Psychiatr Prax 2003; 30(8): 438-443
DOI: 10.1055/s-2003-45208
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Narrenhaus, Irrenanstalt, Heil- und Pflegeanstalt, Fachkrankenhaus - Zur Entwicklung der Bezeichnungen für psychiatrische Kliniken in Deutschland bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts

Madhouse, Asylum, Retreat, Specialist Hospital - On the Genesis and History of Names for Psychiatric Institutions in Germany Until the Beginning of the 20th CenturyDirk  Carius1 , Matthias  C.  Angermeyer1 , Holger  Steinberg1
  • 1Archiv für Leipziger Psychiatriegeschichte, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Universität Leipzig
Further Information

Publication History

Publication Date:
05 December 2003 (online)

Zusammenfassung

Mit Einsetzen der wissenschaftlichen Psychiatrie werden althergebrachte, negativ konnotierte Begriffe wie Narren- oder Tollhaus ersetzt durch den zu jener Zeit neutralen Begriff Irrenanstalt. Paradigmatische Veränderungen werden durch Bezeichnungen wie Heilanstalt, Pflegeanstalt sowie Heil- und Pflegeanstalt versprachlicht. Erst mit dem Fachkrankenhaus des 20. Jahrhunderts reiht sich die Psychiatrie endgültig in die Medizin ein. Zuvor blieb Klinik nur den Universitätspsychiatrien vorbehalten. Der Wandel in den Bezeichnungen widerspiegelt sowohl Veränderungen der Anschauungen als auch die Bemühungen vor allem von Seiten der Psychiater durch Sprachregelungen einen Beitrag zu leisten, der Stigmatisierung psychisch Kranker wirkungsvoll zu begegnen.

Abstract

This paper analyses the history of names for psychiatric institutions in the German language. When scientific, medical psychiatry came into being in the late 18th century, names with negative connotations such as „Narrenhaus” or „Tollhaus” (approximating to the English word „madhouse”) were substituted by the then neutral „Irrenhaus” and later in the 19th century by „Irrenanstalt”. Soon, however, this new term became associated with negative connotations, making it unsuitable as a reflection of the many improvements made both in the treatment and the public image of psychiatric service users. Changes in word form such as „Heilanstalt”, „Pflegeanstalt” and „Heil- und Pflegeanstalt” better reflect the character of the institutions. Objections to the word „Anstalt” (institution) were not acknowledged until the 20th century when the term „Fachkrankenhaus” („specialist hospital”) was introduced. Before then the German word „Klinik” was reserved for university hospitals, the first of which was founded in 1878. The history of names for psychiatric institutions reflects both changes in the treatment of the mentally ill and the attempts made above all by psychiatrists to face and overcome stigmatisation of their clients.

