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DOI: 10.1055/s-2003-44541
Irrwege in der Onkologie
Irrungen, Irrwege und Wege in der Diagnostik und Therapie von Tumoren der oberen Luft- und Speisewege in Klinik und PraxisErroneous Pathways in Oncology (Mistakes, Errors and Pathways in Diagnostics and Treatment of Tumors of the Upper Airway and Esophagus in Clinic and Outpatient Locations)Publication History
Publication Date:
21 November 2003 (online)
Krebsfrüherkennung stellt für uns HNO-Ärzte in Praxis und Klinik eine permanente Herausforderung dar. Die Ursachen für eine verzögerte Tumordiagnose sind vielfältig. Bei nicht vollständiger und gründlicher Untersuchung ohne Einsatz von Endoskopie und Mikroskopie können kleine, versteckt lokalisierte Tumoren übersehen werden. Durch das Unterlassen einer Biopsie bei vom Aspekt her benigne imponierenden Läsionen kann die Tumordiagnose möglicherweise verzögert werden. Durch eine insuffiziente Biopsie - Knips- statt Inzisionsbiopsie - kann ein submuköser Tumor leicht unentdeckt bleiben. Besondere Aufmerksamkeit und intensive Diagnostik erfordern Patienten mit einem klinisch okkulten Primärtumor beim Leitsymptom metastasensuspekter Lymphknoten bzw. Metastase am Hals. Wenn bei der Erstuntersuchung klinisch kein Tumor nachweisbar ist, ist der Einsatz bildgebender Verfahren obligatorisch, gefolgt von einer Panendoskopie, in deren Rahmen die Lasertonsillektomie sowie Laserinzisionsbiopsien des Zungengrundes statt oberflächlich greifender Knipsbiopsien erfolgen sollten.
Bei Verdacht auf ein Krebsfrühstadium stellt die Exzisionsbiopsie die Methode der Wahl dar. Eine singuläre Knipsbiopsie kann falsch negativ sein. Die Exzisionsbiopsie bedeutet außerdem häufig Diagnostik und Therapie zugleich.
Zahlreiche Biopsien bei einer tumorverdächtigen Stimmbandveränderung sind abwegig und nachteilig für die Nachoperation. Reaktiv entzündlich granulierende Veränderungen lassen sich schwer von Tumor differenzieren, es muss zu viel gesundes Gewebe geopfert werden, mit Konsequenzen für die postoperative Stimmfunktion.
Bei der Klärung submukösen Tumorwachstums (Primärtumor, Zweittumor, Rezidiv) kann bei bildgebenden Verfahren die Differenzierung „Tumor, Entzündung, Narbe” schwierig sein. Hinzu kommt die relativ hohe „Falsch-negativ”- und „Falsch-positiv”-Rate in der Bildgebung bezüglich der Bestimmung der Tumorausdehnung, z. B. Schildknorpel- oder Halsweichteilinfiltration.
Bei der Suche nach Fernmetastasen ist die Szintigraphie nur noch selten indiziert. Eine Computertomographie der Lunge ist nur bei suspektem Röntgenthoraxbefund oder vor einer Radikaloperation zu vertreten. Eine Panendoskopie führen wir bei der Suche nach dem Zweittumor regelmäßig präoperativ durch, posttherapeutisch nur bei organbezogenen Symptomen. Die Positronenemissionstomographie „PET” als Verfahren zum Aufdecken von Rezidiven, Zweittumoren und Fernmetastasen gewinnt immer mehr an Bedeutung, allerdings steht das Gerät nicht überall zur Verfügung. Die Untersuchung ist aufwändig und teuer, die Methode muss weiter evaluiert, die Indikationen präzisiert werden.
Bei der Behandlung der Krebsfrühstadien ist ein eindeutiger Trend zur funktionserhaltenden lasermikrochirurgischen Exzision statt Radiotherapie oder konventioneller Operation, die häufig eine Überbehandlung darstellen, unverkennbar. Unter onkologischen, funktionellen, ökonomischen Aspekten stellt die transorale Lasermikrochirurgie die Methode der Wahl dar. Bei den größeren Tumoren (T2, T3) ist das Festhalten an dem über Jahrzehnte propagierten onkologischen Grundprinzip der Blockresektion mit Defektdeckung durch Lappenplastik, häufig kombiniert mit einer postoperativen Strahlentherapie, auch beim N0-Hals, nicht zu rechtfertigen. Im Vergleich zur transoralen laserchirurgischen Behandlung sind operativer Aufwand sowie Morbiditäts- und Komplikationsraten höher bei vergleichbaren loko-regionären Kontroll- und Überlebensraten. Hinzu kommt, dass noch zu häufig bei an sich unter Organerhalt resektablen Tumoren statt einer Teilresektion (offen, transoral oder kombiniert) die Laryngektomie oder Laryngo-Pharyngektomie durchgeführt wird. Ein Umdenken bezüglich der chirurgischen Therapiekonzepte hat längst eingesetzt. Ziel ist die Rücknahme der chirurgischen Radikalität ohne Verlust an onkologischer Radikalität, ermöglicht durch den transoralen Zugang, Mikrochirurgie, Laserschnitt durch den Tumor und die zeitlich versetzte funktionserhaltende Neck-dissection.
