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DOI: 10.1055/s-2003-45295
Krisen und Suizidalität
Publication History
Publication Date:
05 December 2003 (online)
Im Zorn hatte Linda die Wohnung verlassen. Es war im zeitigen Frühjahr, noch Schnee auf den Beeten und an den Straßenrändern, ein beißender Wind kam vom Sund herüber, und sie war durch die Straßen gelaufen, die endlose Regementsgata entlang zur Ausfahrt Richtung Ystad. Irgendwo hatte sie sich verlaufen. Sie hatte die gleiche Angewohnheit wie ihr Vater, beim Gehen auf den Boden zu starren. Wie er war sie bei verschiedenen Gelegenheiten gegen Laternenpfähle oder parkende Autos gelaufen. Sie war zu einer Brücke über eine Autobahn gekommen. Ohne wirklich zu wissen, warum, war sie auf das Brückengeländer geklettert, wo sie anfing, im Wind zu schwanken. Sie schaute hinab auf die heranrasenden Autos und die gleißenden Lichter, die das Dunkel zerschnitten. Wie lange sie so stand, wusste sie nicht.
Es war wie eine letzte große Vorbereitung, sie hatte nicht einmal Angst oder Selbstmitleid verspürt. Sie hatte nur darauf gewartet, dass die schwere Müdigkeit oder die Kälte sie dazu brachten, den Schritt hinaus in die Leere zu tun.
Plötzlich hatte jemand hinter ihr gestanden, oder vielleicht neben ihr, und behutsam zu ihr gesprochen. Es war eine Frau, eine junge Frau ... vielleicht nicht viel älter als sie selbst. Aber sie trug eine Uniform, sie war Polizistin. Weiter hinten auf der Brücke standen zwei Polizeiwagen mit kreisendem Blaulicht. Aber nur diese Polizistin mit dem kindlichen Gesicht hatte sich genähert. Im Hintergrund hatte Linda die Schatten anderer Menschen wahrgenommen, die warteten, die die Verantwortung dafür, diese Idiotin von dem Brückengeländer herunterzuholen, einer jungen Frau übertragen hatten, die nur wenig älter war als sie selbst. Sie hatte mit ihr gesprochen, hatte gesagt, dass sie Annika heiße und nur wolle, dass Linda da herunterkäme, ein Sprung ins Leere sei keine Lösung, egal, welches Problem sie habe. Linda hatte widersprochen, sie hatte das Gefühl, das, was sie tat, verteidigen zu müssen. Wie konnte Annika wissen, wovon sie sich befreien wollte? Aber Annika gab nicht nach, sie wirkte vollkommen ruhig, als sei sie mit einer unerschöpflichen Geduld ausgestattet. Als Linda schließlich vom Geländer herunterkletterte und zu weinen anfing, aus einer Enttäuschung heraus, die natürlich zum Teil Erleichterung war, hatte auch Annika geweint. Sie hatten dagestanden und sich umarmt.”
Henning Mankell beschreibt in einem seiner letzten Romane[1] diese Szene, in der viel vom Inhalt dieses Heftes verdichtet ist. Eine junge Frau steckt in einer Krisensituation, und sie gerät, nur halb dessen bewusst, was sie tut, an den Punkt, an dem sie nur noch ein dünnes Band vom Tod trennt, wie auf unserem Titelbild. Der Boden unter den Füßen ist verloren - und plötzlich ist wieder jemand da, der wieder ein Stück Boden bietet, einfach dadurch, dass sie da ist, nicht - oder nicht nur - mit einer erlernten Technik, sondern als betroffene Person, die die andere umarmen kann und mit ihr weint. Der dünne Faden hat gehalten und beginnt, sich nun wieder zu verdichten.
Krisensituation und Suizidalität sind hier eng miteinander verbunden - und eine solche Assoziation scheint sich bei den Gedanken an Krisen anzubieten. Anfänglich hatten wir unsere Autorinnen und Autoren zur Mitwirkung an einem Themenheft über Krisenintervention eingeladen - und ohne speziellen Auftrag haben sich fast alle mehr oder weniger explizit auf Suizidalität bezogen. Daraufhin haben wir den Themenschwerpunkt erweitertet, und das Heft behandelt nun beide Themen gemeinsam.
Suizidalität scheint so etwas wie ein Brennglas zu sein, das das Krisengeschehen auf besondere und eindringliche Weise verdeutlicht. Zugleich ist sie die größte Herausforderung für einen Therapeuten oder eine Therapeutin - jenseits aller methodischen Qualifikation. Krisenintervention - insbesondere angesichts einer drohenden Selbsttötung - eignet sich nicht für Schulenstreit, für die Auseinandersetzung um die „richtige” Methode. Und da wir alle von Krisen betroffen werden können, betrifft das Thema uns auch viel persönlicher als viele Themen, mit denen wir in der Praxis ansonsten konfrontiert sind. Themen wie Tod und Sterben, Trauer, Schock über eine unausweichliche Diagnose oder schreckliche Ereignisse können - und werden - irgendwann auch uns als TherapeutInnen treffen, uns herausfordern und uns infrage stellen. Gerade deshalb ist es so wichtig, sich immer wieder der eigenen Gefühle bewusst zu werden und sie zu hinterfragen. Die vielfache Facettierung menschlicher Krisen bringt es darüber hinaus mit sich, dass sich jede Standardisierung verbietet. Ein „Manual für Krisenintervention” ist wohl undenkbar.
