PiD - Psychotherapie im Dialog 2004; 5(1): 74-78
DOI: 10.1055/s-2003-814811
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Wie kann ich ,Stopp‘ sagen, wenn ich etwas nicht mehr will …?”

Barbara  Rotthauwe, im Gespräch mit Wolfgang Senf
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
12. März 2004 (online)

Barbara Rotthauwe ist Beratungslehrerin an der Realschule Müllheim und an der Schulpsychologischen Beratungsstelle in Freiburg.

PiD: Herzlichen Dank, dass Sie sich zu diesem Gespräch bereit gefunden haben. Was ist das, eine Beratungslehrerin?

B. Rotthauwe: Dazu macht man eine eineinhalbjährige Ausbildung, in der man Gesprächsführung lernt, bestimmte Formen der Krisenintervention, das heißt, wie kann ich vorgehen, wenn es Jugendliche schwierig haben, wie begleite ich Jugendliche in schulisch schwierigen Situationen oder auch in häuslich schwierigen Situationen. Oder es geht überhaupt darum, sie bei bestimmten Themen ein Stück zu begleiten, dass sie Klarheit bekommen über einen bestimmten Sachverhalt, über ein bestimmtes Problem, das ihnen Schwierigkeiten bereitet und bei dem sie keine Lösung finden.

PiD: Auf welcher Grundlage beruht diese Beratungsausbildung?

B. Rotthauwe: Das wird in Baden-Württemberg von Schulpsychologen in den Beratungsstellen angeboten. Diese Ausbildung wird jährlich vom Oberschulamt ausgeschrieben, man bewirbt sich und dann gibt es ein Auswahlinterview, ob man auch dafür geeignet ist. In der Ausbildung geht es nicht um Therapie, also etwa mit einem verhaltenstherapeutischen Ansatz, es geht um Beratung. Wenn Eltern und Schülerinnen oder Schüler zu uns kommen, sehen sie oft keine Möglichkeit mehr, das Problem selbst anzupacken. Die Lösung, die mit unserer Unterstützung gefunden wird, kann aber kein „Rezept” sein, sondern muss zu den Menschen passen, die vom Problem betroffen sind. Wir bringen die am Konflikt Beteiligten wieder ins Gespräch und suchen gemeinsam nach neuen Wegen, die eine Veränderung der belastenden Situation ermöglichen. Es ist ein Ansatz, bei dem man lernt, jemanden zu begleiten.

PiD: Wo üben Sie Ihre beraterische Tätigkeit aus?

B. Rotthauwe: Meine Beratungstätigkeit ist an der Schule angesiedelt. Ich bin für eine Schule zuständig, an der ich auch unterrichte.

PiD: Haben Sie ein Beratungszimmer oder Räumlichkeiten?

B. Rotthauwe: Ja, ich habe ein Beratungszimmer. Dadurch, dass ich das ja schon sehr lange mache, ist das an der Schule auch etabliert. Ich denke, dass ich mit meiner Tätigkeit meine Kolleginnen und Kollegen gut unterstützen kann, wenn es im schulischen Alltagsgeschehen schwierig ist, mit ihnen Gespräche führe und ihnen was abnehme bei der Arbeit. Und das ist einfach eine Entlastung, wenn da jemand ist, mit dem man besprechen kann, wenn man mal was bemerkt bei Schülerinnen und Schülern, und dann auch weiter gemeinsam überlegen kann, wie man diesem Jugendlichen jetzt helfen kann.

PiD: Gibt es tägliche Sprechstunden oder wie ist das organisiert?

B. Rotthauwe: Eigentlich habe ich keine tägliche Sprechstunde. Ich vereinbare Termine, was auch täglich sein kann. Wenn eine Kollegin oder ein Kollege auf mich zukommt, dann bitte ich sie, sich Zeit zu nehmen, und ich nehme mir auch die Zeit, und wir besprechen dann ausführlich miteinander, was anliegt. Das ist mir immer wichtig in so einem Gespräch, dass wir die Anliegen und den Auftrag, den sie mir geben, auch mittragen.