Literatur

  • 1 Damerow H. Einleitung.  Allg Zschrft Psychiatr. 1844;  1 III-XLVIII
  • 2 Laehr H. Ueber Irrsein und Irrenanstalten. Für Aerzte und Laien. Nebst einem Bericht über Deutschland's Irrenwesen und Irrenanstalten. Halle; Pfeffer 1852
  • 3 Laehr H. Die Heil- und Pflege-Anstalten für Psychisch-Kranke in Deutschland. Berlin; Reimer 1875
  • 4 Laehr H. Die Heil- und Pflege-Anstalten für Psychisch-Kranke des deutschen Sprachgebietes am 1. Januar 1898. Berlin; Reimer 1899
  • 5 Pándy K. Die Irrenfürsorge in Europa. Berlin; Reimer 1908
  • 6 Laehr H. Die Anstalten für Psychisch-Kranke in Deutschland, Deutsch-Österreich, der Schweiz und den Baltischen Ländern. Berlin; Reimer 1907 6. Aufl.
  • 7 Bresler J. Heil- und Pflegeanstalten für psychisch Kranke in Wort und Bild. 3 Bde. Halle; Marhold 1910, 1912, 1915
  • 8 Laehr H, Ilberg G. Die Anstalten für Psychisch- und Nervenkranke, Schwachsinnige, Epileptische, Trunksüchtige usw. in Deutschland, Österreich, der Schweiz und den baltischen sowie anderen Grenzländern. Berlin; Reimer 1929 8. Aufl.
  • 9 Neuburger M. Geschichte der Medizin. Bd. 2/1. Stuttgart; Enke 1908
  • 10 Kirchhoff T. Geschichte der Psychiatrie. In: Aschaffenburg G (Hrsg) Handbuch der Psychiatrie. Allg. Teil, 4. Abt. Leipzig, Wien; Deuticke 1912: 3-48
  • 11 Jetter D. Grundzüge der Geschichte des Irrenhauses. Darmstadt; Wiss. Buchges 1981
  • 12 Kohl F. Die relativ verbundene Heil- und Pflegeanstalt in Halle-Nietleben - Eine konzeptionsgeschichtlich interessante Modellanstalt für einen neuen psychiatrischen Versorgungstyp in Deutschland.  Krankenhauspsychiatr. 2001;  12 121-124, 166 - 170
  • 13 Zeitschrift für psychische Ärzte: mit besonderer Berücksichtigung des Magnetismus. 1818; 1 bis 1822; 5; fortgesetzt als [14]. 
  • 14 Zeitschrift für die Anthropologie. 1823; 1 bis 1826; 4; fortgesetzt als [15]. 
  • 15 Jahrbücher für Anthropologie und zur Pathologie und Therapie des Irrseyns. 1830: 1
  • 16 Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin. Hrsg. von Deutschlands Irrenärzten. 1844; 1 bis 1904; 61 (erschienen bis 1937; 106). 
  • 17 Centralblatt für Nervenheilkunde, Psychiatrie und gerichtliche Psychopathologie 1878; 1 bis 1889; 12; fortgesetzt als [18]. 
  • 18 Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie: internationale Monatsschrift für die gesamte Neurologie in Wissenschaft und Praxis mit bes. Berücks. der Degenerations-Anthropologie 1890; 13 (N. F. 1) bis 1910; 33 (N. F. 22). 
  • 19 Neurologisches Centralblatt 1882; 1 bis 1907; 26 (erschienen bis 1921; 40). 
  • 20 Psychiatrische Wochenschrift 1899/1900; 1 bis 1901/02; 3; fortgesetzt als [21]. 
  • 21 Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 1902/03; 4 bis 1908/09; 10 (erschienen bis 1945; 47). 
  • 22 Peretti J. Irrenpflege und Irrenanstalten.  In: Historische Studien und Skizzen zu Naturwissenschaft, Industrie und Medizin am Niederrhein. Der 70. Vers Dt Natforscher und Aerzte gewidmet. Düsseldorf; Müller 1898: 101-112
  • 23 Goecke . Zschrft des Bergischen Gerichtsvereins. 19: 44 - z. n. (3, S. 102). 
  • 24 Breigans J. Die Wohlfahrtspflege der Stadt Aachen in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters. Münster; Inaug-Diss Uni Münster 1909
