ist in § 139 a SGB V die Errichtung eines „Deutschen Zentrums für Qualität in der Medizin” vorgesehen. Dieses Zentrum soll insbesondere Evidenz basierte Leitlinien und pflegerische Standards für ausgewählte Krankheiten erstellen.

Die allerorten festzustellenden Ökonomisierungsaspekte, die zu Rationalisierung, Rationierung und Priorisierung, also der Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter Indikationen, Patientengruppen oder Verfahren vor anderen, führen, haben unweigerlich in der täglichen Praxis Einfluss auf ärztliche Entscheidungsprozesse. Der Kostendruck von Kostenträgern und institutionellen Leistungserbringern (Krankenhausträgern) wird besonders deutlich beim ambulanten Operieren, bei Liegezeiten, bei bestimmten Therapiekonzepten und bei der prä- und poststationären Versorgung. Die ärztliche Therapie- und Methodenwahlfreiheit ist ernsthaft in Gefahr.

Es verwundert daher nicht, dass auch bei Juristen laut über eine entsprechende Anpassung der jeweiligen Haftungsparameter nachgedacht wird. Die Rechtsprechung ist in diesem Zusammenhang bislang allerdings sehr zurückhaltend gewesen.

So hat der Bundesgerichtshof (BGH) im Jahre 1954 darauf hingewiesen, dass Kostenaspekte grundsätzlich unerheblich sind, wenn der finanzielle Aufwand „nicht außer allem Verhältnis” zur drohenden Gefahr steht und diese nicht nur ganz abstrakt ist. In einer Entscheidung aus dem Jahre 1985 hebt der BGH hervor, dass der Krankenhausträger verpflichtet sei, den zu fordernden anästhesiologischen Standard auch bei ärztlicher Unterversorgung der Anästhesie durch klare Anweisungen zu gewährleisten. Die bei Personalmangel notwendigen Parallelnarkosen stellten bei Eintritt einer Beatmungsblockade mit nachfolgendem Hirnschaden ein Organisationsverschulden dar. Nach einem Urteil des BGH aus dem Jahre 1987 muss der Chefarzt Maßnahmen des Assistenzarztes auch darauf überprüfen, ob seine Maßnahmen den medizinischen Fertigkeiten und Kenntnissen eines erfahrenen Facharztes entsprechen. Dies habe unmittelbare Auswirkungen auf den Personalschlüssel in der stationären Versorgung.

Im Anschluss daran kommt der BGH in einer Entscheidung aus dem Jahre 1987 zu dem Ergebnis, dass aus Kostengründen nicht von den Kliniken sofort jede medizinisch-technische Neuerung, die den Behandlungsstandard verbessert, angeschafft werde müsse. Im Zweifel sei der Patient in diesen Fällen in geeignete und entsprechend eingerichtete Spezialeinrichtungen zu verlegen.

In einer Entscheidung aus dem Jahre 1993 betont der BGH, dass der Patient zwar nicht stets optimale Behandlungsbedingungen auf höchstem Stand apparativer Möglichkeiten und professioneller Erfahrungen erwarten dürfe, wohl aber eine unverzichtbare „Basisschwelle”, d. h. die medizinischen Qualitätsanforderungen der Gegenwart. In einer bemerkenswerten Entscheidung aus dem Jahre 1993 des Oberlandesgerichts Köln wird an dieser Rechtsprechung des BGH Kritik laut, wenn es heißt, dass bei der Beurteilung des Sorgfaltsmaßstabs im Einzelfall die allgemeinen Grenzen im System der Krankenversorgung nicht völlig vernachlässigt werden können, selbst wenn es sich um Grenzen der Finanzierbarkeit und der Wirtschaftlichkeit handele.

Aus dieser zivilrechtlichen Rechtsprechung lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen:

Es bestehen keine Haftungserleichterungen für verantwortliche Ärzte und Krankenhausträger bei einem Mangel an ausreichend ausgebildeten Fachärzten, beim Einsatz übermüdeten Personals, bei einer durch Haushaltsengpässe bedingten technischen Unterversorgung oder bei einem durch Budgetüberschreitungen bedingten Aufschub einer Operation. Auch das sozialrechtliche Wirtschaftlichkeitsgebot kann nicht für etwaige Haftungserleichterungen herangezogen werden. § 70 Abs. 1 SGB V stellt ausdrücklich auf den „allgemein anerkannten Stand der medizinischen Kenntnisse” ab. Nach § 28 Abs. 1 SGB V haben ärztliche und zahnärztliche Leistungen stets „nach den Regeln der ärztlichen Kunst” zu erfolgen. Auch die Einheit der Rechtsordnung fordert einen einheitlichen medizinischen Standard in Zivilrecht und Sozialrecht. Wäre dies nicht der Fall, könnten Privatpatienten einen höheren Leistungsstandard beanspruchen als GKV-versicherte Patienten.

Patentrezepte als Auswege aus dem beschriebenen Dilemma gibt es sicherlich nicht. Der medizinische Fortschritt begegnet einer vernünftigen Wirtschaftlichkeit und Finanzierbarkeit. Das medizinisch Machbare korreliert nicht mit dem ökonomisch und gesellschaftspolitisch Vertretbaren. Ein diagnostischer und therapeutischer Aufwand jenseits der Grenzen wirtschaftlicher Vernunft ist aber weder geboten noch gegenüber der Solidargemeinschaft zu rechtfertigen. Einerseits wird man daher wirtschaftlich gerechtfertigte Begrenzungen der Sorgfalts- und Behandlungsperfektion anerkennen können, andererseits muss man rechtlich bedingte Begrenzungen der Einsparmöglichkeiten und Kostendämpfungsmaßen berücksichtigen. Stets hat der Patient Anspruch auf die Wahrung essenzieller Grundvoraussetzungen für seine Sicherheit. Ökonomische Interessen dürfen niemals dazu führen, dass ärztliche Leistungen unterhalb des anerkannten Standards erbracht werden. Der Arzt, der mit seinem Tun und Lassen im Recht bleiben will, hat auch bei personellen Engpässen und wirtschaftlich beschränkten Ressourcen stets den Regeln seines Fachgebietes zu genügen. Das Maß bilden dabei die medizinischen Standards selbst.
Köln im Mai 2003

Dr. jur. Albrecht Wienke

Rechtsanwalt, Wienke & Becker - Köln

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