Suchttherapie 2004; 5(1): 1
DOI: 10.1055/s-2004-812937
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

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EditorialMichael  Krausz
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Publication Date:
21 September 2005 (online)

Mit Behandlungssystemen und Interventionsstrategien scheint es fast so wie mit der Psyche des Menschen: Die zugrunde liegenden Motive des Handelns aufzuspüren, ist mühsame Arbeit.

Erst wenn man sich über sie klar geworden ist, wird eine systematische (vielleicht sogar von einer Theorie geleitete) weitere Entwicklung möglich.

Wie bei der psychischen Entwicklung des Menschen erfolgt ­diese auch selten systematisch und theoriegeleitet, eher im Gegenteil. Im Suchthilfesystem findet eine intensive Debatte auf Weiterbildungen und Konferenzen oder in Publikationen hauptsächlich über Therapiemethoden statt. Der systemische Aspekt bleibt wenigen Verbandsfunktionären vorbehalten, deren Aufgaben Lobbyarbeit und Fachpolitik vor diesem Hintergrund sind.

Ausgangspunkt der eigenen Positionierung ist das System, so wie es ist. An seine Irrationalitäten haben sich die meisten Beteiligten gewöhnt. Das hat mit Selbstlegitimation, mit Ressourcen­sicherung im Versorgungssystem, mit Bequemlichkeit, Resigna­tion und anderem zu tun. Der eigentliche fachliche Auftrag, wie ihn der Lehrbuchleser offeriert bekommt, die Milderung von Leiden und die effektive Therapie und Rehabilitation von Erkrankungen, kann da schon mal in den Hintergrund geraten. Das gilt nicht nur für die Suchttherapie, sondern für die Medizin insgesamt.

Mit der Veränderung von Systemparametern, z. B. der Bezahlung, ist die „Top-Diagnostik oder Behandlung” von heute schnell die Ausnahme von morgen. Das zeigt das Rational der Entwicklung aus der umgekehrten Perspektive.

In einer Situation, in der die Weiterentwicklung therapeutischer Möglichkeiten durch neue Interventionen und die ökonomisch induzierte Neuordnung des Gesundheitssystems aufeinander treffen, gibt es mehrere Gründe, die Frage nach den Triebkräften des Systems, den Knoten im Koordinatensystem, zu stellen. Ein Risiko besteht darin, dass die ökonomische Rationalität die allein maßgebliche wird - wenn nicht die Sicht der Nutzer einbezogen wird.

So wertekonservativ viele Mitarbeiter des Hilfesystems auch sind, sie haben doch häufig eine höhere inhaltliche und auch persönliche Identifikation mit ihren Patienten und deren Anspruch auf eine bessere als nur ausreichende Behandlung.

Ihre berufliche Zukunft im Allgemeinen ist außerdem aufs Engste mit der Weiterentwicklung des Systems verbunden. Zusammen mit den Patienten und deren Angehörigen haben sie die stärksten Interessen an einer patientenorientierten Logik des Hilfesystems.