  • 25 Kirchhoff T. Lehrbuch der Psychiatrie. Für Studirende und Aerzte. Berlin; Deuticke 1891
  • 26 Reil J CF. Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerüttungen. Halle; Curt 1803
  • 27 Fischer M. Die Benennung der Krankenhäuser für Geisteskranke.  Psychiatr neurol Wschrft. 1904/05;  6 281-284, 289 - 292 ,  (dass als Buch Halle: Marhold, 1905 - 24 S.)
  • 28 Pfeiffer W. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 3 Bde. Berlin; Akademie 1989
  • 29 Carius D, Steinberg H. Allgemeinsprachliche Bezeichnungen für psychisch Kranke und Auffällige im Deutschen. Etymologisch-sprachweltbildliche Reflexionen.  Psychiatr Prax. 2000;  27 321-326
  • 30 Adelung J C. Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. 4 Bde. Leipzig; Breitkopf und Härtel 1801
  • 31 Payk T. Psychiater. Forscher im Labyrinth der Seele. Stuttgart, Berlin, Köln; Kohlhammer 2000
  • 32 Hoppe H. Ein Gang durch eine moderne Irrenanstalt. Halle; Marhold 1906
  • 33 Roller F CW. Bemerkungen zu dem Statut für Illenau.  Allg Zschrft Psychiatr. 1844;  1 251-262
  • 34 Steinberg H. Die schlesische Provinzial-Irrenanstalt Leubus im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Wirkens von Emil Kraepelin.  Wurzbg Medhist Mitt. 2002;  21 533-553
  • 35 Alt K. , (Reaktion zu:) Schaefer (Lengerich). Wie gross sollen öffentliche Gehirnkrankenanstalten gebaut werden?.  Psychiatr neurol Wschrft. 1902/03;  4 45-47
  • 36 Kraepelin E. Psychiatrie. 8. Aufl Leipzig; Barth 1909 Bd. 1
  • 37 Reißner J. Bilder aus der Irrenanstalt. Berlin; Salle 1900
  • 38 Paetz A. Die Kolonisirung der Geisteskranken in Verbindung mit dem Offen-Thür-System, ihre historische Entwickelung und die Art ihrer Ausführung auf Rittergut Alt-Scherbitz. Berlin; Springer 1893
  • 39 Nasse F. Keine Irre in die klinische Anstalten?.  Zschrft psych Aerzte. 1822;  5, H. 3 172-201
  • 40 Steinberg H. Die Errichtung des ersten psychiatrischen Lehrstuhls: Johann Christian August Heinroth in Leipzig.  Manuskript, eingereicht Nervenarzt
  • 41 Jetter D. Grundzüge der Geschichte des Irrenhauses. Darmstadt; Wiss Buchges 1981
  • 42 Steinberg H. Kraepelin in Leipzig. Eine Begegnung von Psychiatrie und Psychologie. Bonn; Psychiatrie-Verlag, Ed. Das Narrenschiff 2000
  • 43 Kirchhoff T. Geschichte der Psychiatrie. In: Aschaffenburg G (Hrsg) Handbuch der Psychiatrie. Allg. Teil, 4. Abt. Leipzig, Wien; Deuticke 1912: 3-48
  • 44 Theresienhof . Asyl für Nervenleidende und Gemüthskranke (Eigenwerbung).  Cbl Nervenheilk Psychiatr. 1880;  3 320
  • 45 Olàh G. Nochmals zur Benennung der öffentlichen Irrenheilanstalten.  Psychiatr neurol Wschrft. 1902/03;  4 216
  • 46 Die Curanstalt für Nervenkranke in Blankenburg am Harz (Eigenwerbung). Neurol Cbl 1896 15, Deckblatt Innenseite, Werbung
  • 47 Olàh G. Zur Frage der Grösse und Benennung der Irrenheilanstalten.  Psychiatr neurol Wschrft. 1902/03;  4 109-111
  • 48 -f (Anonym). Ueber die Benennung der Irrenanstalten.  Psychiatr neurol Wschrft. 1902/03;  4 181
  • 49 Finzen A, Hoffmann-Richter U. Mental Illness as Metaphor. In: Fischer GJ, Sartorius W (eds) The Image of Madness. The Public Facing Mental Illness and Psychiatric Treatment. Basel; Karger 1999: 15