PiD: Wer kommt zu Ihnen, und kommen die Schüler auch von alleine?

B. Rotthauwe: Die älteren Schüler, die kommen von selbst, die jüngeren eher nicht. Da kommen eher die Eltern. Es kommen aber auch Lehrer.

PiD: Haben Sie ein Beispiel dafür, womit Lehrer zu Ihnen kommen?

B. Rotthauwe: Zum Beispiel mit der Beobachtung in der Klasse, dass ein Schüler zurückgezogen ist, seine Leistungen sehr absacken, im Moment aber keinem Gespräch zugänglich ist. Wir schauen dann, ob das nur mit einer Überforderung zu tun haben könnte oder mit was sonst. Wir versuchen das gemeinsam herauszufinden, indem ich ihn zuerst über die Schülerin oder den Schüler befrage, auch danach, ob ihm etwas im Umkreis, in der Familie, im Freundeskreis aufgefallen ist, ob er als Lehrer da etwas bemerkt hat. Ich bitte ihn dann, den Schüler direkt anzusprechen, ihm zu sagen, dass da eine Sorge besteht, um zu schauen, ob der Jugendliche bereit ist, mit mir ein Gespräch zu führen.

PiD: Und die Schüler, die selbst kommen - mit was kommen die?

B. Rotthauwe: Die kommen meistens mit familiären Problemen, Problemen mit Freundschaften, die gerade zerbrochen sind, da geht es darum, wie sie damit umgehen können, mit dem Liebeskummer. Was ganz häufig in Klassen vorkommt, ist, dass Schüler nicht in diesem Normenstrom mitfließen, oder auch, um dieses Wort mal in den Mund zu nehmen, dass sie gemobbt werden.

PiD: Das gibt es auch?

B. Rotthauwe: Ja, das gibt es häufig, was wir meist gar nicht so mitbekommen, weil diese Art der Bedrängung, des Druckmachens und Ausgrenzens außerhalb des Unterrichtsgeschehens passiert. Man merkt es an Verhaltensweisen, und da geht es dann darum zu schauen, wie man die betreffende Person stärken kann, dass sie sich diesem Druck auch entgegenstellen kann.

PiD: Wie häufig sind Sie damit konfrontiert in Ihrer Beratungstätigkeit?

B. Rotthauwe: Wenn man das mal auf ein Jahr überträgt, dann sind das mehr als zehn Fälle, leichtere und schwerere. Aber leicht und schwer ist ja nicht das Thema, sondern wie leidend sich jemand da fühlt. Und dann ist für mich die Frage wichtig, wie kann ich den nun stärken. Das ist mein Wunsch, mein Ziel ist es jemanden zu stärken. Wenn es sich jedoch um krasse Ausgrenzung von den anderen handelt, dann müssen andere Verfahren greifen.

PiD: Das heißt, dass Sie dann auch intervenieren?

B. Rotthauwe: Das ist ganz klar. Dann heißt es: So geht das nicht. Denjenigen, die das machen, müssen Grenzen gesetzt werden, auch mal bis hin zu Schulverweisen. Das heißt, dass ich dann meine Schulleiterin einschalte und sage: „Sie müssen da aber absolut tätig werden.” Das greift dann, wenn jemand geschützt werden muss.

PiD: Welche weiteren Probleme haben Schülerinnen und Schüler?

B. Rotthauwe: Das sind einmal Realitätsstörungen. Was ich damit meine: Dies sind Jugendliche, die Schwierigkeiten haben, die Ursachen oder zumindest eine Mitverantwortung wahrzunehmen. Sie meinen, ihr Tun nicht zu verantworten zu haben. Viele von ihnen fallen durch Unruhe, Konzentrationsstörungen in hohem Maße, Interesselosigkeit, Verhaltensauffälligkeiten auf. Das sind Probleme, die das Unterrichten für Lehrer anstrengend machen, weil es nicht nur ein Schüler ist, den man auffangen und begleiten müsste. In einer großen Klasse sind es ca. vier bis fünf solcher auffälligen Schüler.