Es ist unverständlich, wenn angesichts der organerhaltenden laserchirurgischen Operationstechniken bei Schild-, Ring- und/oder Aryknorpelbefall sowie bei Periostbefall des Unterkiefers oder bei Halsinfiltration sowie bei Rezidiven nach Strahlentherapie (rT1 - rT3) eine Teilresektion unter Berufung auf die über Jahre postulierten Grenzen für konventionelle Teilresektionen unterlassen wird. Bei unter Organerhalt resektablen Tumoren stellt m. E. die neoadjuvante Therapie (Strahlentherapie, Chemotherapie oder kombiniert) einen Irrweg dar. Nach Vorbehandlung ist die gewebliche Differenzierung Tumor/nicht Tumor im Rahmen des kurativen Eingriffs erschwert. Die Forderung nach der Resektion in den alten Tumorgrenzen, sollte sie überhaupt eingehalten werden können, lässt den Vorteil der onkologischen Vorbehandlung fragwürdig erscheinen. Wenn nach mehreren Zyklen Chemotherapie und ausgedehnter Larynxteilresektion, z. B. supracricoidale Laryngektomie bei einem T2 NO-Larynxkarzinom auch noch nachbestrahlt wird, ist das aus meiner Sicht eine Überbehandlung. Ist eine Laryngektomie nicht zu umgehen, so erfolgt heute die Stimmrehabilitation durch Stimmprothesen, nicht mehr durch chirurgische Shunts.
Bei nicht unter Organerhalt resektablen Tumoren mit kurativer Chance, z. B. bei einem fortgeschrittenen Larynxkarzinom, ist eine Laryngektomie nach wie vor zu rechtfertigen. Die Rolle der organerhaltenden Radio-Chemotherapie wird in Studien überprüft. Die therapeutische Strategie, mit neoadjuvanter Chemo-(Radio-)Therapie einen nicht resektablen Tumor so zu reduzieren, dass anschließend organerhaltend operiert werden kann, ist weitgehend verlassen worden. Die Ergebnisse der laserchirurgischen Tumorverkleinerung (laserchirurgisch, Neck-dissection) bei fortgeschrittenen Tumoren (T4 N3) mit nachfolgender Strahlentherapie sind enttäuschend. Insbesondere beim Oropharynxkarzinom zeigt sich kein Überlebensgewinn im Vergleich zur simultanen Radio-Chemotherapie.
Bei weit fortgeschrittenen, prognostisch sehr ungünstigen Tumoren (z. B. T4 N3-Hypopharynxkarzinomen), verbietet sich eine radikale, organopfernde Chirurgie aus ethischen Gründen. In Einzelfällen kann aufgrund von Symptomen wie Atemnot oder Schluckunfähigkeit, oder auf Wunsch des Patienten eine Operation (z. B. Laryngektomie statt Tracheotomie) gerechtfertigt sein. Ein eindeutiger Irrweg ist die über viele Jahre von Kopf- und Hals-Chirurgen erhobene Forderung: „Radikale Neck-dissection bei NO-Hals wegen eines fortgeschrittenen Primärtumors bzw. Laryngektomie bei T2/T3-Tumoren wegen fortgeschrittener Halsmetastasierung.”
Die radikale Neck-dissection beim N0- bis N2-Hals ist überholt. An ihre Stelle ist die modifizierte radikale Neck-dissection (sog. funktionelle Neck-dissection) bzw. die selektive Neck-dissection getreten.
Bei einem Primärtumor der Kategorie T1 bis T3, der vollständig reseziert werden konnte (RO-Resektion) ohne histologischen Nachweis einer Lymphangiosis carcinomatosa im Primärtumor oder von Halsmetastasen (pNO) ist nach unserer Auffassung eine Nachbestrahlung kontraindiziert. Wir bestrahlen auch bei N1-Hals nicht, der Wert einer Nachbestrahlung bei N1-Hals ist bisher durch keine Studie überprüft worden. Unseres Erachtens sollte man erst ab N2 sowie bei Vorliegen einer Kapselruptur oder einer Lymphangiosis carcinomatosa adjuvant therapieren.
Wolfgang Steiner
Georg-August-Universität Göttingen · Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde
Robert-Koch-Straße 40 · 37075 Göttingen
Email: wsteiner@med.uni-goettingen.de