PiD - Psychotherapie im Dialog 2004; 5(2): 101-102
DOI: 10.1055/s-2003-814944
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Täter

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Publication Date:
28 May 2004 (online)

Psychotherapeuten und vor allem Psychotherapeutinnen arbeiten gerne mit Opfern. Opfer erwecken (zumindest anfangs) Mitleid und Empathie. Psychotherapeuten und vor allem Psychotherapeutinnen arbeiten ungern mit Tätern. Weil Täter auch ungern mit Psychotherapeuten arbeiten.

Die Debatten über Trauma und Missbrauch haben die therapeutische Arbeit mit Opfern von Gewalt gerade in den letzten zwei Jahrzehnten sehr vorangebracht. Über die psychotherapeutische Arbeit mit Tätern ist sehr viel weniger zu hören. Das hat unterschiedliche Gründe und liegt sicherlich nur zu einem geringen Teil daran, dass viele Behandlungskonzepte und Therapieforschungen eher im englischsprachigen Ausland zu finden sind. Die Gründe sind vielfältig:

Es gibt eine zu geringe Zahl qualifizierter Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten für diesen Bereich der psychotherapeutischen Versorgung. Wir gehen davon aus, dass ausgebildete PsychotherapeutInnen für die ambulante und stationäre Arbeit über eine spezielle Zusatzqualifikation verfügen sollten. Viele gute Behandlungskonzepte scheitern an den institutionellen Rahmenbedingungen, vor allem im stationären Bereich. Durch die stationäre Isolation haben psychisch kranke Straftäter zum Beispiel kaum Möglichkeiten der Erprobung veränderten Verhaltens und des Umgangs mit veränderten Einstellungen unter realen Lebensbedingungen. Viele StraftäterInnen haben gerichtlicherseits Therapieauflagen, aber wenig oder keine intrinsische Motivation zu Veränderungen mit therapeutischer Unterstützung. Die Gesellschaft stellt Wegschließen vor Therapie und formt damit natürlich auch die Haltung der Therapeutinnen und Therapeuten.

Was brauchen Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen, um mit Tätern arbeiten zu können?

In erster Linie ertragen sie es „ungebetener Gast” zu sein. Sie verzichten auf Motivationsvorleistungen ihrer Patienten. Das geht oft nur durch Nutzung einer Gruppe anderer Täter, die sich untereinander „kein x für ein u vormachen lassen”. Sie sind entweder nicht zugleich Therapeut und Gutachter, oder aber sie schaffen in diesem Spagat Transparenz über ihre Doppelrolle und stehen dennoch als Begleiter an der Seite ihrer Patientinnen und Patienten. Dazu gehört auch die Bereitschaft, mit ihren Prognosen und Gerichtsberichten ein Stück Macht auszuüben. Sie wollen und können konfrontieren - die Täter mit ihrer Tat, zum Teil bis ins furchtbare Detail. Sie können innerlich den Menschen und seine Taten voneinander trennen - hinter dem groben Schläger steht nicht nur, aber eben auch das in seinem Stolz und seinem Sicherheitsbedürfnis verletzte und gekränkte große Kind. Sie mögen ihre Täter-Patienten zumindest ein bisschen. Nicht mehr, aber vielleicht auch nicht weniger als ihre anderen Patienten.

Die vorliegende Zeitschrift bietet Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ein breites Spektrum und vielfältige Zugänge zum Thema „Täter”. Wir wollen unsere Hauptansätze Verhaltenstherapie, Systemische Therapie/Familientherapie und Psychoanalyse hinsichtlich dieser Behandlungsansätze möglichst praxisnah reflektieren. Dabei wird - orientiert an besonderen Wirkfaktoren - der Gruppentherapie ein besonderer Stellenwert zukommen. Die bislang am meisten psychotherapierte Tätergruppe, nämlich die Sexualstraftäter, werden in mehreren Beiträgen im Mittelpunkt stehen. Wir stellen weiter spezielle Trainings in der Arbeit mit aggressiven Jugendlichen vor. Mit dem Thema Prognosebegutachtung wollen wir in der Rubrik „Diagnostik” zu einer Versachlichung einer derzeit hitzig geführten fachlichen und politischen Diskussion beitragen. Dass es auch in den Reihen der medizinischen, psychosozialen und psychotherapeutischen Berufe Täter gibt, ist nicht neu. Somit gehört auch diese Auseinandersetzung in dieses Heft.