PiD: In diesem Heft geht es um die Magersucht. Wie ist das aus Ihrer Sicht: Sind Sie mit Essstörungen wie der Magersucht an Ihrer Schule konfrontiert? Fällt Ihnen das auf? Oder gibt es das gar nicht an Ihrer Schule?

B. Rotthauwe: Es fällt uns allen sehr auf. An meiner Schule reden wir gemeinsam oft darüber und entwickeln gemeinsam Strategien, etwas gegen die Essstörungen zu tun. Z. B. bitten wir den Kollegen im Sportunterricht, etwas zu sagen, wenn eine Schülerin immer dünner wird.

PiD: Haben Sie eine Wahrnehmung dafür, wer zu dünn ist?

B. Rotthauwe: Ja. Und wir überprüfen, wer könnte diese Wahrnehmung bestätigen. Ein gutes Beispiel ist das Landschulheim, oder in bestimmten Fächern wie Biologie, Hauswirtschaft wird darauf eingegangen. Wenn wir Angst haben, dass sich unsere Wahrnehmung bestätigen könnte, gehen wir in besonderen Bereichen erneut darauf ein.

PiD: Sprechen Sie die Schülerin dann an?

B. Rotthauwe: Einerseits sprechen wir die Schülerin an, andererseits sind es oft die engen Freundinnen, die sich sorgen, und die dann ihre Vertrauenslehrer ansprechen bzw. zu mir kommen.

PiD: Reagiert ein betroffenes Mädchen positiv, wenn sie angesprochen wird? Haben Sie damit gute Erfahrungen gemacht?

B. Rotthauwe: Zunächst wird dieses Thema von den Betroffenen verdrängt. Wenn wir sehr besorgt sind, bieten wir Elterngespräche an. Bei diesem Treffen sprechen wir die Eltern direkt an, dass wir uns Sorgen machen. Anorexie ist für uns Lehrer ja auch sehr auffällig.

PiD: Wie häufig kommt das vor?

B. Rotthauwe: Es kommt in einem hohen Maße vor. Wir machen uns zunehmend Sorgen.

PiD: Könnte man von einer Zunahme sprechen?

B. Rotthauwe: Ja. Die Fälle, von denen wir denken, dass sie an einer Anorexie erkrankt sind, nehmen zu. Es gibt sicherlich sehr dünne Jugendliche - über die unterhalten wir uns ebenfalls, ob sich dieses Stadium in Richtung einer Magersucht verändert. Meiner Meinung nach hat die Magersucht zugenommen. Unser Kollegium hat an einer Fortbildung einer Organisation teilgenommen, die in diesem Bereich spezialisiert ist. Besprochen wurden Vorgehensweisen, Unterbringungsmöglichkeiten, Einbindung von Eltern und Hausärzten. Auslöser war der Todesfall einer 16-jährigen Schülerin durch Magersucht. In diesem Fall haben wir die Eltern durch Gespräche unterstützt.

PiD: Wie verhält es sich bei der Bulimie? Liegt diese Essstörung ebenfalls in Ihrer Wahrnehmung?

B. Rotthauwe: Leider ist das nicht so offensichtlich für uns Laien. Wir versuchen, darauf zu achten.

PiD: Könnten Sie sich vorstellen, für diese Erkrankungen mehr Hilfe von uns Psychotherapeuten und Medizinern zu bekommen? Sollten wir gerade bei diesen Problemen mehr in die Schulen gehen?

B. Rotthauwe: Ich würde mir das sehr wünschen - ich denke, dass ich hier für meine Kolleginnen und Kollegen ebenfalls sprechen kann. Wichtig wäre für uns z. B., wie wir eine Bulimie erkennen können, welche kompetenten Ansprechpartner außerhalb der Schule wir hinzuziehen können, wie wir die Eltern stärker einbinden können.

