Psychiatr Prax 2004; 31(1): 1-3
DOI: 10.1055/s-2003-812573
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Schritte zur Früherkennung schizophrener Störungen in der Praxis

Towards Early Detection of Schizophrenia in Outpatient CareMartin  Hambrecht1
  • 1Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Evang. Krankenhaus Elisabethenstift Darmstadt
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Publikationsdatum:
16. Januar 2004 (online)

Der in der Körpermedizin fest etablierte Präventionsgedanke stößt in den letzten Jahren zunehmend auch in der Psychiatrie auf Interesse. Schizophrene Störungen stehen im Vergleich zu anderen Psychosen im Mittelpunkt der Früherkennungsbemühungen, weil sie selten ganz akut auftreten und häufig eine besonders ungünstige Prognose aufweisen. Beginn im frühen Erwachsenenalter, langjähriger Verlauf und in mindestens einem Drittel der Fälle chronische soziale Behinderung belasten die Betroffenen und deren Angehörige erheblich. Die Solidargemeinschaft wendet allein an direkten Behandlungs- und Betreuungskosten für chronisch Schizophreniekranke in Deutschland weit über 3 Mrd. € jährlich auf.

Neben den Belastungen durch die Krankheit waren weitere Entwicklungen für den „Frühling der Früherkennung” bedeutsam: die aufgrund von Langzeitstudien wachsende Kritik am fatalistischen Mythos der „Dementia praecox”, die verbesserte Definition des Krankheitsbeginns durch Ersterkranktenstudien, die Verfügbarkeit wirksamer Behandlungsmöglichkeiten, insbesondere vergleichsweise risikoarmer, verträglicher Neuroleptika, und die zunehmende Erfahrung in der Rezidivprophylaxe.

Als „indizierte bzw. selektive” Prävention setzt Frühintervention jedoch Früherkennung voraus. Diese muss auf gesicherten Kenntnissen über den Frühverlauf der Erkrankung aufbauen. Optimal sind prospektive Studien, die Aussagen zur prognostischen Validität bestimmter Befunde liefern, aber nur dann ausreichend große Stichproben liefern, wenn sie Populationen beobachten, in denen das Krankheitsrisiko erhöht ist. Retrospektive Studien erlauben zwar keine Aussagen zur Vorhersagekraft einzelner Befunde, können prinzipiell aber nahezu beliebig große Stichproben untersuchen.

Als umfassendste, methodisch solideste retrospektive Studie zum Frühverlauf schizophrener Erkrankungen gilt die „ABC-Schizophrenie-Studie” von Häfner u. Mitarb. aus Mannheim [1]. Bei einer repräsentativen Stichprobe erster schizophrener Episoden gelang der Nachweis, dass dem ersten Behandlungskontakt unter den gegenwärtigen Versorgungsbedingungen mindestens ein Jahr psychotische Symptome und im Mittel 5 Jahre nichtpsychotische Prodromalsymptome vorausgehen. In diesem Zeitraum beginnt bereits der soziale Abstieg der erst später als schizophreniekrank diagnostizierten Menschen [2].

Prospektive Studien der einflussreichen Melbourner Arbeitsgruppe von McGorry erzielten die notwendige Anreicherung des Psychoserisikos in der Untersuchungspopulation, indem sie Zustände mit einem erhöhten Risiko für den Übergang in eine Psychose definierten, ohne bereits die diagnostischen Kriterien für eine Schizophrenie zu erfüllen [3] [4]:

spontan-remittierte psychotische Symptome kurzer Dauer, schwach ausgeprägte psychotische Symptome, Leistungseinbruch bei vorbestehendem Risiko (genetische Belastung oder anamnestische Geburtskomplikationen).

Trotz der kurzen Nachbeobachtungszeit von zunächst 6 Monaten war das Psychoserisiko bei Menschen, die mindestens eines dieser Kriterien erfüllten, so hoch, dass 40 % von ihnen in diesem Zeitraum bereits manifest erkrankten.

Die erste langfristige prospektive Früherkennungsstudie von Klosterkötter et al. [5] [6] erzielte die Risikoanreicherung durch den Einschluss von Patienten, die überwiegend aus Facharztpraxen zur Abklärung eines Psychoseverdachts einer Universitäts-Poliklinik zugewiesen worden waren und im Mittel 9,6 Jahre nach der initialen Erfassung der Prodromalsymptomatik nachuntersucht wurden. Hier waren rund die Hälfte der initial eingeschlossenen 160 Patienten inzwischen an Schizophrenie erkrankt, im Mittel nach 5,6 Jahren.