Für uns ist es mehr als nachvollziehbar, dass fast alle Autorinnen und Autoren dieser Zeitschrift sich zunächst auf die Beziehung und die Beziehungsgestaltung als vordringlichsten Schritt der Krisenintervention bezogen haben. Die existenzielle Erfahrung eines Gegenübers, das einfach „da” ist, ist das Wichtigste. Das ist der Grundkonsens unserer Autoren und Autorinnen. Auf diesem aufbauend lassen sich eine Reihe von Haltungen und Schritten beschreiben, die also so etwas wie das kleine Einmaleins der Krisenintervention gesehen werden können. Neben Beziehungsaufbau und Rapport ist es die Fähigkeit, jemandem zu helfen, der durch ein einschneidendes Erlebnis jedes Bewusstsein für Zeiträume, das Alltagsgeschehen und für Perspektivität verloren hat. Die Hilfe besteht zunächst darin, wieder einen Anker für Zeit, Alltag und die möglichen anderen Perspektiven zu finden. Damit wird es möglich, die innere Vielstimmigkeit wieder lauter werden zu lassen, die in der Zuspitzung der Krise drohte durch eine einzige düstere Stimme völlig übertönt zu werden.
Diese Gesichtspunkte finden sich in beinahe allen Texten dieses Heftes wieder. Es versteht sich von selbst, dass Professionalität natürlich noch mehr umfasst, insbesondere eine sorgfältige Reflexion der eigenen Emotionen im Prozess der Begleitung durch eine Krise, doch wollten wir an dieser Stelle hervorheben, dass es einen breiten Konsens zu geben scheint, der sich nicht nur über die therapeutischen Richtungen, sondern auch über die Professionen erstreckt. Denn von Krisen sind auch viele andere betroffen, die gerade in der Akutsituation Helfer oder Opfer sind: Sanitäter, Polizisten, Lokführer. Gerade diese Berufsgruppen verweisen auf einen Aspekt, der in der Konzentration auf die psychischen Seiten von Krisen immer wieder übersehen zu werden droht. Es ist der Aspekt, mit dem sie besonders zu tun haben: dass Krisen auch „handfest” sind, dass sie bedeuten, dass eine Person möglicherweise eher eine warme Decke braucht als gute Worte, dass die Frage, ob der Kühlschrank gefüllt ist oder ob eingekauft werden muss, wichtiger sein kann als therapeutische Qualifikationen. Aber es gibt auch die Erfahrung, für Menschen in Krisen, ob sie uns fremd sind oder ob sie bereits von uns als Helfende betreut wurden, nichts mehr tun zu können, nämlich dann, wenn sie einen anderen traurigen Weg aus der Krise gesucht haben, als wir gewünscht hätten. Vorbereitet sein auf Menschen in schweren Krisen, die uns mit all ihren Gefühlen, mit ihrer Hilflosigkeit, mit dem Tod oder unseren eigenen Emotionen der Unzulänglichkeit konfrontieren, bedeutet mehr als Handwerkszeug zu lernen. Diese Auseinandersetzung gehört in die Selbsterfahrung der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Unsere eigene Konfrontation im Vorfeld der therapeutischen Herausforderung hilft, Klientinnen und Klienten offen im Gefangensein in ihren Krisen annehmen zu können. In einer Selbsterfahrung kann der Umgang mit den eigenen Krisen in der Lebensgeschichte aufgespürt und das eigene Krisenmanagement reflektiert werden. Die Auseinandersetzung mit den eigenen, vielleicht tabuisierten, Gefühlen wie Trauer, Schmerz, Verzweiflung, Ohnmacht, Scham, Schuld usw. und mit Tod und Suizid kann bei der zukünftigen Begegnung mit Menschen in akuten Krisen hilfreich und entlastend sein.
Bleibt neben dem methodischen Handwerkszeug und der Fähigkeit, eine helfende Beziehung in der Krisenintervention zu gestalten, die rechtliche Seite. Wir haben einen Artikel aufgenommen, der etwas Licht in die nicht immer einheitliche Rechtsauslegung für die therapeutische Arbeit mit Menschen in schweren psychischen Krisen bringen soll.
Wir hoffen, Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, all diese Facetten von Krisen und Krisenintervention mit diesem Heft nahe gebracht zu haben, einem Heft, über das wir uns ganz besonders freuen. Es ist fast so etwas geworden wie ein kleines Handbuch der Arbeit mit Krisen, die wohl zu jeder psychotherapeutischen Tätigkeit gehört und gehören sollte, wenngleich Krisenintervention bislang nicht von den Krankenhäusern bezahlt wird. Wir bedanken uns sehr bei all unseren Autorinnen und Autoren dafür, dass sie sowohl sich persönlich als auch in ihrer Professionalität eingebracht haben.
Beschließen möchten wir das Heft mit einem Zitat von Gregory Bateson:
„Was ein einzelner Mensch für einen anderen Mensch tun kann, ist nun nicht gerade überhaupt nichts, aber es hilft dem Hilfesuchenden sicher manchmal, wenn sich der Helfer darüber im Klaren ist, wie wenig Hilfe geleistet werden kann. Vorübergehender Schutz vor den kalten Winden einer wahnsinnigen Zivilisation, gemeinsam vergossene Tränen und gemeinsames Lachen. Und das ist es dann schon.” [2]
1 „Vor dem Frost”, Wien: Zsolnay-Verlag, 2003: 36 f
2 Gregory Bateson, (1987). Ratschlag für den Freund einer Selbstmörderin. Zeitschrift für systemische Therapie 5, 26 - 27