PiD: Wäre es denkbar, dass Psychotherapeuten zu Ihnen in die Schule kommen und z. B. Beratungsgespräche anbieten?

B. Rotthauwe: Möglich wäre dies im Rahmen eines Elternabends, um den Fokus nicht auf eine bestimmte Schülerin bzw. Familie zu lenken. Ich würde dies sehr begrüßen. Er wäre gut, mehr zu informieren, aufzuklären.

PiD: Haben Sie aus Ihrer Sicht eine Idee, warum Essstörungen zunehmen?

B. Rotthauwe: Ich meine, dass hier die Bilder von den Models als so genannte Vorbilder greifen, dass eine Person darüber definiert wird, wie schlank sie ist, und darüber auch alle anderen Qualitäten definiert werden. Es geht um Orientierungen der Jugendlichen. Ich denke, dass wir ebenfalls von einem Nachahmereffekt sprechen können, dass es sehr schick ist sehr dünn zu sein. Sie versuchen sich zu übertrumpfen, wer es am längsten aushält nichts zu essen, „ich habe heute nur einen Apfel gegessen”. Dann kommt der Zeitpunkt, an dem sich dieses Verhalten verselbständigt, es kein zurück zu einem normalen Essverhalten gibt. In diesem Stadium fangen sie dann an „zu mauern”. Das bedeutet, sie sind nicht mehr offen für Gespräche.

PiD: Hat sich das Essverhalten von Jugendlichen generell geändert in den letzten zehn Jahren?

B. Rotthauwe: Das gemeinsame Essen, auch zu Hause, tritt immer mehr in den Hintergrund, weil es nicht mehr stattfindet. Die soziale Funktion des gemeinsamen Essens wird verdrängt, das Essen findet lediglich auf die Schnelle statt.

PiD: Wie verhält es sich mit dem Essen in der Schule?

B. Rotthauwe: Die Tendenz ist die, dass das Essen nicht mehr von zu Hause mitgebracht wird, sondern in der Schule gekauft wird. Das gilt auch für das Mittagessen - und das ist dann meist sehr kalorienreich.

PiD: Wenn wir jetzt noch einmal überhaupt zu den Jugendlichen in unserer Gesellschaft kommen. Es heißt ja immer, dass die Kinder und Jugendlichen in unserer Gesellschaft sich zum Negativen hin verändert haben und verändern. Salopp gesagt, dass sie immer egoistischer werden, aggressiver etc. Wie sehen Sie das aus Ihrer Perspektive als Beratungslehrerin, mit Ihren Erfahrungen in den letzten 20 Jahren. Was ist da anders geworden?

B. Rotthauwe: Ich glaube schon, dass die Jugendlichen sich verändert haben. Zum einen im Bereich der Gewaltbereitschaft, dass diese Grenze schneller überschritten wird oder gar nicht mehr wahrgenommen wird. Aber auch überhaupt das Gespür für die Grenze, „wann ist Schluss”, ist bei manchen kaum da. Das ist ein wichtiger Punkt bei unseren Pädagogischen Klassentagen, dass jemand lernt zu sagen: „Stopp! Das will ich nicht!”. Das üben wir richtig ein. Wie kann ich „Stopp” sagen, in welchem Ton und in welcher Sprache, wenn ich etwas nicht mehr will. Was mir da einfällt: Das ist ja irgendwie auch ein Thema der Magersüchtigen - sie sagen dann ja wieder extrem früh und schnell „Stopp” zu dem, was sie eigentlich wollen. Auch sie müssten lernen, im richtigen Ton und in der richtigen Sprache „Stopp” zu sagen, wenn sie etwas nicht mehr wollen, und sollten das nicht nur über die Essensverweigerung zum Ausdruck bringen.