Derzeit wird im Früherkennungsprogramm des Kompetenznetzes Schizophrenie auf zwei Ebenen die frühe Erkennung (Diagnose) und Vorhersage der Psychose (Stadium des Frühverlaufs) angestrebt: mittels eines 17-Item-Screening-Instruments, der aus den Ergebnissen der Mannheimer und Kölner Studien entwickelten „Checkliste”, und eines 110 Items umfassenden Interviews (ERIRAOS) zur weiteren Risikoabklärung. Der Ergebnisse sind ebenso abzuwarten wie die Resultate einer prospektiven multizentrischen europäischen Früherkennungsstudie unter Kölner Federführung („EPOS”), die psychopathologische, soziale und neurobiologische Untersuchungsebenen einschließt.

Beim gegenwärtigen Kenntnisstand sind ausgewählte Symptombereiche und weitere Informationsquellen hinsichtlich ihres Beitrags zur Früherkennung schizophrener Störungen vorläufig folgendermaßen zu bewerten:

Frühe affektive Auffälligkeiten und Leistungseinbußen: Nervosität, Depressivität, Ängste, Energielosigkeit, Selbstzweifel, Leistungseinbruch und sozialer Rückzug werden von Menschen mit Schizophrenie am häufigsten als erste Symptome erinnert. Sie führen bei den Betroffenen zu einem hohen Leidensdruck und sollten (auch zur Stärkung von Behandlungsmotivation und therapeutischer Beziehung) sorgfältig erfragt und bearbeitet werden. Diese frühesten Symptome einer psychotischen Entwicklung sind allerdings unspezifisch. Sie stellen z. B. die Kernsymptomatik von depressiven und Angststörungen dar und können deshalb nicht zu einer Vorhersage herangezogen werden. Diese Beschwerden sind auch in der Allgemeinbevölkerung weit verbreitet. So gaben bei einer Repräsentativbefragung unter Studierenden in Deutschland 27 % psychische Probleme an - mit am häufigsten genau jene von später schizophren Erkrankten.

Absonderliches Verhalten und „Negativsymptomatik”: Im US-amerikanischen Diagnosemanual DSM-III-R werden als Prodromalsymptome für Schizophrenie absonderliches Verhalten, Denken oder Erscheinungsbild, abgestumpfter, verflachter oder inadäquater Affekt und andere Symptome aufgelistet, die im Nachhinein nach Psychoseausbruch überwiegend der „Negativsymptomatik” der Schizophrenie zugerechnet werden. Sie besitzen jedoch eine so geringe diagnostische Spezifität und Sensitivität, dass sie in bis zu 30 % der Fälle zu falsch positiven und in bis zu 23 % der Fälle zu falsch negativen diagnostischen Zuordnungen führen [7]. Dennoch sind sie bei der Frühdiagnostik nicht ohne Bedeutung, da sie einerseits soziale Defizite und zwischenmenschliche Konflikte nach sich ziehen und andererseits für das (kaum operationalisierbare) „praecox”-Gefühl (Rümke 1942 [8]) des erfahrenen Diagnostikers verantwortlich sein dürften.

Selbst wahrgenommene Denk- und Wahrnehmungsstörungen: Als „Basissymptome” beschrieb Gerd Huber von Schizophreniepatienten selbst beobachtete Defizite vor allem des Denkens und Wahrnehmens, aber auch im Fühlen und Handeln, die mit einem strukturierten Interview, der Bonner Skala für die Erfassung von Basisstörungen, BSABS, sehr subtil zu erfassen sind [9]. In der prospektiven Studie von Klosterkötter et al. [5] [6] erwiesen sich in erster Linie bei sich selbst erlebte kognitive Defizite und Auffälligkeiten der Wahrnehmung als prädiktiv. So lagen etwa bei Gedankeninterferenzen, Perseverieren von Gedanken, Gedankendrängen, gestörter Diskrimination von Vorstellung und Wahrnehmung, Störungen der rezeptiven Sprache, Derealisationserleben, optischen und akustischen Wahrnehmungsstörungen die einzelnen Raten an falsch positiven Vorhersagen deutlich unter 10 %. Allerdings waren die hochprädiktiven kognitiven Einzelsymptome jeweils nur von knapp einem Drittel der Patienten schon zu Beginn der Verlaufsbeobachtung geboten worden. Alleine hierauf lässt sich also eine breit angelegte Früherkennung nicht stützen, sonst würden zu viele Schizophrenieentwicklungen übersehen.

