Gesundheitswesen 2004; 66(4): 240-245
DOI: 10.1055/s-2004-812933
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Nehmen Zwangsunterbringungen psychisch Kranker in den Ländern der Europäischen Union zu?

Is There an Increase in the Number of Compulsory Admissions of Mentally III Patients in European Union Member States?H. Dreßing1 , H. J. Salize1
  • 1Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim
Die Studie wurde von der Europäischen Kommission gefördert (Health and Consumer Protection Directorate/Public Health - Grant Agreement No. SI2.254882 2000CVF3 - 407). Unser spezieller Dank geht an die Experten aus den 15 EU-Mitgliedstaaten, die in der Studie mitgearbeitet haben.
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
21. April 2004 (online)

Zusammenfassung

Ziel der Studie: Im Rahmen einer von der Europäischen Kommission geförderten Studie wird die zeitliche Entwicklung der Unterbringungsraten (Zahl der Zwangseinweisungen pro 100 000 Einwohner) und -quoten (Anteil der Zwangsweisungen an allen stationärpsychiatrischen Aufnahmen) psychisch Kranker in den EU-Mitgliedstaaten analysiert. Methodik: Die Informationsgewinnung erfolgte mithilfe eines umfangreichen Fragebogens, der von Experten in den jeweiligen Ländern ausgefüllt wurde. Ergebnisse: Zwangsunterbringungsquoten und Zwangsunterbringungsraten unterscheiden sich in den EU-Mitgliedstaaten erheblich. Die Spanne der Zwangsunterbringungsraten reicht von 6 pro 100 000 Einwohner (Portugal) bis 218 pro 100 000 Einwohner (Finnland) und die Zwangsunterbringungsquoten reichen von 3,2 % (Portugal) bis 30 % (Schweden). In einigen Ländern findet sich ein deutlicher Anstieg der Zwangsunterbringungsraten in den letzten Jahren, wohingegen in keinem der Länder ein relevanter Anstieg der Zwangsunterbringungsquoten festgestellt werden konnte. Schlussfolgerung: Die relativ stabilen Zwangsunterbringungsquoten deuten darauf hin, dass es nicht zu einer tatsächlichen Zunahme von Zwangsmaßnahmen in der psychiatrischen Praxis gekommen ist. Zunehmende Zwangsunterbringungsraten scheinen vielmehr eine veränderte psychiatrische Behandlungspraxis mit kürzeren Verweildauern und häufigeren Wiederaufnahmen widerzuspiegeln

Abstract

Purpose: In a study subsidised by the European Commission, the course of compulsory admission rates (admissions per 100,000 population) and compulsory admission quotas (proportion of annual compulsory admissions of all admissions to psychiatric inpatient treatment) of mentally ill patients from 15 European member states was analysed. Method: Information was gathered by means of a detailed questionnaire filled in by experts from all EU-Member States. Results: Compulsory admission rates and compulsory admissionquotas differ significantly across the EU member states. Compulsory admission rates range from 6 (Portugal) to 218 (Finland) per 100,000 population and compulsory admission quotas vary from 3.2 % (Portugal) to 30 % (Sweden). In some member states a significant increase of compulsory admission rates was detected without a significant increase of compulsory admission quotas. Conclusion: The relatively steady compulsory admission quotas suggest no real increase of coercion regarding admission to psychiatric inpatient care. Increasing compulsory admission rates rather reflect changing overall patterns of providing psychiatric service, tending towards decreased length of hospital stays, and more frequent readmissions.

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1 Österreich: Erhebungsjahr 1999; Belgien: Erhebungsjahr 1998, als Zwangsunterbringung gezählt ist nur der Status bei Aufnahme. Patienten deren Status wechselt von zunächst freiwilligen zu zwangsuntergebrachten Patienten sind nicht berücksichtigt. Dänemark: Erhebungsjahr 2000, als Zwangsunterbringung gezählt ist nur der Status bei Aufnahme. Patienten deren Status wechselt von zunächst freiwilligen zu zwangsuntergebrachten Patienten sind nicht berücksichtigt Finnland: Erhebungsjahr 2000, miterfasst sind auch Unterbringungen zur Beobachtung bis zu 4 Tagen. Frankreich: Erhebungsjahr 1999; Deutschland: Erhebungsjahr 2000, Unterbringungsverfahren, die bei den Vormundschaftsgerichten anhängig sind (sowohl Verfahren nach Unterbringungsgesetzen der Länder als auch Verfahren nach dem Betreuungsgesetz). Es ist von einer Genehmigungsquote von etwa 90 % auszugehen, der Rest erledigt sich z. B. durch Zustimmung des Patienten oder ablehnende Gerichtsentscheidungen [18]. Für die Berechnung der Unterbringungsquote wurde deshalb eine Genehmigungsquote von 90 % zugrundegelegt. Irland: Erhebungsjahr 1999; Luxemburg: Erhebungsjahr 2000, die Unterbringungsquote ist berechnet auf die Gesamtzahl aller Aufnahmen für das Krankenhaus in Luxemburg, das als einziges für Zwangsaufnahmen akkreditiert ist. Niederlande: Erhebungsjahr 1999; Portugal: Erhebungsjahr 2000 Schweden: Erhebungsjahr 1998 Großbritannien: Erhebungsjahr 1999, erfasst ist nur England, Patienten deren Status wechselt von zunächst freiwilligen zu zwangsuntergebrachten Patienten sind nicht berücksichtigt.

PD Dr. Harald Dreßing

Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J 5

68159 Mannheim

eMail: dressing@as200.zi-mannheim.de