Unser Standpunkteartikel ist diesmal ein Interview und beschäftigt sich mit den vorliegenden Studien über empirische Wirkfaktoren und daraus abgeleiteten Konzepten der Therapie mit Täterinnen und Tätern. Lesen Sie selbst, was nach Meinung von Peter Fiedler machbar sein könnte, welche Behandlungskontexte notwendig wären und wie dies mit unserer fachlichen und politischen Realität in Einklang zu bringen ist.

In weiteren Interviews wollen wir Betroffene zu Wort kommen lassen: eine Täterin, die über die Tat und deren Hintergründe sowie ihre Behandlung in der Klinik berichtet, und den Bürgermeister einer kleinen Stadt, die von einer Aufsehen erregenden Tat erschüttert wurde. Lesen Sie, welche offensiven Konsequenzen er und die Menschen des Ortes - gegen viele Widerstände - aus der Tat zogen.

Es gibt noch eine andere Seite, wenn wir über die psychotherapeutische Arbeit mit Tätern sprechen. Im Münsterland ist in diesen Tagen auf Plakaten am Straßenrand zu lesen: „Wir haben Angst um unsere Kinder”, „Wer fragt nach den Opfern?”. Der Hintergrund: An eine bestehende etablierte und in Fachkreisen sehr angesehene psychiatrische Klinik soll eine forensische Abteilung angegliedert werden, mit modernsten Sicherungen und modernen psychotherapeutischen Konzepten. Aber einige Bewohner des angrenzenden Dorfes haben eine Bürgerinitiative gegründet, um den Bau der forensischen Klinik zu verhindern. Die Sorge einiger Anwohner: Irgendwann in der Zukunft könnte ein dort untergebrachter Sexualstraftäter ausbrechen und ein Kind vergewaltigen oder ermorden.

Wir kennen keine Prozentzahlen, sind uns aber bewusst, dass es im Zusammenleben mit schwer psychisch kranken Menschen ein Restrisiko gibt. Und dieses Restrisiko bestimmt heute gerade in der forensischen Psychiatrie weit gehend den Behandlungsplan. Aber wie groß ist dieses Restrisiko wirklich im Vergleich zu den Risiken, denen unsere Kinder in der Welt ausgesetzt sind, in der sie leben? In vielen in der Presse beschriebenen „Kinderfällen” sind die Kinder nicht von forensischen Patienten gequält und ermordet worden. Wo blieben da die Bürgerinitiativen? Hunderttausende von Kindern (laut ARD vom 4.4.2004) werden in ihrer unmittelbaren Umgebung geschändet, missbraucht, gequält, geschlagen. Und die Masse derjenigen, die Kindern Gewalt antun, läuft frei herum. Es sind nicht zuletzt diejenigen, bei denen Kinder Schutz suchen. Wo sind da die Plakate an den Straßenrändern gegen die Gewalt in unserer Umgebung? Sucht sich unsere Gesellschaft, suchen sich hochrangige Politiker die Schwachen als Zielscheibe aus, die psychisch kranken und gestörten Menschen?

Die Taten sind nicht entschuldbar, und es gibt therapieresistente Täter, wenngleich diese in der deutlichen Minderheit sind. Und deshalb müssen wir uns der Sorgen und Ängste der Menschen im Umfeld forensischer Kliniken annehmen. Wir können aber nicht nachvollziehen, dass bereits von Opfern gesprochen wird, wenn noch nicht einmal der Bau der forensischen Klinik begonnen hat. Es darf nicht wieder Angst vor psychisch kranken Menschen geschürt werden.

Es gibt empirische Belege dafür, dass viele der Täter, mit denen sich diese Ausgabe der PiD beschäftigen wird, auch Opfer gewesen sind. Die Gesellschaft trägt zum Teil mit die Verantwortung, dass sie Opfer und schließlich zu Tätern wurden.

Wir fordern Menschlichkeit. Und diese Menschlichkeit kann sich in humanen stationären Lebensbedingungen, vor allem in effektiven Behandlungskonzepten, in der Trennung von Behandlung und Begutachtung und vor allem in einer annehmenden therapeutischen Haltung niederschlagen, die hilft, psychisch kranke Menschen, die sexuell missbraucht, vergewaltigt und getötet haben, auf einem schweren therapeutischen Weg zu begleiten.

Zurück zu dieser Ausgabe von PiD. Dass es diesmal keine Rubrik BookLinks gibt, liegt daran, dass wir zum einen mehrere Fachbücher, die sich auch mit unserem Schwerpunktthema beschäftigen, bereits in einer der früheren Ausgaben von PiD vorgestellt haben. Zum anderen gibt es zu wenige gute Bücher für einen breiten Überblick. Achten Sie daher bitte auf die sehr spezifischen Literaturverzeichnisse in unseren Artikeln.

Steffen Fliegel

Jochen Schweitzer

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