PiD: Das ist ein guter Gedanke, das ist ja auch eine Art Gewalt gegen sich selbst, diese extreme Form der Verweigerung durch das Hungern. Glauben Sie denn, dass Gewalt insgesamt in den Schulen zugenommen hat? Es wird häufig gesagt, dass mehr Kinder gewalttätig geworden sind und dass die Formen der Gewalt anders geworden sind.

B. Rotthauwe: Ich glaube, dass die Gewalt an sich anders geworden ist. Sie ist grenzüberschreitender geworden, ich habe das Bild vor Augen, dass jemand am Boden liegt und dann immer noch nachgetreten wird. Ja. Die Gewalt ist grenzüberschreitender geworden.

PiD: Aber sind auch mehr Kinder gewalttätig geworden?

B. Rotthauwe: Das kann man so nicht mit „Ja” oder „Nein” beantworten. Ich denke, dass es Situationen gibt, mit denen Jugendliche überhaupt nicht mehr fertig werden, und sie haben nicht mehr gelernt, Konflikte in irgendeinem Bereich auszutragen und zu sagen: „So, jetzt ist Schluss.” Die Konfliktbewältigung ist schwieriger geworden. Ich denke aber auch, dass Jugendliche heute mehr Konflikte in ihrer Schulzeit bewältigen müssen, als ich zu meiner Schulzeit. Was auf sie einstürmt, was sie verarbeiten müssen, wo sie Verantwortung übernehmen. Das ist viel mehr geworden. Und sie haben weniger Orientierung. Erwachsene leben ihnen das nicht mehr so vor, oft ist die Familie sehr belastet durch die eigenen Lebensbedingungen und Lebensführungen. Die Jugendlichen können oft nicht begleitet werden, da die Erwachsenen es selber schwer haben, selbst in schwierigen Lebenssituationen stecken, so dass sie sich mit der Begleitung von Jugendlichen überfordert fühlen. Und wir Erwachsene denken dann: „Ach, der schon wieder mit seinen Problemen.” Das sind wirkliche Probleme von Jugendlichen. In den Familien gibt es massive Probleme wie Arbeitslosigkeit, Trennungen, und da fühlen sich viele Jugendliche völlig alleine gelassen. Was mir gerade einfällt: Jugendliche zu begleiten, deren Eltern schwer erkrankt sind, z. B. an Krebserkrankungen, und die wissen, dass es kein langer gemeinsamer Lebensweg mehr sein wird, auch das ist eine gar nicht so seltene Aufgabe für Beratungslehrer. Es entstehen Fragen, z. B. wie geht man als Familie damit um und wie bekomme ich als Jugendlicher das hin.

PiD: Offenbar haben Jugendliche mehr und komplexere Dinge zu bewältigen und sind früher eigenverantwortlich.

B. Rotthauwe: Sie tun diese frühe Verantwortlichkeit für das, was sie getan haben, aber auch eher beiseite. Es kommen häufig Sprüche wie „Ach, die anderen machen das doch auch”, „Ach, der andere hat mich doch geärgert”. Es wird weg von sich selbst geschoben, dass man damit nicht so viel zu tun hat.

PiD: Gibt es denn etwas, was sich positiv bei den Jugendlichen verändert hat? Gibt es etwas was sie mehr können, als unsere Generation?

B. Rotthauwe: Ich finde, dass sie ein Stück neugieriger sind als wir es waren, sie machen viel mehr Erfahrungen, auch wenn sie irgendwohin fahren, den Horizont erweitern, sie sind dadurch auch mutiger und selbständiger. Was ich eigentlich auch toll finde: diese Selbständigkeit, diese Neugier was auszuprobieren.

PiD: Hat sich im Umgang miteinander etwas geändert?

B. Rotthauwe: Sie gehen lockerer, selbstverständlicher miteinander um, nicht so verkrampft. Das finde ich sehr positiv. Es gefällt mir sehr an ihnen, dass sie so „vorwärts preschen”.

