Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/s-2004-813154
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Kommentar zu „Die postnatale Entwicklung des frontalen Kondylen-Gelenkachsenwinkels C0/C1”
Commentary to: The Postnatal Development of the Frontal Axial Angle of the Occipitoatlantal ComplexPublication History
Publication Date:
02 June 2004 (online)
Dass Kinder und Säuglinge keine kleinen Erwachsenen sind, ist wohl bekannt. Und doch gibt es noch viele unbekannte morphologische und funktionelle Besonderheiten des heranwachsenden Kindes, die noch entdeckt und verstanden werden wollen. Dies gelingt umso besser, je deutlicher man sich den aktuellen Paradigmenwechsel der Entwicklungsneurologie vor Augen führt. Dieser fordert uns auf, den Säugling nicht länger rein teleologisch als die unreife Form eines endgültig reifen Erwachsenen zu betrachten, sondern ihn als einen Menschen zu begreifen, der zu jeder Entwicklungsstufe mit genau den hierfür richtigen Formen und Funktionen ausgestattet ist, so dass er optimal die anstehenden Aufgaben erfüllen kann.
Die von Sacher erhobenen radiomorphologischen Daten über die reifungsabhängigen Veränderungen des frontalen Kondylen-Gelenkachsenwinkels ergeben einen interessanten Einblick in die biomechanischen Veränderungen der oberen HWS und des Basiokziputs vom Säugling bis zum Schulkind. Wie von den Autoren betont, ist für die physiologische Geburt eine ausgeprägte Kopfüberstreckung wichtige Voraussetzung, die offensichtlich durch einen flachen Kondylen-Gelenkachsenwinkel begünstigt wird. Inwieweit dadurch ein erhöhtes Subluxationsrisiko der neonatalen HWS und des kraniozervikalen Überganges abgeleitet werden darf, ist als spekulativ einzuschätzen. Neben biomechanischen Aspekten spielen bei der Kompensation von Geburtstraumata auch muskuläre und fasziale Strukturen eine Rolle. Band- und Muskelapparat beim Neonaten per se als „instabil” zu bezeichnen ist bereits eine Bewertung nach dem überholten Schema, die Dinge an den Erwachsenenverhältnissen zu bemessen. Zunächst ist eigentlich nur festzustellen, dass das neonatale HWS-System in bestimmten Ebenen beweglicher ist. Dies kann Chance und Dilemma zugleich sein.
Im Verlauf des ersten Lebensjahres müssen Knochen, Bindegewebe und Muskeln der HWS sich so differenzieren, dass in der Vertikalen harmonische und fein dosierte Kopfdrehungen und -neigungen mit großem Freiheitsgrad aus der Mittelstellung heraus möglich werden. Dies garantiert eine bestmögliche Einstellung unserer Sinnesorgane zur Reizquelle und Raumwahrnehmung. Das biomechanische Korrelat auf der atlantookzipitalen Gelenkebene ist gemäß Sacher die zunehmende Steilstellung im Kondylen-Gelenkachsenwinkel. Unter diesem plausiblen teleologischen Blickwinkel scheint sich ontogenetisch diese Entwicklung bewährt zu haben.
Trotz berechtigten Forschergeistes ist mit radiologisch erhobenen Daten vom reifenden Skelett Vorsicht geboten: Einmal publizierte Referenzdaten verleiten dazu, diese Methode im diagnostischen Alltag häufiger anzuwenden. Die Strahlenbelastung ist ethisch aber nur vertretbar, wenn sich daraus wesentliche diagnostische oder therapeutische Konsequenzen ergeben. Dies ist für die Röntgenaufnahme der HWS mit kraniozervikalem Übergang zum jetzigen Zeitpunkt sicher nur in Einzelfällen gegeben. Die Indikationsstellung einer Segmentationsstörung vom Typ Klippel-Feil beispielsweise ist eine seltene angeborene Störung der HWS. Es verwundert daher die große Zahl an radiologisch untersuchten kindlichen Halswirbelsäulen in der Arbeit von Sacher, deren retrospektive Auswertung hingegen legitim ist. Die hohe Zahl der Röntgenaufnahmen erklärt sich möglicherweise in der zunehmend erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber asymmetrischen Haltungsauffälligkeiten im Kindesalter und der zunehmenden Popularität des sog. KISS-Syndroms (kopfgelenkinduzierte Symmetriestörung). Blockaden, die eine asymmetrische Haltung begleiten oder verschlechtern können, sind allerdings über eine geschulte Palpation diagnostizierbar und bedürfen nur bei einer zusätzlichen („Plus”-)Symptomatik oder abnormer Persistenz trotz manueller Therapie einer radiologischen Abklärung.
Dr. Heike Philippi
Neuropädiatrie
Universitätskliniken
Langenbeckstraße 1
55131 Mainz
Phone: ++ 49/61 31/17-21 04
Email: philippi@kinder.klinik.uni-mainz.de