Klin Monbl Augenheilkd 2004; 221(7): 555-556
DOI: 10.1055/s-2004-813384
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Herr Doktor, wie viel sehe ich eigentlich?”

“Doctor, How Much Can I Really See?”H. Wilhelm1
  • 1Universitäts-Augenklinik Tübingen
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Publication Date:
26 July 2004 (online)

Jetzt wird eine Zahl erwartet. Mit „genug” oder „ziemlich wenig” wird sich der Patient kaum zufrieden geben. Die Zahl, die wir am häufigsten nennen werden, ist sein Visus, vorzugsweise in %. Das hat durchaus seine Berechtigung, denn der Visus spiegelt die subjektive Beeinträchtigung eines Sehbehinderten am besten wider [2]. Dennoch - 5 % oder 0,05, wie viel sagt das? Ein Zwanzigstel des normalen Sehvermögens? Ist nicht jemand mit Visus 0,05 und normalem Gesichtsfeld geradezu auf Rosen gebettet im Vergleich zum Retinitis-pigmentosa-Patienten mit 5° Gesichtsfeld und Visus 1,0? Ersterer kann eventuell ohne Begleitung eine Bergwanderung unternehmen, der RP-Patient muss froh sein, wenn er ohne zu stolpern aus der Augenarztpraxis findet.

Trotz dieser Widersprüche: Der Visus regiert die Augenheilkunde. Keine Untersuchung ohne Visus. Wie ist der Visus?, will der Kataraktchirurg nach dem Eingriff wissen und der Netzhautchirurg macht die Operationsindikation vom Visus abhängig. Auch der Neurochirurg wird nach dem Visus fragen, wenn er einen schwierigen chiasmalen Tumor entfernt hat, obwohl die Frage nach dem Gesichtsfeld berechtigter wäre. Der refraktive Chirurg muss sich am Visus sc messen lassen, der Visus entscheidet über den Rentenantrag oder über den Führerschein ebenso wie über den Erfolg der Amblyopiebehandlung. Allerdings - hier wird die Orthoptistin einhaken: Einzeloptotypen- oder Reihenoptotypen-Visus? Und schon haben wir ein Problem. Unser beinhartes Kriterium wird weich.

Wie viel sagt der Visus? Im Gutachtenbereich hat man dem Problem der allzu strikten Visusorientierung versucht, Rechnung zu tragen: Visus 0,05 bedeutet nicht 95 % Minderung der Erwerbsfähigkeit, sondern nur 80 %, und unser RP-Patient im obigen Beispiel hat 100 % und bekommt Blindengeld. Eine gute Korrelation von Visus und Behinderung existiert deshalb nur in der Statistik, im konkreten Fall kann alles ganz anders ausehen.

Was prüfen wir eigentlich, wenn der Patient uns DIN-gerechte Landolt-Ring-Öffnungen beschreibt, Studien-gerechte ETDRS-Tafeln entziffert oder einfach nur kleiner werdende Zahlen liest? Die optische Leistung des Auges? Ja, natürlich, aber diese können wir an Ort und Stelle optimieren, Brillengläser verwenden, die für ein scharfes Netzhautbild sorgen. Also prüfen wir die Auflösung der Netzhaut. Stimmt aber auch nicht ganz, denn immerhin können wir Sehzeichen konstruieren, die aufgrund der retinalen Rezeptordichte gar nicht erkannt werden dürften, die wir aber trotzdem sehen, wie etwa die Nonius-Zeichen. Also prüfen wir die Leistung eines Gesamtsystems. Dazu gehört aber weitaus mehr als nur Auge, Sehbahn und Sehrinde.

Wir untersuchten einmal einen Patienten mit einem großen links-temporo-parietalen Insult und einer entsprechenden rechtsseitigen homonymen Hemianopie. Er konnte gerade einmal Finger zählen, ein besserer Visus mit Zahlen oder Buchstaben war nicht zu erheben. Eine einseitige retrogenikuläre Sehbahnläsion vermindert allerdings nicht den Visus. Optische Medien, Netzhaut und Sehnerv waren in Ordnung. Auch konnte man sich mit dem Patienten problemlos unterhalten, er war intelligent und keineswegs Analphabet. Aber er hatte eine Alexie. Die Verbindung beider Sehrinden zum linken Gyrus angularis, dem „Hauptspeicher” für Begriffe und Wörter, war durch den Infarkt unterbrochen.