PiD: Die allgemeine Jammerei über die Jugendlichen, was man so hört in der Presse und der Öffentlichkeit, würden Sie so nicht unterstützen?

B. Rotthauwe: Es ist ein Rundumschlag, der da stattfindet. Das müsste viel mehr differenziert werden. Natürlich sind Jugendliche anstrengend, auch anstrengend dahingehend, sie auf ihrem Weg zu begleiten, zu erleben, was möglich ist und was nicht.

PiD: Sind Lehrer ausreichend auf diese Veränderungen vorbereitet?

B. Rotthauwe: Sie tun sich schwer und sind nicht vorbereitet. Denn wir sind alle ausgebildet in Fachkompetenzen, aber nicht in Kompetenzen, um schwierige Situationen zu meistern. Ich denke, dass Lehrer da alleine gelassen werden. Es heißt: „Ihr könnt das nicht, macht das doch mal, wieso tut ihr das nicht?” aber dafür benötigen Lehrer eine gute Unterstützung.

PiD: Dafür haben Sie ein Programm entwickelt?

B. Rotthauwe: Ja, wir haben ein Programm für ganze Schulklassen entwickelt, in dem wir zuerst einmal von einer Wertschätzung der Jugendlichen ausgehen. Das ist etwas, was Lehrer immer wieder vermissen lassen, andererseits aber auch selbst bei Schülern vermissen. Meine Kollegin Christina Orth-Dobler und ich, sie ist ebenfalls Beratungslehrerin, wir beide haben das Konzept entwickelt. Kennen gelernt haben wir uns über unsere Beratungstätigkeit an den Schulen. Wir stellten dabei fest, dass zunehmend Anfragen an uns herangetragen wurden, die nicht nur einzelne Schüler, sondern den ganzen Klassenverband betrafen. Daraus entwickelte sich die Idee, ein gemeinsames Konzept zur Stärkung der Klassengemeinschaft zu erstellen. Schulen bzw. Klassen können uns jetzt anfordern. In Vorgesprächen klären wir, welche Themen, welche Wünsche und Anliegen mit der Klasse bearbeitet werden sollen. Wir bereiten diesen Tag individuell - je nach Anliegen - vor und gehen dann mit den entsprechenden Materialien in die Klasse. Die Klassenlehrer sind ebenfalls anwesend, weil sie das Erarbeitete mit den Klassen weiterführen müssen.

PiD: Können Sie das Programm noch genauer erläutern?

B. Rotthauwe: Wir arbeiten mit ganzen Klassen, und zwar zur Stärkung des sozialen Klimas, zur Förderung der Gruppenentwicklung und auch mit dem Ziel, dass die Schüler lernen, mit schwierigen Situationen umzugehen, z. B. Ausgrenzungen einzelner Schüler. Es gibt immer Einzelgänger in der Klasse. Da müssen wir dann genau hinschauen: Möchten die Jugendlichen das so oder nicht? Denn es gibt ja auch Schüler, die gerne für sich sind. Es geht darum, das Bewusstsein für individuelle Unterschiede zu schaffen und sich untereinander Respekt und Wertschätzung entgegenzubringen. Das ist eine grundlegende Voraussetzung, um Ausgrenzungen in der Klasse entgegenzuwirken.

PiD: Haben Sie das Konzept und Programm schriftlich ausgearbeitet?

B. Rotthauwe: Ich habe mal ein Programm mitgebracht, es ist lediglich eine Kurzausschreibung, weil es immer wieder individuell mit den vorhandenen Bausteinen auf eine Klasse zugeschnitten wird.

PiD: Sie passen das Programm sozusagen immer neu an? Wir oft werden Sie angefordert?

B. Rotthauwe: Wir passen das an mit den Grundbausteinen und Methoden, die wir anwenden. Nach unserem Programm besteht inzwischen so eine starke Nachfrage, dass wir nicht mehr jedem Anliegen nachkommen können. Wir sind ausgebucht bis Oktober 2004. Wenn jetzt jemand zu uns kommen würde, könnten wir die Klasse nicht mehr begleiten. Wir würden dann ein Angebot für die Lehrer erstellen, um denen eine Hilfestellung zu geben, wie sie sich gemeinsam mit der Klasse auf den Weg machen können.