1 In die Kölner Einrichtung dieses Namens wurden jedoch auch Betrüger und Übertreter der Marktordnung „für einige Stunden” verbracht [22]. In den niederrheinischen Gebieten scheint „Geck” die verbreitetste Bezeichnung gewesen zu sein: In einem Düsseldorfer Regulativ vom 15. Februar 1457 ist von einem Geckhäuschen („geckshuysgen”) die Rede [23]. Das bestätigt auch Peretti: „Geckhäuschen ist gleichbedeutend mit Narrenhäuschen, Geck ist der niederrheinische Ausdruck für Narr.”

2 Nur an einigen wenigen Stellen spricht Reil von „Narren”, „Verrückten” oder „Wahnsinnigen” - ohne Bedeutungsunterschied zu „Irrenden”. Einige kurze Anmerkungen zur Wortgeschichte von „irre”: Die wohl früheste Verwendung geht auf das Jahr 1702 zurück. In einem Reglement der Stadt Berlin „Besondere Ordnung für irre und dolle Leute” findet sich der sehr bemerkenswerte Satz: „die etwas irre, aber nicht rasend, werden in ein gut Zimmer gehalten und gehen im Hause herum” [27]. Etymologisch gesehen beruht irre auf einer indogermanischen Wurzel *er(e)s „fließen, aufgebracht, erregt sein” [28]. Das germanische Adjektiv setzt die Wurzel teils in (1) „unruhig umherschweifend”, teils in (2) „heftig bewegt, zornig”, teils in (3) „vom rechten Wege abgekommen” fort, vgl. ahd. irri „umherschweifend, verirrt, unwissend, zügellos” (9. Jhd), mhd. erre „vom rechten Wege abgekommen, verirrt, wankelmütig, erzürnt, uneinig”, asächs. irri „zornig”. Zu (1) vgl. Irrfahrt, Irrgarten (16. Jh.), sich verirren, (um 1000), Irrlicht (17. Jh.), zu (3) vgl. Irrtum (9. Jh.), Irrglaube, Irrlehre (17. Jh.). Die zweite Bedeutung ist die uns hier interessierende. Sie zeigt aber auch die Bemühungen der Psychiater, damit eine mildere, obgleich nicht unrichtige Bezeichnung ihrer Schutzbefohlenen zu prägen. Ausführlicher zu „irre” in seiner etymologischen Entwicklung siehe [29], eine ausführliche Darstellung zur Wortgeschichte von „irre” findet sich bei Fischer [27].

3 Eine der ersten psychiatrischen Versorgungseinrichtungen, die den Namen Irrenhaus trugen, war das 1716 errichtete Irren- und Tollhaus in Waldheim [31].

4 Zuvorderst soll hier klargestellt werden, dass Reil sich als einer der ersten für die getrennte Unterbringung und Versorgung von heilbar und unheilbar Kranken in „Aufbewahrungs-Anstalten” (S. 20) oder „Asylen” (S. 454) einerseits und „Heilanstalten” andererseits einsetzte. All seine Ausführungen zur Irrenanstalt beziehen sich insofern auf eine Heilanstalt. Im Kapitel 23 (Wie soll ein Irrenhaus eingerichtet seyn, damit es als Heilanstalt seine Zwecke am vollkommensten entspreche) spricht er deshalb auch durchgehend von Irrenhaus, Irrenanstalt oder eben Heilanstalt. Diese beiden hier zitierten Umbenennungsvorschläge indes benutzt Reil nur dies eine Mal an oben angeführten Stelle (S. 458).

5 [34] zeigt diese Auseinandersetzungen beispielhaft an dem 1830 als Heilanstalt eröffneten psychiatrischen Krankenhaus in Leubus (Schlesien), das zunächst dank des einflussreichen Martini seinen Ausnahmestatus als Heilanstalt außergewöhnlich lange (bis ca. 1890) bewahren konnte, erst dann erfolgte die Umwandlung in eine gemischte Anstalt.

6 In der preußischen Provinz Sachsen beispielsweise erfolgte die endgültige Ersetzung des Begriffs Provinzial-Irrenanstalt durch Landes-Heil- und Pflegeanstalt erst um die Jahrhundertwende, was jedoch nach Einschätzung von Alt schon an sich „einen grossen Schritt vorwärts bedeutet” [35].

7 Flechsig beispielsweise, von ihrer Eröffnung 1882 - 1920 Leiter der Psychiatrischen Klinik an der Universität Leipzig, betont in seiner Autobiografie dezidiert sein persönliches Engagement in dieser Angelegenheit und begründet dies u. a. auch mit dem inzwischen angewachsenen Negativ-Image der ursprünglichen Bezeichnung Irrenklinik [41].

8 Kuranstalt Neufriedenheim bei München, Kurhaus Villa Friede Ballenstedt am Harz, Hofrath Dr. Würzburgers Kuranstalten „Mainschloss” und „Herzogshöhe” Bayreuth u. a.

9 Alt stört aber auch eine allgemeine Bezeichnung Landesheilanstalt wenig. „Erscheint es [jedoch] nöthig, der Bezeichnung Landes-Heilanstalt noch einen abgrenzenden Zusatz zu geben, so dürfte die Vorsetzung des Wortes „Nerven” jeden Zweifel beheben und dabei dem allgemeinen Sprachgebrauch vollauf gerecht werden, ohne unrichtig oder anstössig zu sein” [35]. Allerdings wäre ihm eine Ersetzung des Grundwortes Anstalt - bevorzugterweise durch Klinik oder Heilstätte - sehr genehm.

Holger Steinberg

Archiv für Leipziger Psychiatriegeschichte · Klinik und Poliklinik für Psychiatrie · Universität Leipzig

Johannisallee 20

04317 Leipzig

Email: steinbh@medizin.uni-leipzig.de