Schwach ausgeprägte oder kurz dauernde psychotische Symptome: Mild ausgeprägte psychotische Symptome, beispielsweise wiederkehrende Beziehungsideen und Misstrauen ohne Wahngewissheit, weisen nach der Melbourner Studie in über einem Drittel der Fälle auf einen baldigen Übergang in eine manifeste Psychose hin [3]. Gleiches gilt für selbständig remittierte psychotische Symptome von kurzer Dauer, beispielsweise für wenige Stunden bestehende akustische Halluzinationen oder Verfolgungswahn, sofern sie nicht durch Drogenkonsum hervorgerufen wurden. Wenn derartige Symptome aber schon seit Jahren immer wieder bestanden und somit eher der Persönlichkeit des Betroffenen zuzuordnen sind, tragen sie nicht zur Psychoseprädiktion bei.

Substanzmissbrauch: Schädlicher Konsum von Alkohol und Cannabis, in geringerem Maße auch von anderen illegalen Drogen, findet sich vor schizophrenen Psychosen doppelt so häufig wie bei gleichaltrigen Vergleichspersonen [10]. Da Substanzmissbrauch die Prognose eindeutig verschlechtert und besondere Behandlungskonzepte erfordert, muss Drogen- und Alkoholkonsum bei der Frühdiagnostik immer angesprochen, erfasst und problematisiert werden, auch wenn sich daraus keine Vorhersage für eine drohende schizophrene Ersterkrankung ableiten lässt. Da Cannabis Psychosen auslösen kann, muss dieser zusätzliche Risikofaktor jedoch mitberücksichtigt werden.

Genetische Belastung und Geburtskomplikationen: Familienstudien haben sehr gut belegt, dass mit zunehmender genetischer Übereinstimmung von Familienangehörigen auch die Konkordanzrate für Schizophrenie steigt - bei eineiigen Zwillingen bis auf 50 %. Bei anderen Verwandten 1. Grades liegen die Konkordanzraten allerdings unter 10 %, so dass die genetische Belastung alleine noch keine Psychoseprädiktion erlaubt, in Kombination mit anderen Auffälligkeiten aber hellhörig macht.

Ähnliches gilt für Geburtskomplikationen, die ebenfalls weniger als 10 % der schizophren Erkrankten in der Anamnese aufweisen. Wegen möglicher Erinnerungsverzerrungen sind elterliche Informationen hierzu nur unter Vorbehalt zu verwerten, wenn sie nicht durch Originaldokumente belegt sind [11].

Neurobiologische Befunde: Neurophysiologische und neuropsychologische Verfahren zeigen bei Menschen mit manifester schizophrener Erkrankung Störungen der Informationsverarbeitung von der Reizaufnahme bis hin zu komplexen kognitiven Leistungen. In der Früherkennung sind diese Befunde aber bisher nicht direkt anwendbar, da die bisherigen Studien nur gruppenstatistische Unterschiede herausgearbeitet haben, während prospektive Untersuchungen bei potenziellen Schizophreniepatienten noch im Gang sind. Aus dem gleichen Grund konnten bildgebende Verfahren (z. B. strukturelles oder funktionelles MRT) für die individuelle Risikoabschätzung bislang nicht etabliert werden.

Zusammenfassend kann der Übergang in eine schizophrene Psychose heute nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit abgeschätzt werden. Derzeit bilden Psychopathologie und Familienanamnese die wichtigsten Informationsquellen. Die häufigsten Prodromalsymptome sind allerdings unspezifisch oder schon psychosenah. Die spezifischeren Prodromalsymptome, nämlich bestimmte Basissymptome, sind seltener und schwerer zu erfassen.

Eine Verbesserung der Prädiktion wird von einer Kombination mehrerer Untersuchungsebenen erwartet: Psychopathologie (v. a. Basissymptome und deren Verlaufsdynamik), Familienanamnese, sorgfältig erfasste Geburtskomplikationen, Lebensereignisse, Leistungsentwicklung, bildgebende Verfahren (Volumetrie; funktionelles MRT), Neurophysiologie (z. B. evozierte Potenziale) und Neuropsychologie (z. B. Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeitsleistung).