PiD: Bei den pädagogischen Klassentagen: Wer ist da alles zusammen?

B. Rotthauwe: Die Klasse - und der Klassenlehrer muss dabei sein. Die Klassenlehrer werden miteingebunden. Das bedeutet, dass wir sie bei manchen Übungen einladen mitzumachen. So haben die Lehrer und die Schüler die Chance sich gegenseitig ganz anders zu erleben.

PiD: Wie kommt das bei den Schülern an?

B. Rotthauwe: Es kommt gut an, weil zum einen die Routine des Schulalltags durchbrochen wird und zum anderen Unbekannte zu ihnen kommen, die sie anders sehen, sie anders ansprechen, nicht mit dem „Ach das ist der und jener …”. Wir kennen die Schüler ja nicht. Wir wissen zwar aus den Vorgesprächen etwas über die Klasse, aber wir sind nicht eingeschossen auf eine bestimmte Verhaltensweise gegenüber einer Klasse oder auf bestimmte Schüler.

PiD: Und die Lehrer mögen das auch?

B. Rotthauwe: Ja, die sind sehr angetan. Auch deswegen, weil wir ihnen anbieten, sie weiterzubegleiten. Wenn wir so einen Tag gestalten, heißt das auch, dass sie sich darauf einlassen weiterzumachen. Dafür bieten wir den Lehrern Nachgespräche an, wie sie weitergehen können. Und wenn sie möchten, kommen wir zu einem bestimmten Themenkreis, der sich innerhalb eines solchen Tages entwickeln kann, später noch einmal in die Klasse.

PiD: Wird das denn offiziell unterstützt?

B. Rotthauwe: Vom Oberschulamt wird das ausgeschrieben. Dadurch, dass dieses Programm so erfolgreich ist, wird das auch gewünscht und ist immer wieder im Angebot.

PiD: Bei Interesse kann man Sie dann ansprechen oder anschreiben?

B. Rotthauwe: Ja. Wir veranstalten im März 2004 eine Fortbildung von zweieinhalb Tagen für interessierte Lehrer, die das dann selbständig ansatzweise in ihren Klassen ausprobieren.

PiD: Sind Sie der Meinung, dass Bedarf an professioneller bzw. psychosozialer Beratung an den Schulen besteht?

B. Rotthauwe: Es besteht ein großer Bedarf, der allgemein an den Schulen nicht abgedeckt wird.

PiD: Wie hoch schätzen Sie den Bedarf an Beratungslehrern ein?

B. Rotthauwe: Für Frau Orth-Dobler und mich kann ich sagen, dass wir gerne einen weiteren Kollegen/Kollegin zur Seite hätten. Weil wir in einem großen Netzwerk mit anderen Stellen wie dem Jugendamt, Hausaufgabenbetreuung, Jugendhilfe etc. tätig sind.

PiD: Das heißt, dass Funktionen der Familie, Mentorenfunktionen, Bewältigen von Krisensituationen von der Schule übernommen werden?

B. Rotthauwe: Diese Funktionen müssen von der Schule zunehmend übernommen werden. Das liegt daran, dass beide Eltern oft arbeiten müssen.

PiD: Könnte Ihr Konzept helfen das aufzufangen?

B. Rotthauwe: Unser Konzept versucht diese Veränderungen mitzutragen. Uns ist es wichtig Jugendliche auf ihrem Weg hin zum Erwachsenen zu begleiten.

PiD: Frau Rotthauwe, wir danken Ihnen sehr für das Gespräch.

Korrespondenzadresse

Barbara Rotthauwe
Christina Orth-Dobler

Schulpsychologische Beratungsstelle

Kaiser-Joseph-Straße 247

79098 Freiburg

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