Wir testen mit unserer Visusprüfung demnach unser gesamtes Gehirn (siehe dazu den Beitrag von Manfred Fahle), und dieses kann viel mehr als einfach nur sehen. Unser visuelles System ist nämlich darauf optimiert, aus unvollständigen und schlechten Bildern valide Information zu extrahieren. In atemberaubender Geschwindigkeit analysieren wir komplexe Szenen, erkennen Gesichter, interpretieren ihre Mimik. Kein Computer kann uns auf diesem Sektor Paroli bieten. Unser Gehirn ist eben kein Computer. Wenn wir unter einer Kommode eine Sekunde lang 5 cm einer Schlange hervorschauen sehen, werden die meisten von uns sich hüten, darunter Staub zu wischen, auch wenn wir sie nur unscharf gesehen haben. Wir benutzen Fragmente und unscharfe Bilder, um unsere Umwelt zu analysieren.

Die Optik unseres Auges ist schlecht. „Wenn mir ein Optiker ein Instrument verkaufen wollte, welches solche Fehler hätte, so ist es nicht zu viel gesagt, dass ich mich vollkommen berechtigt glauben würde, die härtesten Ausdrücke über die Nachlässigkeit seiner Arbeit zu gebrauchen und ihm sein Instrument mit Protest zurückzugeben”, hat Helmholtz einmal gesagt. Unsere Augen machen nicht nur das Beste daraus, sie extrahieren aus Ungenauigkeiten (mit denen kein digitales System zufrieden wäre) und Rauschen wertvolle Information. Wahrscheinlich ist dieses Rauschen sogar nötig, sonst wäre unsere Optik besser und wir hätten nicht so viele Fehlsichtigkeiten. Selbst in einem technischen System kann Rauschen nützlich sein und ungenaue Messungen paradoxerweise sogar verbessern [1]. Unter diesem Aspekt scheint es mir geradezu ein Irrweg, den Visus durch Optimierung der Hornhautoberfläche auf 3,0 zu steigern. Wir hätten vermutlich gar nichts davon oder würden sogar schlechter sehen, denn Visus und Sehen sind keineswegs dasselbe.

Menschliche Fähigkeiten werden in Extremsituationen gefordert. Wenn ich wissen will, wie gut meine Kondition ist, werde ich das kaum bei einem Abendspaziergang erfahren oder im Sessel vor dem Fernseher sitzend. Eine Bergtour wäre da schon besser. Aber unser visuelles System wird unter der harmlosesten aller nur denkbaren Bedingungen geprüft: Bei optimalem Kontrast, den es in der wirklichen Welt nur sehr selten gibt. Kontrastsehen wird immer wichtiger, je schlechter das Licht ist (siehe dazu den Beitrag von Christoph Friedburg), in unserem Alltag wird es aber kaum geprüft!

DIN-gerechter Visus, gut und schön. Alle sollen die gleichen Bedingungen haben. Wie ungenau aber die Messung tatsächlich ist und welches Gewirr von Fallstricken es gibt, lässt sich im Beitrag von Michael Gräf nachlesen. Wir machen sehr viel vom Visus abhängig, sieht man 0,5, darf man Auto fahren, sieht man 0,4, darf man es nicht. So, als könnte man hier wirklich exakt messen. Landolt-Ringe sollen es sein, damit man nicht die oben angesprochenen Fähigkeiten unseres Gehirns, aus schlechten Bildern Formen zu erraten, bemühen kann. Die Position des Rings ist zufällig, aber die Form eines Buchstabens oder einer Zahl ist es nicht. Dafür hat unser Gehirn massenhaft Schablonen abgespeichert. Mir ist allerdings wohler mit einem Autofahrer mit Visus 0,3, der alle Informationen optimal nutzt, als ein Fahrer, der mit seinem Visus 0,6 nichts anfangen kann. Ich muss gestehen, bei jedem Führerscheinbewerber, dessen Visus vorher DIN-gerecht geprüft an der Grenze lag, prüfe ich nochmals mit nicht DIN-tauglichen Zahlen nach, denn ich will wissen, wie er sich in der „freien Wildbahn” anstellen wird, und da gibt es nun mal kaum Landolt-Ringe, aber viele Zahlen und Buchstaben. Und er wird nicht an der Mesoptometer-Untersuchung vorbeikommen, denn sie sagt mir, wie viel der Betreffende sieht, wenn es wirklich kritisch wird.