In der Praxis wird man immer dann hellhörig werden, wenn Jugendliche und junge Erwachsene sich unerwartet und ohne erkennbare Ursache zurückziehen oder einen Leistungseinbruch erleiden. Auffällig sind in jedem Fall Klagen über bis dahin unbekannte Denk- und Konzentrationsstörungen ohne äußeren Anlass. Besteht zudem eine positive Familienanamnese, sollten nicht erst psychotische Symptome abgewartet werden, bevor eine vertiefte Diagnostik erfolgt.

Zur Vorsicht mahnen ethische Bedenken, vor allem gegen voreilige Behandlungsmaßnahmen. Eine differenzierte Früherkennungsdiagnostik ist derzeit noch spezialisierten Zentren vorbehalten, z. B. im Kompetenznetz Schizophrenie oder an den Universitätskliniken Basel (Psychiatrische Poliklinik) und Heidelberg. Wegen des hohen Aufwandes konnten Spezialsprechstunden bisher nur durch Forschungsmittel finanziert an Universitäten eingerichtet werden. Bei Verdacht auf das Prodrom einer Schizophrenie lohnt sich hier immer ein Kontaktaufnahme. Bei unklaren Fällen darf man allerdings von einem einmaligen Gespräch in einem Früherkennungszentrum keine sichere Einschätzung erwarten. Der diagnostische Prozess (und erst recht eine Frühintervention) erstreckt sich u. U. über viele Sitzungen und ist deshalb in der Regel nur Hilfesuchenden aus der jeweiligen Region zugänglich. Gesundheitspolitisches Ziel muss sein, anhand überzeugender empirischer Belege der Validität und Effektivität von Früherkennung und Frühbehandlung mit den Kostenträgern Sonderbudgets zu vereinbaren.

Literatur

  • 1 Häfner H, Heiden W an der, Hambrecht M, Riecher-Rössler A, Maurer K, Löffler W, Fätkenheuer B. Ein Kapitel systematischer Schizophrenieforschung - Die Suche nach kausalen Erklärungen für den Geschlechtsunterschied im Ersterkrankungsalter.  Nervenarzt. 1993;  64 706-716
  • 2 Nowotny B, Häfner H, Löffler W. Die beginnende Schizophrenia als Einbruch in die soziale Biographie.  Z Klin Psychol. 1996;  25 208-220
  • 3 Yung A R, Phillips L J, McGorry P D, McFarlane C A, Francey S, Harrigan S, Patton G C, Jackson H J. Prediction of psychosis.  Brit J Psychiatry. 1998;  172, Suppl 33 14-20
  • 4 McGorry P D, Edwards J, Mihalopoulos S M. EPPIC: An evolving system of early detection and optimal management.  Schizophrenia Bull. 1996;  22 305-326
  • 5 Klosterkötter J, Gross G, Huber G, Steinmeyer E M. Sind selbst wahrnehmbare neuropsychologische Defizite bei Patienten mit Neurose- oder Persönlichkeitsdiagnosen für spätere Schizophrenie-Erkrankungen prädiktiv?.  Nervenarzt. 1997;  68 196-204
  • 6 Klosterkötter J, Hellmich M, Steinmeyer E M, Schultze-Lutter F. Diagnosing schizophrenia in the initial prodromal phase.  Arch Gen Psychiatry. 2001;  58 158-164
  • 7 Jackson H J, McGorry P D, Dudgeon P. Prodromal symptoms of schizophrenia in first-episode psychosis: Prevalence and specificity.  Compreh Psychiatry. 1995;  36 241-250
  • 8 Rümke H C. Das Kernsymptom der Schizophrenie und das „Praecox Gefühl”.  Zentralblatt für die Gesamte Neurologie und Psychiatrie. 1942;  102 168
  • 9 Gross G, Huber G, Klosterkötter J, Linz M. Bonner Skala für die Beurteilung von Basissymptomen (BSABS: Bonn Scale for the Assessment of Basic Symptoms). Berlin, Heidelberg, New York; Springer 1987
  • 10 Hambrecht M, Häfner H. Führen Alkohol- oder Drogenmißbrauch zu Schizophrenie?.  Nervenarzt. 1996;  67 36-45
  • 11 Kendell R E, McInneny K, Juszczak E, Bain M. Obstetric complications and schizophrenia. Two case-control studies based on structured obstetric records.  Brit J Psychiatry. 2000;  176 516-522

Prof. Dr. med. Dr. phil. Martin Hambrecht

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie · Evang. Krankenhaus Elisabethenstift gGmbH

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64287 Darmstadt

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