Wer glaubt, der Visus sei genau zu messen, der irrt. Es ist so, als wollten wir den Wasserstand des Neckars in mm angeben. Der Visus würde besser als „Konfidenzintervall” angegeben: Der Patient sieht 0,35 ± 0,10; das wäre eine brauchbare Angabe. Dann wüsste man sofort, dass 0,40 ± 0,11 keine Besserung, 0,55 ± 0,08 eine klare Besserung bedeuten würden. Aber niemand würde damit leben wollen, schon gar nicht unsere Gutachten-Auftraggeber. Man will eine einzige Zahl, damit fühlen wir uns wohl. Alles Weitere verwirrt nur. Und wir tun so, als hätten wir den Wasserstand mit der Mikrometerschraube gemessen. Je schlechter der Visus, oder soll man sagen: je mehr Geld von der Bestimmung des Visus abhängt, desto ungenauer werden unsere Verfahren. Einen Visus von 0,02 absolut zuverlässig und zweifelsfrei zu bestimmen, ist mit keiner Methode der Welt möglich. Hier messen wir den Wasserstand am Rheinfall in Schaffhausen mit dem Zollstock und geben vor, ihn auf den Millimeter genau angeben zu können. Wie sicher sind wir, dass der Visus statt 0,02 nicht etwa 0,03 beträgt? Seine Hand dafür ins Feuer legen würde niemand, aber damit entscheiden wir über Blindengeld. Gesa Hahn und Susanne Trauzettel-Klosinski haben sich in ihrem Beitrag dem Problem der Sehschärfebestimmung beim hochgradig Sehbehinderten angenommen.

Und etwas ist noch klarzustellen: Die Visus-Prüfung ist nicht objektiv. Nicht selten findet man in Publikationen Sätze wie diesen: „Der Patient klagte über eine Sehverschlechterung, was durch die Visusprüfung objektiviert werden konnte.” Schön war’s. Der Patient kann uns alles erzählen, was er will. Deshalb muss man immer mit bewussten oder unbewussten Täuschungen rechnen (siehe auch dazu den Beitrag von Michael Gräf). Dieses zentrale Gesichtsfeld, der Bereich, in dem der Visus gemacht wird, verrät uns noch viel mehr. Farbsinn und Visus sind ein Werk der Zapfen. Deshalb kann man nicht wirklich über Visus schreiben, ohne auch den Farbsinn zu erwähnen. Häufig lohnt sich eine Farbsinnprüfung als Ergänzung zur Visusprüfung. Hier herrscht vielfach erhebliche Unsicherheit: Welcher Test ist wofür geeignet? Wann braucht man das Anomaloskop? Herbert Jägles Aufgabe war es, dazu praxisgerechte Vorschläge beizusteuern.

In jedem Fall ist es wichtig, den Visus immer im Zusammenhang mit anderen Befunden zu sehen, z. B. Gesichtsfeld und Farbsinn. Auch darf nie vergessen werden, auf Plausibilität zu prüfen: Entsprechen die anderen Funktionsprüfungen und vor allem auch die objektiven Befunde dem Visus? Hat der Patient korrekte Angaben gemacht? Nur dann dürfen vom Ergebnis der Sehschärfeprüfung weit reichende medizinische oder sozialrechtliche Entscheidungen abhängig gemacht werden.

Diese Beiträge sollen dazu anregen, sich kritisch mit unserer alltäglichsten Untersuchung auseinander zu setzen. Sie sollen anregen, die Sehschärfeprüfung wichtig zu nehmen, nicht dazu verleiten, die Sehschärfe zu wichtig zu nehmen.

Literatur

  • 1 Hunter J D, Milton J G, Lüdtke H. et al . Spontaneous fluctuations in pupil size are not triggered by lens accommodation.  Vision Res. 2000;  40 567-573
  • 2 van Rijn L J, Wilhelm H, Emesz M. et al . Relation between perceived driving disability and scores of Vision screening tests.  Br J Ophthalmol. 2002;  86 1262-1264

Prof. Dr. med. Helmut Wilhelm

Universitäts-Augenklinik

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